Ein Fräulein mit Bart und das Warten auf ein Wunderteam
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Die Operette ist nicht tot (zu kriegen): die ehemalige Sparten-Hochburg Nürnberg holt zur Wiederbelebung der alten Dame die „Geschwister Pfister“ als Therapeuten-Trio – und die sind uns in der Tafelhalle ans Herz gewachsen.
Ein millionenschwerer Botschaftsattaché aus dem damals so genannten Konstantinopel (heute: Istanbul) lässt sechs verflossene Ehefrauen zur Bürgschaft für die Eroberung der siebten antreten, im frisch gekürten Modetanz „Känguruh“ geht es unter anderem auch um den überraschenden Seitensprung einer Ziege, und für die zentrale Bekenner-Arie „Wenn wir Türken küssen“ werden etliche Champagnerflaschen und ein einzelner Prophet als Zeugen oraler Entwicklungshilfe beschworen. Müssen wir uns womöglich bei der soeben auf der Probebühne entstehenden Januar-Premiere von Paul Abrahams „Ball im Savoy“ im Nürnberger Opernhaus auf die nächste Staatsaffäre einstellen? Aber nein, nicht Jan Böhmermann (und leider auch nicht das Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld) ist zum beswingten Humortest mit Ballett und Klamottenwechsel eingeladen, sondern die drei „Geschwister Pfister“ sind mit ihrem Vorzugsregisseur Stefan Huber angereist. Das ergibt im Spielplan der ansonsten auf Akzentverschiebung bedachten neuen Intendanz von Jens-Daniel Herzog staunenswerte Rückblick-Konstellationen. Denn den Regisseur in Begleitung der Musical-Handelsreisenden Frederike Haas kennen wir mit durchaus gemischten Gefühlen von „Sweet Charity“, „Sugar“ und „Silk Stockings“ aus dem flächigen Broadway-Nachschlag des Amtsvorgängers Theiler. Aber das im Opernhaus debütierende Musikcomedy-Trio mit Berliner Wohnsitz hat nicht nur seine Schweizer Fake-Biografie, es verfügt auch über eine eigene Nürnberger Geschichte. Ihr erster Auftritt vor Ort war, als die hierorts völlig unbekannten Mogel-Pfisters noch als eidgenössisches Waisenkinder-Quartett mit amerikanischen Show-Genen diverse Nudelbretter in Charlottenburg/Westberlin enterten. Da war ihr Bayern-Debüt beim „Kulturzirkus“ auf der Wöhrder Wiese ein überraschender Spaß, dem bei wechselnden Programmen die wunderbar dauerhafte Gastspielverbindung mit der Tafelhalle folgte. Zuletzt (längst hatte nach der Auflösung der Ur-Formation das bulgarische „Fräulein Schneider“ alias Andreja in die entstandene Kunstfamilien-Lücke zwischen Ursli alias Christoph Marti und Toni alias Tobias Bonn eingeheiratet) ließen sie sich strahlend herab zum Country-Comic made in USA und deutschen Schlagerträumen der 1960er/70er-Jahre. Ihre wahre Operetten-Erweckung mit integrierter Alternative zu sich selbst konnte jedoch nur in Berlin passieren. Dort scharten die Pfisters in der Bar jeder Vernunft die Kleinkunst-Größen der Sexy-Stadt zum legendären „Weißen Rössl“ samt ARTE-Aufzeichnung um sich, legten im Vorjahr im größeren „Tipi“-Zelt am Kanzleramt mit Paul Linckes vollmondsüchtig schimmernder „Frau Luna“ nach und fanden in der traditionsreichen Komischen Oper die denkbar beste Adresse fürs schaumschlägernde Auferstehungs-Remmidemmi. Jetzt sind sie in Nürnberg mit Doppeltravestie zurück: Ein Mann spielt das Girl, eine Frau den bärtigen Mustapha und – du glaubst es nicht – der zweite Mann bleibt einfach, was er ist. So steuert die einstmalige „Hochburg der Operette“ einen eigenen Energiestoß im Potpourri der Wiederbelebungsversuche bei, treu im Dienste der zirkulierenden „Totgesagte leben länger“-Philosophie, mit der das Umweg-Comeback der immer so dicht am Abgrund zum Kitsch balancierenden Sparte am liebsten abgestützt wird.
