SONNTAG, 29.12.2024 / 20.00 Uhr
Bayerns Indie Lieblinge

Sechs Jahre sind seit dem letzten Album (Close To The Glass) vergangen. Jahre, welche die Mitglieder der Band nicht nur ihren anderen Bands gewidmet haben (z.B. Spirit Fest, Hochzeitskapelle, Alien Ensemble, Joasihno), sondern auch dem Betreiben eines eigenen Plattenlabels (Alien Transistor), dem Komponieren mehrerer Filmmusiken sowie dem Kuratieren von Compilations (zuletzt Minna Miteru) und einem jährlich stattfindenden Festival (Alien Disko). All das hinterließ auf dem neuen Album Spuren. Es spiegelt sich vor allem in seiner Struktur, die das Ergebnis eines offenen, kollektivistischen Prozesses ist: Aus Improvisationen wurden Songs, die oft ineinandergreifen. Entstanden ist eine äußerst lebendige Musik, deren cinematische Qualität sich auch im Artwork der japanischen Fotografin Lieko Shiga wiederfindet. Die wiedergefundene Offenheit zeigt sich bereits bei „Ship“, der ersten Single zum Album. Ein treibender, krautiger Groove dient hier als Fundamant für die entwaffnende Stimme von Saya, bekannt als weibliche Hälfte des japanischen Pop-Duos Tenniscoats. Ein weiterer Gast ist der US-amerikanische Multiinstrumentalist Ben LaMar Gay, der für „Oh Sweet Fire“ auch den Text schrieb: Ein „Liebesgedicht für heutige Zeiten“, das von Liebenden in den Wirren eines politischen Protestmarsches erzählt. Dem leicht spacigen Dream-Pop von „Into The Ice Age“ lieh die Jazzmusikerin Angel Bat Dawid ihr Klarinettenspiel. Zu „Al Sur“ schließlich steuerte die argentinische Sängerin und Produzentin Juana Molina Gesang und die elektronischen Teile des Arrangements bei. Bei diesem Stück tritt abermals Saya in Erscheinung, diesmal jedoch in ihrer Funktion als Teil des Bläserensembles Zayaendo. Unterdessen erlauben The Notwist der Musik, sich in immer neue, oft unerwartete Richtungen zu entwickeln – wie sie das auch bei Live-Auftritten tun.

Die Vielstimmigkeit aus Ideen, Stilen und Beteiligten wächst auf Vertigo Days zu etwas tatsächlich Kohärentem zusammen. Aus Diversität formiert sich ein Album im besten Sinne, eines, das beim Hören im Ganzen noch dazugewinnt. Auch die Songtexte sind miteinander verwoben: Sie erwecken, wie Markus Acher sagt, „das Gefühl eines zusammenhängenden Gedichts.“ In diesen facettenreichen Text haben sich die (geo-)politischen Unwägbarkeiten der letzten Jahre tief eingeschrieben: „Dass für unmöglich Gehaltenes jederzeit Realität werden kann, war so ein Thema, das wir eher aus dem Privaten kannten. Aber während der Aufnahmen zum Album hat sich die Situation dramatisch verändert. Plötzlich ereigneten sich diese unmöglich geglaubten Dinge auch außerhalb, in weltpolitischem Maßstab“, erläutert Markus, der dieser Erfahrung mit den poetischen Mitteln der Abstraktion begegnet, sie allerdings nicht als Einbahnstraße, sondern als multidirektionale Bewegung begreift: Globale Zusammenhänge verlängern sich auf Vertigo Days mitunter zurück ins Private. Alles ist in der Schwebe, sicher ist nur, dass nichts sicher ist. „Vielleicht geht es vor allem um einen Lernprozess, und darum, dass man nie wirklich irgendwo ankommt“, sagt Acher. „Sich dieser Unsicherheit zu stellen, erfordert Mut – sie erfüllt uns aber zugleich mit einem starken Gefühl der Lebendigkeit.“ Vertigo Days ist ein Album, das vor Lebendigkeit nur so strotzt. Open-minded, voller Begeisterung für Musik und für Ideen des Gemeinschaftlichen. Ein Album, das mit offenen Augen zu träumen wagt.

https://www.e-werk.de/programm/alle-termine/detail/the-notwist-2004-1/



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