Dem Egers sei Welt #13

DIENSTAG, 6. NOVEMBER 2012



Es muss ungefähr so gewesen sein: Meine Eltern fuhren im Jahre ‘68 an Ostern zum Skifahren. Mein Vater glitt in seinem gänzlich formvollendeten Stil die freien Hänge herab. Menschen, die ihm dabei zusahen, applaudierten spontan und meine Mutter ließ sich kleinere Hänge im Tal vom Lift hinaufziehen und watschelte dann mehr oder weniger den Hang hinunter. Fehlende Grandezza bei der Abfahrt kompensierte meine wilde Mama mit unablässigem Gebrüll und war so in kurzer Zeit im gesamten Skigebiet bekannt.

UMFANGREICHE LEBENSRETTUNG

Wahrscheinlich hatten sie beide einen Skipass für mehrere Tage erworben und in ihrem protestantischen Pflichtgefühl beabsichtigten sie, das Kärtlein ordnungsgemäß „abzufahren“, was bedeutete, etwaige Pausen möglichst kurz zu halten und sich möglichst oft vom Lift hinaufzuziehen zu lassen, um dann möglichst oft wieder hinunter zu gleiten. Wobei dieser Eifer hauptsächlich in meinem Vater loderte. Das Tagessoll meiner Mutter bestand eher darin, wie viele Volksreden sie gehalten und an welchen Stellen sie ihre Meinung kundgetan hatte.
So wedelte mein Vater die steilen Berge hinab und die Mutter schwadronierte weiter unten, bis zu dem Tag, als es stark zu schneien begann und Nebel aufzog – kurz gesagt, an Wintersport war nicht zu denken. Jetzt muss man noch wissen, dass die Après Ski-Möglichkeiten Ende der sechziger Jahre mit den Kurzweilangeboten in den Skizentren der heutigen Tage nicht im Mindesten vergleichbar sind. Meine Eltern verspeisten gewissenhaft das Pensionsfrühstück. Meine Vater spähte oftmals murrend aus dem Fenster und sagte dabei beschwörend: „Wart’ nur, es reißt gleich auf!“ Aber er wusste dabei schon, dass es den ganzen Tag nicht mehr aufreißen würde. Kurz nach dem Frühstück zeugten mich meine Eltern. Sie hatten es nicht beabsichtigt. Es geschah wohl in einer Mischung aus Langeweile und Orientierungslosigkeit, und sie wussten vielleicht einfach auch nichts Vernünftigeres anzustellen. Draußen schneite es wild und drinnen knarrte das Pensionsbett. In der ganzen Leidenschaft vergaßen sie den Skipass. Sie vergaßen die Welt und sich selbst und neun Monate später wurde ich in Nürnberg geboren.

Meine Mutter sorgte sich, weil ich einen großen Kopf hatte und fürchtete, es könnte ein Wasserkopf sein. Aber der Arzt untersuchte meinen Kopf und beruhigte meine Mutter und sagte ihr, es handle sich nur um ein überdurchschnittlich großes Haupt. Meine Mutter sorgte sich trotzdem nahtlos weiter um meine Gesundheit. Ich wurde von der Sorge meiner Mutter großgezogen. Mein Vater versuchte, die Sorge der Mutter zu lindern. Öfter sagte er: „Wenn unser Sohn kaputt geht, machen wir einen neuen!“ Es half nichts. Ganzjährig bedeckten unzählige Mützen meinen „Bulmers“. In den Herbst- und Wintermonaten wurde ich vor Erfrierung geschützt, und im Frühling und Sommer wurde der Tod durch Hitzschlag von mir ferngehalten. Wenn ich nieste, bekam ich sofort Tropfen, und wenn ich mit dem Zeh wackelte, verschrieb mir der Kinderarzt, der meiner Mutter irgendwie hörig war, neueste Tabletten gegen Zehenwackeln.

Der erste Freund meiner Schwester betrachtete mich mitleidig. Er rechnete damit, dass ich bestimmt nicht alt werden würde. Sollte ich nicht schon von der Mutter frühzeitig vernichtet werden, würde nach dem Verlassen des behüteten Nests ein unbehandelter Schnupfen mir und meinem gänzlich destabilisierten Immunsystem das Genick brechen.
Der Name des Freundes war Udo und er heiratete meine Schwester und ist heute noch mein Schwager. Er ist es auch gewesen, der mir mein erstes Mad-Heft überreichte. Mit offenem Mund lernte ich Alfred E. Neumann kennen, der wie ich einen viel zu großen Kopf hatte. Ich staunte nicht schlecht, als ich das sah und las. Da wurden Witze über alles gemacht, was ich damals kannte. Mad wurde zu meinem Evangelium, das ich begierig studierte. Don Martin, Spion und Spion zeichneten meine Psalmen. „Lechz“ und „Würg“ sagten meine Heiligen, und ich sprach ihnen fleißig nach. Es gab keine Befreiung aus der Umarmung meiner Mutter. Es gab kein Entkommen aus dem grausigen Schulalltag. Aber man konnte Witze über diese blödsinnige Welt machen, den Peinigern lange Nasen malen und die Schmach durch Hohn und Spott lächerlich machen.

