Die Theater-Curts für die Spielzeit 2018/2019
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Der aljährliche „Theater-Curt“, eine Auszeichnung als besondere Anerkennung für die Besten der Spielzeit 2018/2019 in Nürnberg, Fürth, Erlangen und drumherum. 16 Personen, Produktionen und Ereignisse im Blickpunkt.
DER KLEINE DÄUMLING VOM GROSSEN FAUST ZEIGT STEIL NACH OBEN: HABE DIE EHRE!
Ehre wem Ehre gebührt, sagt der sprücheklopfende Volksmund zu passendem Anlass. Falls er „Alles hat seinen Preis“ hinzufügt, sollte kurzfristig drüber nachgedacht werden, ob das wirklich nur freundlich gemeint ist. Aber man kann den Spruch natürlich auch energisch wenden und aufgeheitert darauf hinweisen, dass jede Kultursparte erst durch Auszeichnungen aus der breiten Masse der Angebote zur allgemein akzeptierten Extra-Klasse aufsteigt. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit zwischen Preisenden und Preisgekrönten, jeder hat was davon, ob er gibt oder nimmt – und das Publikum kann sich sowieso seinen Reim drauf machen. So wimmeln international die Namenspatronate querfeldein. Über allem thront Hollywoods OSCAR, drunter CESAR (Frankreich), ROMY (Österreich), GOYA (Spanien) und BAMBI (Deutschland). Dabei geht es um luxuriöse Konserven von Kino und TV – die ganz andere Livekunst des Theaters, immer frisch gespuckt und neu gewonnen, schwingt ihre Pokale zwangsläufig anders. TONY (USA), MOLIERE (Frankreich), NESTROY (Österreich) und alljährlich DER FAUST für die Anleitkultur, von Intendanten und Kulturpolitikern des eben erst in Nürnberg versammelten Deutschen Bühnenvereins zur Spiegelung der eigenen Bedeutung erfunden. Wir haben uns in aller gebotenen Anmaßung spielerisch hochstapelnd an dieses immer noch wie frisch gemauert wirkende Monument angelehnt, naja an den Sockel, und mit sympathisierenden Blick auf die regionale Szene „den kleinen Däumling vom großen Faust“ ausgerufen, wie er steil nach oben zeigt – den „Theater-CURT“. Am Ende der Saison 2018/2019 hier mit Zuordnung nach Stichworten die Nominierung diverser Personen und Ereignisse als Spitzenwerte, für 16 Verbeugungen ausgewählt. Alsdann: Habe die Ehre!
1/ EXTRA-CURT
GISELA HOFFMANN / GERHARD KOHLER-HOFFMANN
(GOSTNER HOFTHEATER)
Die künstlerisch und kulturpolitisch agitierende Frontfrau und der im Hintergrund allzeit aktive Mann für den faktisch-praktisch stabilisierenden Unter- und Überbau des großen Ganzen, das war „Spitze“ für 40 Jahre Gostner Hoftheater: Gisela Hoffmann (künstlerische Leitung, Dramaturgie, Regie, Organisation) und Gerhard Kohler-Hoffmann (Technische Leitung). Die Nürnberger Alternativ-Bühne im Stadtteil Gostenhof, 1979 gegründet und später ergänzt mit der Zweit-Spielstelle Hubertussaal/Gibitzenhof, galt beim Start im fränkischen Nachbeben der „Achtundsechziger“ als wirtschaftliches wie künstlerisches Risiko-projekt. Schritt für Schritt ist aus den tastenden Anfängen dieses von Pädagogen und Soziokulturarbeitern beflügelten Ideenpools das dominierende Alternativtheater der Region geworden. Auf Augenhöhe mit den „Großen“, dabei selbstbewusst bleibend im eigenen Stil. Neben dem Spielplan-Tagesgeschäft der Hausproduktionen und langfristigen Gastspielen wie die von Stamm-Satiriker Sigi Zimmerschied und Starschauspieler Philipp Hochmair viel wärmender Schutzraum für etliche, gern auch „schräge“ Initiativgruppen vor Ort und die Gründung des wichtigen „licht.blicke“-Festivals, das die zwischen Kinderjahren und Schulplatzmiete oft vom Theater vernachlässigten Jugendlichen ins Visier nahm. Die 40-Jahr-Feier der Institution im September ist verbunden mit dem geordneten Leitungswechsel, der Profil und Fundament für weitere Perspektiven sichert. Gisela Hoffmann und Gerhard Kohler-Hoffmann können stolz, Nürnbergs Kulturszene darf dankbar sein.