LEICHTSINN IST DER NEUE TIEFSINN
Doch zunächst mal halbseitige Entwarnung, die moralfreien Bühnen-Türken posieren und poussieren in vergangenen Zeiten, ihr Witz ist keine politisierende Herausforderung der Gegenwart. Seit der australische Alleskönner Barrie Kosky in Berlin die Leitung der Komischen Oper übernahm (und beiläufig sogar Wagners bleischweren „Meistersinger“-Humor für die Bayreuther Festspiele in neue Form goss), gehen aus der Hauptstadt entspannte Entertainment-Signale auf Reisen: Leichtsinn ist der neue Tiefsinn. Nicht das ranzig gewordene Schmalz der durchgewienerten Schmäh-Schmetterei (Tenor & Sopran als seriöses Paar, dazu das hüpfende Buffo-Duo und die „komischen Alten“ als vereinigte Pointen-Bewahranstalt), die mit Robert Stolz und dem Urheberrechtsstreit über die Ähnlichkeit seiner plärrenden Sekunden-Tonfolge „Mä--ä--di“ mit der Tagesschau-Fanfare im Abseits um Bedeutung zappelten, konnte das schaffen, und es musste ganz sicher etwas mehr sein als die Beinarbeit der Temperaments-Herbstmanöver von Marika Rökk. Die freche Berliner Revue-Operette aus Paul Abrahams Nachlass, 1932 in der Hauptstadt stürmisch gefeiert und schon ein Jahr später von den Nazis systematisch vernichtet, bekam Wiedergutmachung im Wirtschaftswunderland nur über betuliche „Savoy“-Verfilmungen (1955 mit Nadja Tiller, 1971 mit Grit Böttcher), ehe anspruchsvollere Schauspielregisseure in Abrahams „Blume von Hawaii“ und „Viktoria und ihr Husar“ die Spiegelungen von Zeitgeschichte entdeckten.
WACKELPUDDING NACH GASSENHAUER-REZEPT
Inzwischen wirbelt in der Komischen Oper in Berlin mit Barrie Kosky ein Intendant, der kaum Berührungsängste mit irgendwas hat und aus diesem Guthaben schöpfend die Operette systematisch auf Ehrenplätze in den Spielplan zurück holt. So weit ist Nürnberg, wo vor Kurzem vermeintlich quotensichere Nummern mit dem wieder zum Großformat aufgeblasenen „Weißen Rössl“ und der bloß abgemagerten „Csardasfürstin“ bei allmählich gelichteten Zuschauerreihen versickerten, noch lange nicht. Die große, vor dem Abstieg der „Lustigen Witwe“ zu den „Lustigen Musikanten“ so heiß geliebte Zerstreuungs-Theatersparte der Operette galt allerdings längst als Wackelpudding nach Süßspeisenrezeptur vergangener Zeiten, war eine aussterbende, von der eigenen Routine strangulierte Gattung im Sammelbecken der manchmal ja wirklich trotzdem genialen Gassenhauer. Fürs Format der Wunschkonzerte reichte das allemal, aber dem vormaligen Stadttheater Nürnberg-Fürth ging der früher so stolz getragene Titel einer „deutschen Operetten-Hochburg“ mit drei bis vier Naschwerk-Produktionen pro Jahr flöten. Die überschaubare Resterampe-Sammlung von Evergreen-Werken wurde entweder zu verkappten Opern hochgestuft oder so diskret wie möglich dahingeschnulzt, so dass nach und nach die Ensemble-Spezialisten für die Kombination von süffiger Sprache und lockerem Gesang verschwanden. Von da an mussten gestandene Opernsänger zum Arien-Abwurf („Immer nur lächeln und immer vergnügt“) mühevoll Tanzschritte zählen und dazu laienspielerisch sperrige Dialoge aufsagen.
BEIM TANZ AUF DEM VULKAN WIRD DER WITZ VERSENGT
In Nürnberg hielt die alte, mächtig rostende Liebe zur Operette viel länger als an vergleichbaren Bühnen. Neckische Titel wie „Lisa, benimm dich“, „Die ungarische Hochzeit“, „Die keusche Susanne“, „Schwarzwaldmädel“, „Der fidele Bauer“, „Bezauberndes Fräulein“, „Hochzeitsnacht im Paradies“, „Gräfin Mariza“ geisterten bis zum Abwinken durch lokale Spielplanangebote im Pendelverkehr von Nürnberg/Fürth. In Szene gesetzt und zu Tode gehetzt mit immer gleichen Mitteln. Dann kam der Betriebsunfall mit dem radikalen Gegenentwurf. In Nürnberg ließ Hansjörg Utzerath sein wacker tremolierendes Schauspiel-Ensemble mit „Viktoria und ihr Husar“ auf Ohrwürmern reiten. Die artengeschützten Albernheiten entwickelten enorme Aggressionskraft überm pfützenreichen Weltkriegsschlachtfeld, der scheinbar harmlose Jux stürzte in den geballten Wahnwitz einer desolaten Gesellschaft, die sich beim Tanz auf dem Vulkan den Witz versengte. Was ungeübtes Schauspielstammpublikum irritierte und verirrte Operettenfans empörte. Utzerath war seiner Zeit voraus. Fand der stets pädagogisch argumentierende Kulturreferent Hermann Glaser, der im bundesweiten Fachmagazin „Theater heute“ sogleich passend dazu per Essay die Emanzipation der Operette zur permanenten Revue-Revolution ausrief. Das war sicher etwas zu hoch gegriffen, doch auch da kam die Inspiration aus der Spätlese von Paul Abraham.