Wie durch ein Wunder bin ich doch nicht frühzeitig verstorben und mein Schwager unterstützte mich weiterhin mit seinen lebenserhaltenden Carepaketen. Durch ihn bin ich auch auf das Satiremagazin Titanic gestoßen. Die leidige Frage, über was man eigentlich Witze machen darf, wurde und wird da im monatlich erscheinenden Heft nachhaltig beantwortet. Über Kanzler und Kanzlerinnen, Hitler und den Papst, Ossis und Behinderte und „Wetten dass“ darf man ohne Pause Witze machen.

Regelmäßig schrieb auch Eckhard Henscheid in der Zeitschrift. Udo gab seinen Roman „Geht in Ordnung- sowieso-- genau---“ in meine durstigen Hände. Und ich lachte laut beim Lesen über die rätselhaften Geschehnisse rund um das Hinterzimmer des Aro-Teppichladens. Tränen des Lachens und der Rührung flossen mir aus den Augen, als mir von den Liebeswirren des „Moppel“ berichtet wurde. Ich amüsierte mich königlich über rauchgeschwängerte, stark alkoholisierte Gespräche in der nahen Provinz. Ich begriff, dass der Schauplatz für den Humor der Mikrokosmos sein muss und das Defizit die Triebfeder.

Mein Schwager hatte in den späten achtziger Jahren herausbekommen, dass die Hersbrucker Bücherwerkstatt einen FCN-Kalender mit Texten von Henscheid herausgebracht hatte. An einem Freitagnachmittag fuhren wir genau dorthin. Irgendwo in der Stadtmauer fanden wir nach längerem Suchen die Werkstatt. Überall standen altväterliche Druckmaschinen und Kästen mit Bleibuchstaben. Irgendwo dudelte Bayern 3 mit den Schlagern der Woche, aber niemand war zu sehen. Wir liefen herum und staunten. Irgendwann tauchte dann plötzlich ein Herr mit obskurem Bart auf. Er brümmelte ein bisschen, und wir wussten nicht genau, wie sehr es ihm ungelegen war, dass wir ihn hier besuchten. Auch auf unsere Begeisterung hin ob der Drucke an der Wand und des gesamten Schatzkästleins wandelte sich seine insgesamte Verdrossenheit nicht wesentlich. Mehr oder weniger angespannt zeigte er uns Bücher und Drucke. Er wies darauf hin, dass es sehr anstrengend sei, das Ganze herzustellen, und nippte wie zur Beruhigung an einem Fläschchen Bier. Mein Schwager kaufte etliche Druckerzeugnisse. Aber auch dieser Umstand besserte offensichtlich seine Laune nicht sonderlich. Vielmehr erschien es so, als ob er die Sachen gar nicht gern verkaufte. Wenn man sich schon die ganze Mühe mache, gebe man das Zeug auch nur ungern her. Als wir wieder zurück fuhren, stellte ich meinem Schwager viele Fragen, weil ich überhaupt nichts begriffen hatte. Ich glaube, selbst Udo wusste keine vernünftige Antwort ob des rätselhaften Gebarens. Immer wieder dachte ich an diesen sagenhaften Mann. Warum war er so mürrisch? Nur manchmal flackerte ganz schnell und kurz, eher ungewollt und lästig, ein Flämmchen von einer Leidenschaft auf. Warum hörte er Bayern 3? Der eigenartige Mann war Michl Gölling, und er ist der erste Künstler in meinem Leben, den ich kennenlernte.

In dieser Zeit bestanden die Ziele in meinem Leben darin, den „Entertainer“ auf dem Klavier spielen zu können, so viel Geld zu verdienen, dass ich mir ohne Gewissensbisse eine Tüte Gummibärchen kaufen kann, und ein Buch mit eigenen Texten in der Hersbrucker Bücherwerkstatt herauszubringen. Irgendwann erfüllte sich eines der Ziele: Das Buch heißt „Die Jugend turnt. Wozu?“. Zu meinen Texten aus früher Jugend hat Timo Reger Holzschnitte gemacht und in Hersbruck gedruckt. Reger passt in seinem Verhalten sehr gut zum Gölling und den anderen Gangstern. Von dem wunderschönen Buch dürfte es noch ein paar Exemplare geben. Aber die Hersbrucker geben es nur ungern her. Das finde ich großartig!

Mehr von Matthias Egersdörfer: www.egers.de.




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