2 / OPERN-AUFFÜHRUNG
KRIEG UND FRIEDEN
Eine trotz vieler Fassungen kaum zu fassende Russland-Oper von monströsem Ausmaß, entstanden nach kaum erreichbarer Literaturvorlage im Schatten stalinistischer Kulturgebote, seither dem Kreislauf-Taumel radikal kürzender Bearbeitungen bei jeder Neuinszenierung wie einem integrierten Schicksalsschlag ausgesetzt. Auch bei der Nürnberger Erstbegegnung mit Sergej Prokofjews Tolstoi-Adaption KRIEG UND FRIEDEN, die als Manifest der neuen Operndirektion angelegt war, gab es nur ein Fragment des keineswegs unumstrittenen Werkes. Freilich ein gewaltiges, gekonnt umgesetztes, das zwischen dem brachialen Napoleon und dem vorbeihuschenden Putin mit leuchtenden Plakatfarben in der Weltgeschichte tupft. Der Prokofjew-Sound, bei dem am Ende weder Interpreten noch Zuschauer zwischen erzwungenem Propaganda-Donner und ehrlicher Übersteuerung der Gefühle unterscheiden können, ist eine Ästhetik für sich. GMD Joana Mallwitz am Pult hat den großen Atem für den aufgebäumten Klang, lässt schillern und explodieren. Regisseur Jens-Daniel Herzog lenkte sein handverlesen riesiges Ensemble (eine Demonstration der Organisationskunst) zielsicher von der poetischen Roman-Zeitlosigkeit in die politisierende Opern-Gegenwart. Letztlich gelang die Inszenierung einleuchtender als Prokofjews Vertonung. „Hochinteressant“, dürfte das meistverwendete Urteil darüber gewesen sein.
3 / SCHAUSPIEL-AUFFÜHRUNG/DRAMA
DIE TROERINNEN / POSEIDON-MONOLOG
Eines der Mitbringsel, mit denen die neuen Staatstheater-Chefs ihre erste Saison aufpolsterten – und ein starkes Signal für das willkommene Versprechen, die bei der Auseinandersetzung mit dem antiken Urstoff traditionell überbreite Nürnberger Spielplanlücke zu schließen. Jan Philipp Gloger hat geliefert. Für die aus Karlsruhe importierten „Troerinnen“ des Euripides (begeisternd mit den „Neuen“ Annette Büschelberger und Sascha Tuxhorn von dort, aber eindrucksvoll auch mit Akteuren aus dem bisherigen Ensemble wie Julia Bartolome und Thomas Nunner), dazu als Ergänzung die Uraufführung von Konstantin Küsperts „Poseidon-Monolog“ mit Michael Hochstrasser. Das war ganz großes, auf souverän beherrschte Sprache, ausdrucksstarke Bilder und immer zuvorderst die Entfaltung schauspielerischer Individualität bedachtes Gegenwartstheater. Man hätte ihm noch deutlichere Resonanz beim abwartenden Publikum gewünscht. Gute Nachricht: Es soll schon Ende September mit der Bearbeitung der Euripides-„Bakchen“ mehr davon geben.
