Nürnberg will (vielleicht) Hauptstadt sein

SAMSTAG, 1. OKTOBER 2016

#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kultur, #Stadt Nürnberg, #Theater

… wenn schon nicht von Franken, dann wenigstens in Europa – Zu einem offiziellen Hauptstadt-Titel hat es für Nürnberg bisher nicht gereicht. Metropolregion, naja, aber selbst die Fußballhochburg ist ja längst geschliffen (der Vereinsrekord mit den meisten Bundesliga-Abstiegen der Republik hilft nicht wirklich) und die Mittelfranken haben ihren Regierungssitz bekanntlich einst nach Ansbach verlegt.

 

Wenn es mit der politischen Präsidentschaft von Franken schon nichts wird, sollte die kulturelle Hauptstadt von Europa, und sei es nur zwölf Monate lang, eine belastbare Alternative sein. Im Jahr 2025, also demnächst, steht zum vierten Mal seit seiner Erfindung einer deutschen Stadt dieser Titel zu, nach Bewerbung und Nominierung innerhalb der Bundesrepublik vom Europäischen Rat im absoluten Sinn des Wortes  „verliehen“. Im Nürnberger Rathaus wird grade endrundenmäßig drüber debattiert, ob man (zum Beispiel gegen das bereits mit dem Hut am Ring bereit stehende Dresden) in die Bewerberschlacht der Konzepte und Argumente ziehen soll. Erste Frage: Braucht‘s das? Zweite Frage: Was tät‘s kosten? Und überhaupt: Was bringt‘s?
Antwort: Jajaja!

ES GEHT AUCH UM TRAUMA-BEWÄLTIGUNG

Lange Zeit misstraute die Politikfront um OB Ulrich Maly (SPD) und Kulturreferentin Julia Lehner (CSU) diesem Sehnsuchtsblick zum Spiel ohne Grenzen wegen der Risiken mit öffentlicher Akzeptanz und Finanzierungsvorbehalten. Jetzt scheint die große Koalition Mut zu raffen. Es geht ja auch um Trauma-Bewältigung, denn genau genommen ist Nürnberg schon in zwei Anläufen (1999 und 2000) beim Schritt zur höheren Ehre über die eigenen Ambitionen gestolpert.
OB Peter Schönlein, der seine Amtszeit mit der Erfindung der „Kulturmeile“ (wer erinnert sich noch: CineCitta-Kunsthalle-Künstlerhaus-Neues Museum-Germanisches Nationalmuseum mit dem Theater auf der andern Straßenseite in Blickkontakt als spartenoffene Denk- & Marschrichtung) veredelte, machte das Thema mit allem Ehrgeiz zur Chefsache, scheiterte aber an der Ignoranz der bayerischen Staatsregierung. Den Münchnern um Altbayer Hans Zehetmair als zuständigen Minister war Nürnberg wurscht, sie ließen Weimar den Vortritt. Fürs Jahr darauf wollten die örtlichen Verlierer der für den Europa-Titel des Millenniums mit einmalig acht anderen Kommunen auserwählten Partnerstadt Krakau brüderlich aufs Trittbrett springen. Den da grade für eine Amtsperiode antretenden CSU-OB Ludwig Scholz schien das nicht so wichtig, er überließ seiner Bürgermeisterin Helene Jungkunz mit Kulturreferent Georg Leipold das (vergebliche) Anpreisen des hausgebastelten Mitmach-Modells. Abgehakt! Für 2010, die nächste theoretische Möglichkeit, traute sich keiner mehr, den Finger zu heben, und die Ruhr-Zentrale Essen bekam den Zuschlag.

LIEBER ÜBERRASCHUNGEN ALS SCHAUFENSTER-LUXUS

1985 in Athen, absolut klassisch also und noch frei von Eurokrisen, war der schmeichelhafte Titel „Kulturhauptstadt Europas“ in Umlauf gesetzt worden. Eine Metapher, was sonst! Ab 1986 sah es erst mal für ein Jahrzehnt sehr wie internationales Prestigegerangel aus, und die Länder schickten ihre Touristenmagnete in Überbietungswettbewerbe: Florenz, Amsterdam, Paris, Dublin, Madrid, Lissabon. West-Berlin bekam 1988 die allererste deutsche Nominierung, für ein prächtiges Spektakel auf der ohnehin mit viel Kultur begrünten freien Insel inmitten der grade noch existierenden sozialistischen DDR. Millionenetats für die Dekoration prächtiger Schaufenster wurden da bewegt.

Inzwischen ist Abrüstung angesagt, statt der Stolzparaden führender Metropolen schlich sich eine besondere, besonders sympathische Spielart von Entwicklungshilfe mit Überraschungsmomenten ein. So gab es seit 2004 jedes Jahr zwei Titelträger, einen aus den alten und einen aus den neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union.
Das schuf bis heute zunehmend Platz für versteckte Schmuckstücke: Auf San Sebastian und Breslau (2016) folgen Paarungen wie Aarhus und Paphos (Dänemark / Zypern 2017), Leeurwarden und La Valetta (Niederlande / Malte 2018) oder Matera und Plowdiw (Italien / Bulgarien 2019). Die für Deutschland reservierte Europa-„Kulturhauptstadt“ 2025, also beispielsweise Nürnberg, könnte allerdings die Hochglanztouristik von Bregenz oder Salzburg als direkten Vorläufer und somit Kontrastkulisse haben. Wobei die Mozart-Stadt aktuell in einen pikanten Streit trudelt, denn während die Vereinigten Kulturstätten an der Salzach samt ihrer Künstler nachdrücklich auf das belebende Europa-Zeichen setzen, hat der am Roten Teppich der Festspiele sozialisierte SPÖ-Bürgermeister nur das verächtliche Urteil „Strohfeuer ohne Strahlkraft“ für den Titel übrig.