Um gesellschaftskritische Durchdringung der Glamour-Fassade geht es beim neuesten Operetten-Trend freilich überhaupt nicht mehr. Wenn Trendsetter Barrie Kosky in Berlin für seine Version des „Ball im Savoy“ die Franken-„Tatort“-Kommissarin Dagmar Manzel als wunderbar selbstironische Gegen-Diva einsetzt (in Nürnberg wird Frederike Haas übernehmen) und die „Clivia“ des Spätlese-Komponisten Nico Dostal (nur hier bei uns galt sein „Doktor Eisenbart“ als erstes deutsches Musical) an die stolz stöckelnde Kunstfigur Ursli Pfister samt ihrer Geschwister übergab, ist die Travestie der Nostalgie ausgerufen. Keine distanzierende Haltung, keine bohrende Nachfrage, sondern die liebevoll bis zum Knirschen weitergedrehte Nonsens-Schraube. Ob das für eine Dauerblüte reicht? Wer die aktuellen Planungen deutschsprachiger Bühnen durchforstet, kann erkennen, dass die zuletzt im Zweifelsfall eher bei abgenutzten Show-Musicals andockenden Intendanten wieder etwas Mut gefasst haben und nun den Nachreifeprozess vergessener Operetten aus dem eigenen Fundus überprüfen. Nürnberg macht mit. Hier gab es auch nach der Abwicklung der Sparte in größeren Abständen noch intelligente Produktionen wie „Pariser Leben“ und „Madame Pompadour“ sowie im Gegenverkehr belebende Premieren-Eklats mit Buh-Stürmen, als etwa die Christel von der Post im „Vogelhändler“ nicht so abgestempelt war, wie man es von früher zu kennen glaubte. Den „Ball im Savoy“ hatte zu dieser Zeit sowieso kein Intendant mehr auf dem Wunschzettel.
Jens-Daniel Herzog, vom künstlerischen Image her ein sehr ernsthafter Schauspielspezialist (München/Mannheim) mit der persönlichen Wende zum nicht weniger seriösen Musiktheater-Macher (Dortmund) hatte kurz vor dem Dienstantritt in Nürnberg an der Deutschen Oper am Rhein sein spätes Operettendebüt als Gastregisseur von Franz Lehars „Der Graf von Luxemburg“. Ein entbehrliches Werk, dessen seifige Arien-Frage „Bist du´s, lachendes Glück?“ statt guter Laune nur noch Verlegenheit auslösen kann. Herzogs Nürnberger Vorvorgänger, der Musikwissenschaftler Wulf Konold, kassierte mit seinem Einsatz für „Giuditta“ aus der gleichen Werkstatt ähnliche Erfahrungen. Fassen wir zusammen: Genug mit Lehar!
DAS AKROBATISCHE BIGBAND-JODELN
Bei Paul Abraham und seinem „Ball im Savoy“ inmitten der Profilierungsbemühungen im selbsternannten „Haus der Künstlerinnen und Künstler“ sieht das vielleicht anders aus. Wenn da eine Jazzkomponistin aus USA mit dem Meistertitel im „akrobatischen BigBand-Jodeln“ auftritt, ist das fast so absurd wie Ionescos „Kahle Sängerin“ im Schauspielhaus nebenan, und wo die gastronomische Steppe vor dem Opernhaus den Widerhall von „Es ist so schön am Abend bummeln zu gehn“ verarbeitet, wirkt das womöglich ätzender als der lärmende Klamauk der dortigen „Komödie mit Banküberfall“. Weil ja unbeschränkte Vielfalt das erklärte Ziel und entfesselte Heiterkeit die bevorzugte Stimmungslage am Staatstheater 2018/2019 sind, ist das beiläufig auch der Testlauf um die Ergründung des akuten Nürnberger Publikumsgeschmacks. Die Therapeuten aus der Kleinkunst greifen ein. Die Geschwister Pfister und ihr Regisseur bleiben anschließend buchstäblich am Ball, sie ziehen nach der Nürnberger „Savoy“-Premiere mit dem bärtigen Fräulein und dem stöckelnden Herrn zurück nach Berlin, wo als nächste Produktion im Frühjahr die Fußball-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ entsteht. Das Fräulein Schneider wird eine resolute Kicker-Trainerin spielen, der keiner Travestie abgeneigte Ursli eine gleichermaßen für Rock und Röckchen zuständige Schottin, der für Bariton-Freundlichkeiten bekannte Toni ein tanzender Stürmer sein, und auch diese Vorlage stammt von Paul Abraham. Staatsintendant Herzog hatte die Revue mit Strafraum schon vor Jahren in Dortmund auf dem Spielplan. In Nürnberg, der Stadt des für alle Zeiten gegen jegliche Aussagekraft aktueller Fakten ruhmreich bleibenden Club, will er offenbar noch abwarten – bis die Abstiegsgefahr gebannt oder ein weiteres Wunderteam in Sicht ist. Wo, wenn nicht in Operette und Nordkurve, kann man sich solchen Stillstand für Träume erlauben.
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