4 / FIGURENTHEATER
NIKOLAUS HABJAN MIT „BÖHM“ IN FÜRTH
Kann uns der legendäre, wenn auch eher in Omas Plattenschrank als in tragenden Erinnerungen überlebende Dirigent Karl Böhm noch aufregen, wenn man weder aus seiner Geburtsstadt Graz noch aus seiner Musikerheimat Wien stammt? Absolut! Der junge Nikolaus Habjan (Puppenspieler, Puppenbauer, Darsteller, Sänger, Stückeschreiber, Regisseur, Konzert-Pfeifer), ebenfalls aus Graz stammend und inzwischen auch in Wien an vielen Bühnen gefeiert, hat sich mit seinem sachkundigen Figurentheaterstück „Böhm“ gegen die persilscheinheilige Verklärung einer Kulturgröße in Stellung gebracht. Wie er als Solist ein Heer von kommunizierenden Köpfen und Stimmen in Bewegung setzt, um den Maestro der Egomanie als verhansmoserten Raunz-Karrieristen im „Gottbegnadeten“-Status der Nazis zu entlarven, ist das gleichzeitig ätzend witzige Parabel über den Machtmissbrauch als Psycho-Phänomen. Ein großartiges Stück Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung, vom zwei bzw. vier Jahre vorher in Erlangen mit der herzergreifenden Puppenspiel-Doku „F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“ überwältigenden Nikolaus Habjan erneut schlichtweg genial umgesetzt. Ein Ausnahmetalent, mit 32 Jahren ein Großmeister seines Fachs, ach was: vieler Fächer. Im Fürther Theater gab es lang anhaltende Jubelstürme. Wir hoffen auf Habjan 2021.
5 / MUSIKTHEATER/ENTERTAINMENT
GESCHWISTER PFISTER BEIM „BALL IM SAVOY“ AM OPERNHAUS
Für Nürnberg hat der „Kulturzirkus“ vor Jahrzehnten ihr Können entdeckt, da waren sie noch in anderer Formation in der Berliner Alternativ-Szene für Show-Comedy unterwegs. Später wurde die Tafelhalle ihre fränkische Tournee-Anlaufstelle diverser Fake-Formate mit Schaumschlag, bis sie mit dem „Weißen Rössl“ in der Hauptstadt den Amüsier-Galopp erfanden. Seither sind die Geschwister Pfister (das Trio Christoph Marti, Tobias Bonn, Andreja Schneider) als sanfte Dauerrebellen des Operetten-Entertainments im Einsatz. Nach Paul Linckes „Frau Luna“ und Nico Dostals „Clivia“ in Berlin war auch das Nürnberger Opernhaus-Debüt in Paul Abrahams Revue-Komödie „Ball im Savoy“ ein zündender Spaß. Unter Auflösung aller lästigen Geschlechterfestlegung bei der Rollenverteilung gab es das sonst so selten erreichte Gefühl von himmlischem Leichtsinn. Statt der Angst vor dem Kitsch ein Genuss ohne Reue. Für die ehemalige, längst nicht mehr als solche anerkannte Operetten-Hochburg ein wahrer Eppelein-Sprung.
6 / SCHAUSPIEL-AUFFÜHRUNG/KOMÖDIE
DIE AFFÄRE IN DER RUE DE LOURCINE (GOSTNER HOFTHEATER)
Kurz bevor am Staatstheater die Münchner Regielegende Dieter Dorn per Feydeau-Inszenierung eine Hommage an die bürgernahe Klamauk-Satire bastelte, war am Gostner Hoftheater in Regie der vergleichsweise unbekannten Britta Schreiber eine Spaßette aus dem gleichen Genre gewagt worden: Eugene Labiches mienenspieltriebhafte Verwirrdramatik um „Die Affäre in der Rue de Lourcine“. Alternativbühne contra Staatstheater, das schreit nach der Satzbau-Formel „David gegen Goliath“. Keine Spur davon! Der „Riese“ musste nicht fallen (die liebevoll getüftelte Dorn-Produktion am Schauspielhaus kann sich sehen lassen), um Davids Sieg zu feiern. Dank Thomas Witte, Robert Arnold, Jürgen Heimüller, Helwig Arenz und Christin Wehner als bestens aufeinander eingespieltem Ensemble gelang mit der schwungvoll abgestaubten Komödie, die einst sogar eine Herausforderung für Luc Bondy an der Schaubühne war, wieder mal der Beweis, dass Theater erblüht, wo immer es darf.
