Die Erde ist keine Heimat: Bierbichlers "Mittelreich"
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Die Musik steht für alles, was das Leben für den Pankraz im Zentrum dieser ländlich-bayrischen Jahrhundertsaga an zerstörten Hoffnungen, gerafftem Trost und letztem Gruß bereit hat. Gesangskünstler darf er nicht sein, weil er auf Anordnung des Vaters die Seewirtschaft der Familie weiterführen muss.
Die katholische Pfarrersreligion mit ihrem angeschlossenen Kirchenchor hilft seiner Sehnsucht notdürftig, die gewagte Anschaffung eines eigenen Musikschranks für den Genuss von Klassikplatten ist auch eher Seelenmöblierung als Befreiungsschlag. Am Ende senkt sich das Brahmsrequiem als bleierne Totenmesse über ihn. Da hat er, der doch „heraus aus allem, was ich muss“ fliehen wollte, nicht nur das Erbe des Vaters verflucht und das eigene Glück verpasst, sondern eben auch schon die Existenz des Sohnes verpfuscht. Drei Generationen drängen sich im literarisch unkonventionellen Roman von Josef Bierbichler durch zwei Weltkriege und die Rätsel der neuen Zeit, umsorgt (auch verspottet) vom Autor, der für einordnende Zwischenbemerkungen die Erzählerdistanz gerne mal beiseite schiebt. Anders als Anna-Sophie Mahler in München, die bei ihrer Entscheidung für die radikale Reduzierung der Handlungsstränge die Hoheit über den eigenen Spielrahmen gewann, möchte Thomas Krupa in seiner Erlanger Bühnenfassung dem Original nah bleiben. Weil man aber mit 400 Seiten nicht so leicht fertig wird, werden einige Figuren bloß im Vorbeigehen angetippt – ach was, dich gibt`s ja auch.
Auf der weiträumigen Bühne des Markgrafentheaters wird für die Skizzierung der Bierbichler`schen Charakterschädel die Szene mit Klavier, Tisch und Stühlen angedeutet. Man spricht über Verstärker, was den gleitenden Übergang, hin und her zwischen Nacherzählung und Direktdialog, schnell als verfremdendes Stilmittel etabliert. Das wird ausgereizt, wenn das ganze Ensemble die Daten der ersten Weltkriegsschlachten im Chronisten-Spalier runterrattert und übergangslos kniegebeugt in die kollektive Schutzmantel-Hymne „Gegrüßet seist du Maria“ verfällt. Voll der Gnade, ja, das wär`s! Später kommen Spiegelflächen für erweiterte mystische Ahnungen dazu, ein kleiner Vorhang weht wie ein Hauch von „Hier gilt`s der Kunst“ durch die Aktionen und immer wieder wird die Bühnentechnik mit ihren Beleuchtungsbrücken wie für Leerlaufdemonstrationen des Gegenwartstheaters in Bewegung gesetzt.
Der Seewirt Pankratz von der mittleren Generation, dem das Leben zerstört wird und der absolut nichts daraus lernt (Matthias Breitenbach zeigt ihn, den Gefangenen der eigenen Verdrängungen, vor allem als aufbrausenden Schwadroneur, weniger als betrogenen Träumer), ist umgeben von den schwarzen Schatten zweier bigotter Schwestern, der verhuschten Lebensrestverwertung seiner gepeinigten Ehefrau und der unzerstörbaren Pragmatiker-Moral seines schlesischen Knechts (Frank Albrecht verzichtet auf Dialekt-Gegenfarben, so wie die ganze Aufführung auf Bierbichlers Hör-Ballett der schweren Zungen verzichtet). Das Zentrum der Dramatik kann er nicht verteidigen, gegen die Vernichtungsattacken von Sohn Semi (Mario Neumann, eindrucksvoll in kalter Wut gegen die Elterngeneration der Verführer und Versager), wird seine Haltung nichts ausrichten. Am Ende, wenn der zornige Junge mit der bitteren Internatserfahrung den Kinderschänder in der Mönchskutte bestialisch ermordet hat und rundum im Schicksalstakt altersgerecht gestorben wurde, fällt der vorletzte Satz des Romans wie ein Fallbeil in die Aufführung: „Die Erde ist keine Heimat“. Bierbichler war das im Buch dann doch zu melodramatisch und er schrieb hintendran „Im Taubenschlag lässt sich´s gut warten …“.
Ganz so viel Fallhöhe im Sarkasmus wollte der so sehr um Werktreue ringende Thomas Krupa aber nicht. Zwar nimmt er in seiner Inszenierung mit neun Darstellern für achtzehn Figuren die satirischen Signale auf, aber diesem wie aus dem Nichts schnalzenden Pathos widersteht er. Man spürt die Distanz auch, wenn die Musik eher zögerlich als Ersatzreligion akzeptiert und umgesetzt ist. Da wird zwar das dünnstimmige „Stille Nacht“ der säuselnden Seewirts-Sippe weggefegt von der brausenden LP-Konserve der „Missa Solemnis“ aus dem neu angeschafften Musikschrank, doch die wildeste Gesangsszene des Originals gibt es nur als harmlosen Wortbeitrag. Wo der Pankraz im Roman vor Naturgewalten ausflippt und Wagners erlösungsgierige „Holländer“-Arie der reale Unwetterfront entgegen brüllt, macht er in Erlangen nur eine kleine Dichterlesung und rezitiert dürre Worte in den Wind hinein. Zum Ausgleich gibt es später, nachdem er bereits die Nackerten auf der sauren Wiese als Teufelsbrut der neuen Zeit beschimpft hatte, plötzlich eine große Hippie-Einlage mit dem „Hair“-Wassermann fürs komplette Ensemble. Da konnten sich viele dran erinnern.
Die Erlanger Inszenierung bringt, auf einem flauschigen Percussion-Klangteppich schwebend, den ständigen Wechsel zwischen spannenden und verrutschten Szenen, punktet oft mit den Schauspielern (Hermann Große-Berg als flüsterndes Fräulein Zwittau im Häkel-Look), verblüfft bei diversen Abwechslungsangeboten wie einem Schattenspiel und dem Chor-Zwischenspurt mit Einar-Schleef-Aufmarschrhythmik, bastelt an einem Sketchsolo im Polt-Format und kann den Grundsatzfehler nicht ändern, dass der Textbearbeiter mit seinem mangelnden Mut zur Lücke dem gleichnamigen Regisseur das Handwerk schwer macht. Der Beifall hatte Spuren von Erschöpfung, war aber sehr freundlich.
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Schauspielkritik von Dieter Stoll
für das Berliner Kritiken-Portal „nachtkritik.de“
www.nachtkritik.de
Thomas Krupa nach Josef Bierbichlers Roman: Mittelreich
Regie, Bühne: Thomas Krupa
Termine
15.06.2016, 19.30 Uhr
24.06.2016, 19.30 Uhr
25.06.2016, 19.30 Uhr
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