Wo die Katzen auf den Felsen singen
#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kultur, #Theater
Das fränkische „Sommertheater“ strebt auf vielen Freilicht-Festspielen 2016 zu Besucherrekorden – aber in Nürnberg bleibt die Kunst unterm Dach – Kulturkommentar von Dieter Stoll.
Welche Botschaft treibt JESUS CHRIST SUPERSTAR ans geschlossene Portal der Schwäbisch Haller Michaelskirche? Muss sich der Bamberger Erzbischof vor dem Auftritt von SIMPLICISSIMUS TEUTSCH auf den Pflastersteinen seiner Domhofhaltung fürchten? Wachsen die fleischfressenden Pflanzen vom KLEINEN HORRORLADEN womöglich direkt im Dinkelsbühler Garten am Wehrgang? Ist der Balkon von ROMEO UND JULIA im Gewölbe des Feuchtwanger Kreuzgangs dort, wo er beim letzten Mal auch schon war? Und: Was machen die naturgemäß wasserscheuen CATS im Fichtelgebirge, falls es dort regnet? Fragen über Fragen – die Antworten sind in den nächsten zwei Monaten zu erwarten.
Jetzt wird wieder die Theaterwelt durchgelüftet: An allen Ecken des Landes – unter Felsen oder an Gewässern, in Wäldern oder Ruinen, auf Kirchentreppen, in Klösterhöfen oder einfach auf der grünen Wiese – sind die Vorbereitungen der Freilichtspiel-Saison 2016 angelaufen. In den Wochen von Mitte Juni bis Anfang August herrscht Ausnahmezustand bei der dramatischen Kunst. Da muss man nicht zwanghaft an die legendäre Arena von Verona denken, wo das stabile Gerücht über die Belebung von faschingsbunt gekleideten Standbild-Sängern in Verdi-Opern beharrlich Elefantenherden verspricht, aber meistens nur ein einzelnes Pferd bietet, denn das Gute liegt ja so nah. Die Macher und Mitmacher der fränkischen Bühnenlandschaft, die während der traditionellen Saison immer am elitären Hochkultur-Image der bayerischen Landeshauptstadt ein wenig sehnsüchtig hinauf blicken, haben beim Volkssport „Sommertheater“ eindeutig die besseren Karten. Während in München in den verschwitzten Wochen vor den großen Ferien alles auf die sündhaft teure Galakunst der Opernwelt zuläuft, schaltet Nordbayern (lassen wir den Bayreuther Extremfall um Wagners Wähnen mal beiseite) auf die Normalo-Popularität des sauerstoffreichen Freilichtspiels um.
150.000 PILGERN ZUR LUISENBURG
Einige Adressen stehen prototypisch für alle: Auch in diesem Jahr werden beim Branchenriesen auf der Luisenburg bei Wunsiedel etwa 150.000 Zuschauer erwartet, wehen im Kreuzgang von Feuchtwangen, in der Alten Hofhaltung am Bamberger Dom und selbst im kleinen Dinkelsbühler Wehrgarten die hoffentlich lauen Abendwinde vor dicht besetzten Reihen durch alle Arten der Weltliteratur. Die Frage, ob da eine eigenwillige Variante von Kultur gepflegt oder vor allem der Tagestourismus angekurbelt wird, stellt sich längst nicht mehr so polemisch wie noch vor einigen Jahren, als die ambitionierte Kunst der festen Bühnen und die volkstümelnden Spektakel der Sommerdramatik geradezu gegenläufig positioniert schienen. In den Stadttheatern war das Abonnentenärgern bei manchmal rätselhaften Avantgardezuckungen inbegriffen, unter freiem Himmel fand der konservative Zuschauer den Trost der brav am Text entlang abgespulten Inszenierung von gut durchschaubaren Überdeutlichkeiten. Das wirkte zeitweise wie zwei verschiedene Welten mit kaum unterdrückter Verachtung für die jeweils andere. Heute, da hier wie dort nichts mehr unmöglich ist und das Musical gleichberechtigt neben dem Volkstheater steht (also etwa auf der Luisenburg „Der verkaufte Großvater“ die bemooste Felsenbühne mit „Cats“ teilt) gilt: Spielen und spielen lassen!
TRADITION MIT FACKELZUG UND BLASKAPELLE
Es war ja zunächst alles etwas uriger, deutlich weniger komfortabel als heute beim Freilichttheater, wo kühle Brisen oder Nieselregen (Abbruch der Vorstellung und Eintrittsgelderstattung nur bei Wolkenbrüchen in der ersten Hälfte!) den wahlweise bildungs- oder unterhaltungsbedürftigen Zuschauer oft auch körperlich herausforderten. Da wurden Wolldecke und Regencape zur Vorbereitung ja stets noch wichtiger als das Reclamheft mit dem Dichterwort. Wer je erlebte, wie auf der Luisenburg (manchmal) das herzerwärmende Happy End vom Eisbein aufwärts gegen den von unten anschleichenden Luftzug kämpfte, der weiß Bescheid. Ablenkung brachte allemal die spannende Frage, in welcher Reihenfolge wohl diesmal Fackelzüge und Feuerwehrblaskapelle integriert sein würden. Immerhin, bei Regen war der Zuschauer (im Gegensatz zum bis heute tapfer tropfenden Schauspieler) dort schon lange geschützt. Im Kreuzgang Feuchtwangen sausten im Ernstfall bei laufender Vorstellung hilfreiche Geister durch die Reihen und verteilten Plastikhauben, während der Zuschauer in den Schalensitzen unter sich die allmähliche Ansammlung von Flüssigkeit als Gratissitzbad registrierte. Oder damals in Dinkelsbühl, als der Garten mit Klappstühlen zum improvisierten Freilichtspiel-Gelände erklärt wurde und während der Vorstellung immer mal wieder unerschrockene Katzen aus der Nachbarschaft völlig textunabhängig erhobenen Schwanzes durch die Szene schlenderten. Inzwischen ist das alles aufgerüstet, professioneller, bequemer. Der Sommertheaterfreund soll nichts vermissen müssen. Das gilt fürs Ambiente, aber ganz besonders für die Dehnbarkeit der Spielpläne.