7 / SENKRECHTSTART
GENERALMUSIKDIREKTORIN JOANA MALLWITZ (STAATSPHILHARMONIE)
Ob man den bis in die Tiefe der Provinz wieder üblich gewordenen Kult um Chefdirigenten wirklich ernst nehmen soll, wäre noch zu diskutieren. Immerhin, vor wenigen Jahrzehnten, als sich in Nürnberg die Alphamännchen Thielemann, Kloke, Auguin und Bosch beim Lichtkegel-Sonnen am Pult ablösten, hätte niemand an eine Alternative zum Schablonen-Titel „Maestro“ gedacht. Mit der Last-Minute-Anwerbung der jungen Joana Mallwitz, die nach dem ersten Chefposten in Erfurt eigentlich gar keine feste Bindung mehr wollte, ist alles etwas anders geworden. Die Staatsphilharmonie hat nach acht fleißigen Jahren von Marcus Bosch eine blitzartig als Großtalent ins Bewusstsein des Kulturpublikums (und des Orchesters) fahrende Dirigentin eingewechselt, deren Vitalität alle mitreißt. Das ist den Nürnbergern (bei „Krieg und Frieden“ und „Lohengrin“, vor allem aber bei den Konzerten) sofort aufgefallen, aber auch außerhalb Frankens wird mit Mallwitz kalkuliert. Die Bayerische Staatsoper und das Frankfurter Opernhaus locken mit Angeboten. „Maestra“ stand lapidar über einem kniefälligen Hype-Porträt der „Süddeutschen Zeitung“, als ob sie die Verballhornung der Herren-Domäne überhaupt nötig hätte. Aber sie wurde ja auch sogleich gefragt, ob sie Frack oder Rock als Dienstkleidung trägt. Joana Mallwitz ist das offenbar egal, sie macht und vermittelt Musik auf hohem Niveau. Hoffentlich noch für die nächsten vier Jahre.
8 / KULTURKOPF
CLAUDIA FLORITZ (KULTURBEAUFTRAGTE DER STADT FÜRTH)
Ihr unverkünsteltes Verhältnis zur eigenen Arbeit als städtische „Kulturbeauftragte“, die der Fürther „Szene“ im manchmal bedrohlich abdunkelnden Schatten der Nachbarstädte Nürnberg und Erlangen (die sie von früheren Tätigkeiten her gut kennt) seit 2004 denkbar bestes Licht verschaffte, dürfte ein Teil des Erfolges von Claudia Floritz sein. „Ich habe immer das Gefühl, ich weiß nichts und ich kann nichts – aber ich kann alles organisieren“, beschrieb sie einst ihre Philosophie. Zumindest Letzteres darf man uneingeschränkt bestätigen. Das gilt für die Revitalisierung des Klezmer-Festivals wie für die Erfindung des Literatur-Festivals „Lesen!“. Der Anlass zum Theater-Curt ist aber das erstaunliche eigene Fürther Profil beim Figurentheaterfestival im Städtegroßraum, das sich mit literarischen Schwerpunkten abhebt von der grell nach allen Seiten blendenden Festivalturbulenz in Erlangen und dem solide defensiven Nürnberger Programmanteil. 2019 in Fürth und nur dort im Spielplan: Poe, Goethe, Nöstlinger, Fühmann, Plenzdorf, Beckett, Lindgren, Kafka – und natürlich das fabelhafte Festival-Highlight „Böhm“ von und mit Nikolaus Habjan. Ihn hatte Claudia Floritz frühzeitig – lange vor seiner jetzigen Karriere-Explosion an diversen Staatstheatern – gefördert, nicht nur mit den Puppenspiel- und Kleinkunstabenden, auch mit den frühen Ambitionen als Klassiker-Regisseur am Grazer Theater. 2014 war die mit 26 Jahren gestemmte Camus-Produktion „Das Missverständnis“ im Fürther Festival-Programm, 2016 die „Faust“-Regie aus der Steiermark.
Claudia Floritz geht dieses Jahr als Kulturamtsleiterin in den Ruhestand.
9 / SÄNGER
SANGMIN LEE
Seine Stimme ist bei aller achtsamen Differenzierungskunst überwältigend wuchtig, seine körperliche Präsenz als Darsteller passt dazu. Der südkoreanische Sänger Sangmin Lee (42), nach sechs gemeinsamen Spielzeiten am Dortmunder Opernhaus von Intendant Jens-Daniel Herzog ins Nürnberger Ensemble mitgebracht, hat als heldischer Bariton viele wichtige Partien des italienischen und deutschen Fachs im persönlichen Repertoire. Am Opernhaus, wo nach dem Wechsel von Antonio Yang die passende Lücke frei war, hat er sofort reüssiert. Als urgewaltiger Napoleon in Prokofjews „Krieg und Frieden“ und in der sonst oft undankbaren Rolle des „Lohengrin“-Gegenspielers Telramund, den er zum Protagonisten der Wagner-Inszenierung machte. Dass er nun ab Ende September in Verdis „Don Carlos“ als treuer Rodrigo zum berühmten Männer-Duett mit dem Tenor-Titelhelden antritt, lässt um diesen noch mehr bangen als sonst.