So borniert wird in Nürnberg sicher nicht argumentiert. Hier bremste eher die fränkisch-nüchterne Sorge vor einem weiteren vorzeitigen Scheitern, die klammheimliche Angst vor Event-Übersättigung und nicht zuletzt wohl auch personeller Pragmatismus: Julia Lehner wird 2025 nicht mehr im Amt sein, Ulrich Maly nur dann, wenn er seine gern gepflegte Koketterie eines politischen Vorruhestands beiseite schiebt. Beide müssten also mit absehbaren Mühen Ideen pflanzen, ohne selber zu ernten. Womöglich sogar hochkomplexe, finanz- und kulturpolitisch sicherlich umstrittene Vorbereitungen einleiten, die schlimmstenfalls ins Nichts führen. Denn Garantie bleibt ausgeschlossen. Sie konnten sich, wenn auch zögernd, mit dem Gedanken anfreunden.

Inzwischen hat das intern zunächst favorisierte Huckepack-Konzept, das nach dem NRW-Modell von 2010 mit Essen samt Ruhrgebiet als Flächen-„Hauptstadt“ für die etwas diffuse Variante einer Nordbayern-Umarmung mit den Fingerspitzen bis nach Bamberg und Bayreuth warb, wieder weniger Chancen. Die für die Jahre ab 2020 neu formulierten „Evaluierungskriterien“ aus Brüssel, die Regeln der Berufung, sind eher für konkrete Adressaten gedacht, wenn sie in der Reformprogrammatik neben der „europäischen Dimension“ und den „kulturellen und künstlerischen Inhalten“ vor allem auf „Erreichung und Einbindung der Gesellschaft“ bestehen. Gemeint ist, wenn man es denn auf lokale Verhältnisse übersetzt, die Entwicklungsfähigkeit einer manchmal doch sehr in sich ruhenden Kommune.

EIN EPPELEIN-SPRUNG WIE IM DÜRER-JAHR?

Nürnberg weist mit seinem aktuellen Kulturprofil zweifellos eine Basis vor, auf der viel entstehen kann. Etwas entstehen muss! Ein Potpourri der vorhandenen Festivals wird ebenso wenig zur Bewerbung reichen wie der Hinweis aufs Germanische Nationalmuseum oder das Dokuzentrum Reichsparteitagsgelände, das Staatstheater, die neue Konzerthalle oder zwei örtliche Orchester.
„Europa“ verlangt Neues, möchte vor der Entscheidung den Entwurf von Visionen ohne Verfallsdatum sehen, und das passt absolut zur örtlichen Situation. Denn hier in dieser Stadt, die mit attraktiven Massenevents inzwischen hinreichend gesegnet ist, wäre eine weitere Welle jener kulturpolitischen Gründerzeit fällig, die vor 30 bis 40 Jahren mit durchaus umstrittenen Ideen wie der Soziokultur und dem Aufbruch einer bis dahin nicht gekannten „freien Szene“ die trockene Konvention so überspülte, dass es an vielen Ecken zu blühen begann. Ein solches „Kulturstadt“-Programm aus Innenleben und Außenwirkung, das bei der Sondierung der eigenen Ressourcen und der damit verbundenen Offenheit zur Erreichung freudig angepeilter Fernziele nicht mal Angst vor „Eppelein-Sprüngen“ hat – das müsste es sein.

Ein Blick zurück auf die Dokumentationen von 1971, als Nürnberg das „Dürer-Jahr“ zum 500. Geburtstag des einzigartigen städtischen Großkünstlers AD so ausladend unter internationaler Beachtung feierte, dass es dafür bis heute kein Gegenbeispiel gibt, könnte nicht schaden. Von herausfordernden Kunstaktionen über spitz formulierte Denkmodelle bis zum gediegenen Wortschwall durchreisender Prominenten-Paten gibt es da reichlich Material, was man für 2025 als Inspiration oder abschreckendes Beispiel verwerten kann. Dass ein Kulturjahr erst die Akzeptanz in der Stadt braucht, ehe es nach außen wirken kann, sollte man als Prolog über alle Denkschriften setzen.

Zurück zur Frage aller Fragen, zum alles entscheidenden „Was bringt‘s?“: Schon allein mit der Bewerbung würde etwas in Bewegung gesetzt, das niemand mehr aufhalten kann. Ob dann 2025 dieser begehrenswerte Titel zum Anlocken von Touristenströmen bei der dritten Anfrage endlich nach Franken kommt oder nicht – die Nürnberger profitieren auf alle Fälle. Wenn das keine Perspektive ist …




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