DIE WUNDERTÜTE VOM MARKTFÜHRER
Das neue Selbstwertgefühl hat mit Entwicklungssprüngen der Marktführer zu tun. War etwa auf der großen Felsenbühne der Luisenburg zunächst der Doppelschlag aus großer Shakespeare/Schiller-Klassik und kernigem Stadl-Volkstheater das oberste Programmgebot, so wurde alsbald der Ehrgeiz über moderne Klassiker wie Brecht, Dürrenmatt und Frisch (als sie grade von den Staatstheatern für angestaubt erklärt und vorübergehend abgehakt waren) bis zur eigenen Roman- & Kino-Adaption von „Der Name der Rose“ (die nie den Durchbruch zum ständigen Theaterrepertoire schaffte, aber im Wald begeisterte) gelenkt. Seit im Fichtelgebirge der Münchner Schauspieler und Regisseur Michael Lerchenberg das Sagen hat (ja, der Herr Prälat aus dem „Bullen von Tölz“ und einstige Nockherberg-Prediger mit Mut zum offenen Wort), ist dort in der neuen Spannweite vom „Brandner Kaspar“ bis zu „Cats“ fast alles drin in der Wundertüte. Als Nachfolger der gemütlicheren Ahnen Beppo Brem oder Michel Lang ist nun halt der Großbühnen- und TV-Schauspieler Michael Altmann der „Verkaufte Großvater“. 150.000 Zuschauer – das sind 14 mal soviel Menschen wie die Einwohner der Veranstalterstadt Wunsiedel und mehr als das Nürnberger Schauspiel pro Komplettsaison bilanziert – danken es jedes Jahr in acht Sommerwochen. Rundum, über die Landesgrenze hinaus bis Schwäbisch Hall und Götz-Burg Jagsthausen, ist das ein expandierender Wirtschaftsfaktor. Meist eigenständig organisiert, manchmal (Bamberg, Dinkelsbühl) aber auch als Anhängsel des Theaterbetriebs.
NÜRNBERGER NOSTALGIE: MUSKETIERE, LIEBESKONZIL UND FRANKEN-JEDERMANN
Nürnbergs Freilichtspieltradition läuft gegen den Erfolgstrend. Lang ist es her, dass hier alljährlich im Juli das komplette Stadttheater-Ensemble mit mehr oder weniger passenden Produktionen aus dem laufenden Spielplan (gerne „Freischütz“, notfalls „Wilhelm Tell“) Sonntagsausflüge in den Bergwald von Weißenburg machte. Für Extrainszenierungen an sandsteinigen Orten Nürnbergs gab der Etat damals auch noch etwas her. Im Hof des Heilig-Geist-Spitals konnte man die historische „Bettleroper“ oder Lope de Vegas „Krawall im Hinterhaus“ erleben, die Katharinen-Ruine wurde mit dem Raumspektakel „Die drei Musketiere“ erobert. Dort folgten später u.a. „Die Räuber im Spessart“ und (zum durchaus eingeschränkten Amüsement der örtlichen Geistlichkeit) Oskar Panizzas lästerliches, zeitweise verbotenes „Liebeskonzil“ als rasantes Blasphemical. Zuletzt montierte Schauspiel-Chef Klaus Kusenberg in seiner ehrgeizigsten Phase den extra in Auftrag gegebenen „Fränkischen Jedermann“ von Fitzgerald Kusz in den Museumshof des „Germanischen“ und zog für die Dacapo-Saison im Folgejahr nach St. Katharina um. Das war 2002, seither hat sich das Nürnberger Theater unters Dach zurückgezogen. Rückkehr zu „alten Zeiten“ ist nicht in Sicht.
Jeder Nürnberger, der im Juni und Juli 2016 die Theaterluft naturfrisch will, den Sternenhimmel mal nicht als Kulissenmalerei, den metaphorischen „Sommernachtstraum“ bei vollem Risiko, muss also mit ein bis zwei Stündchen Anreise rechnen – bei freier Wahl der Himmelsrichtung. Vielleicht erhöht das sogar den Reiz, dieser sanfte Zwang zur abendlichen Entfernung vom Alltag. Betrachten Sie‘s doch einfach mal so …
DIE AKTUELLEN PRODUKTIONEN UND SPIELPLÄNE 2016 DER BELIEBTESTEN FREILICHTSPIELE IN NORDBAYERN (UND KNAPP JENSEITS DER LANDESGRENZE) IM NETZ:
Luisenburg Wunsiedel: luisenburg-aktuell.de
Kreuzgangspiele Feuchtwangen: kreuzgangspiele.de
Freilichtspiele Schwäbisch Hall: freilichtspiele-hall.de
Freilichtbühne Wehrgang Dinkelsbühl: landestheater-dinkelsbuehl.de
Calderon-Spiele Bamberg, Alte Hofhaltung: theater.bamberg.de
Bergwaldtheater Weißenburg: bergwaldtheater.de
Klosterhofspiele Langenzenn: klosterhofspiele.de
Burg Brattenstein Röttingen: frankenfestspiele.de
Burgfestspiele Jagsthausen: burgfestspiele-jagsthausen.de
#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kultur, #Theater