10 / SÄNGERIN
ANDROMAHI RAPTIS
Wie ein Schachtelteufelchen mit Knallfrosch-Funktion aus der TV-Comedy hat Andromahi Raptis in Mozarts „Cosi fan tutte“ die zwitschernd manipulierende Kammerzofe Despina, die auch in Verkleidung als Arzt und Anwalt die Stimme wie die Maske quetschen muss, von allen Zöpfen befreit – artistischer Salto mitten hinein in die Arie inbegriffen. Überdreht, aber in dieser speziellen Pirouette nahezu auf den Punkt gebracht – wie das Regisseur Jens-Daniel Herzog offensichtlich insgesamt beabsichtigte. Es ist ihm nur teilweise ohne Klamauk-Ausrutscher gelungen, besonders eben bei dieser abhebenden Sängerin, die bei allem Drang zur Selbstdarstellung nicht nur hüftbeschwingte Soubretten-Bravour, sondern träumerisch schon die Sopran-Lyrik hinter der Comic-Fassade hatte. Von daher sind wir gespannt auf ihre Maria in der „West Side Story“ ab November.
11 / SCHAUSPIELER
SASCHA TUXHORN
So individuell vielseitig sind Schauspieler selten: Als Alien vom andern Stern in der Hauptrolle von David Bowies Nachlass-Musical „Lazarus“ blockte Sascha Tuxhorn den eigendynamischen Sog zur Karaoke-Travestie ab, konzentrierte den Außenseiter Newton vom andern Stern auf subtilste Innendynamik und bewahrte den Alien-Autisten der Bühne so vor allen Imitationsanfechtungen des bunt schillernden Poplegenden-Vorbilds. Wie er die Musiknummern zur eigenen Sache machte war das tonangebend für die szenische wie musikalische Eigenständigkeit der ganzen Aufführung. Im Ionesco-Projekt „Ein Stein fing Feuer“ war Tuxhorn als Klettermaxe und Bandwurm-Dompteur von Endlossätzen der ideale Sparringspartner für die programmatischen Regie-Muskelspiele von Schauspieldirektor Gloger. Und der antike Bote als „Behördenkasper“ in den „Troerinnen“ wurde bei ihm ein Jahrtausende umschließendes satirisches Kabinettstück über das Achselzucken im Öffentlichen Dienst.
12 / SCHAUSPIELERIN
ANNETTE BÜSCHELBERGER
In Jan Philipp Glogers Ionesco-Sampler „Ein Stein fing Feuer“ lieferte sie die Plemplem-Charaden wie Treibstoff fürs Absurde. Ihre Hekabe der „Troerinnen“ in gleicher Regie war die personifizierte Heiserkeit der Willkür samt Zusammenbruch aller Macht-Hohlräume geradezu eine Studie. Als alternde Jahrhundert-Diva Callas im stark überschätzten Psycho-Nachsitzen der „Meisterklasse“ musste sich Annette Büschelberger rollengemäß mit geraffter Würde und aggressiver Kunstideologie gegen eine denn doch mittelmäßige Regie durchkämpfen. Auch das hat sie geschafft. Aber bei Ionesco und Euripides war sie sofort als neue Protagonistin des Nürnberger Schauspiel-Ensembles identifizierbar. Ein Charakter, der für sich spricht und Szenenpartner offenkundig inspiriert.
13 / BÜHNENBILD
DAS GROßE TUCH VON PETER NITZSCHE („HERZLICHES BEILEID“)
Ein seidig schimmerndes Traumgespinst liegt über der dämmernden Dame im nächtlichen Ehebett, womöglich die textilgewordene Illusion einer filigranen Glückserinnerung oder schon die grade noch intakten Spinnweben als Bindemittel aller Resthoffnung. Es könnte aber ebenso überdimensionales Negligé der unglücklichen Frau sein wie eine ans bürgerliche Leben fesselnde Zwangsjacke. Peter Nitzsche hat das Tuch für Dieter Dorns Feydeau-Inszenierung „Herzliches Beileid“ so auf Verwirrung genäht und über das vernachlässigte Wesen im Ehebett geworfen, dass sie lauernde Spinne im Netz oder ohnmächtiges Opfer sein könnte. Wenn diese Hülle ruckartig weggezogen wird, bleibt nur die öde Realität einer laubgesägten Puppenstube: Aus der Traum!
14 / KOSTÜME
KATHARINA TASCH („LOHENGRIN“)
Ob diese durchgestylt fantasyvollen Kostüme, in denen Barbaren und Zivilisationskrüppel wie bei einer fleischgewordenen Modenschau-Animation gegeneinander antreten, eher an Asterix erinnern oder doch an Game of Thrones? Nie sollst du mich befragen! Was Kostümbildnerin Katharina Tasch für die Neuinszenierung von Wagners „Lohengrin“ an Verpackungskunst für aufgescheuchte Opernfiguren entwarf (Regisseur David Hermann hatte fürs Erlösungsdrama Humor versprochen und erkennbar grinsend gegen alle Regeln die Bösen gewinnen lassen), das war vom Detail-Schnörkel der geschenkverpackten Figuren-Doublette mit Papa Parzival als Design-Tyrann fürs Schwanen-Söhnchen bis zur konträren Uniformierung der Kampf-
Kollektive ein unablässiges Blickfangspiel. Und wir wissen ja, das Auge hört mit. Von daher könnte allerdings auch das Verständnis dafür stammen, dass Wagnerianer bei näherer Betrachtung aus der chic umhüllten Haut fahren, in der ihre guten alten Helden hier gesteckt wurden.
15 / BALLETT
KYLIÁN/GOECKE/MONTERO (OPERNHAUS)
Auch wenn der Vatikan zürnen sollte, diese tänzerische Gender-Trilogie erfüllt alle Gebote von deutungsoffener Schöpfungsgeschichte. Eine Choreographie nur für Frauen (aus dem Archiv von Jiri Kylián, dem Genie), eine maßgeschneiderte Antwort nur für Männer (Uraufführung von Goyo Montero, dem Lenker des Nürnberger Ballett-Mirakels), eine kreuz & quer für alle Seiten offene Produktion (von Marco Goecke, dem Groß-Talent). Dreifaltig, nicht einfältig gedacht und gemacht. Vor allem aber der springende Beweis dafür, dass die Compagnie des Staatstheaters inzwischen in jeder Stil- und Spielart mit weiter intensiviertem Ausdruck bei technischer Makellosigkeit angekommen ist. Ab 11. Oktober wieder zu sehen.
16 / KLEINKUNST
DIE MUSIK WAR SCHULD (KAMMERSPIELE)
Dieser Nürnberg-Abend, den das neue Team am Schauspielhaus etwas ranschmeißerisch als Hommage an den neuen Arbeitsplatz entwarf, ist „trotz allem“ geglückt. Wie er Wagners umtoste Meistersinger mit sanftmütiger Sympathie vom krampfigen Staatsakt zum lockeren Swing umlenkt, die eingemeindeten Fern-Promis von Billy Joel bis Rio Reiser kess als Stadtpatrone in Anspruch nimmt und beim öden Ehekarussell-Streit um und mit Monumentalplastiker Jürgen Weber das angelesene Halbwissen als Tatsachenbehauptung hochwirbelt – das hat nicht immer reinsten Glanz, aber durchweg respektabel Chuzpe. Und wer mag sich erdreisten, melancholische Worte über den brüchigen Charakter dieser Region als sentimental zu schelten, wenn sie aus dem Fundus von Hermann Kesten genommen zur Moral von der Geschicht erklärt werden. Ja, dieses liebevoll gebastelte Kleinkunst-Kaleidoskop, „Nürnberger Liederabend von Selen Kara und Vera Mohrs“, ist informativ und provokant, gefühlig und frech, musikalisch inspiriert und im Text manchmal auch banal. Passt schon! Ein wildes Gemisch, rührend und herumrührend besorgt um Nürnberg. Sieht nach einem heimlichen Markenzeichen der neuen Direktion aus, die Beschwörung von Kaspar Hauser ist bereits angekündigt.
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