Windstoss für ein Flaggschiff

FREITAG, 1. APRIL 2016

#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kultur, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Was die Berufung von Jens-Daniel Herzog als neuer Nürnberger Staatstheater-Chef ab 2018 (und vielleicht schon bis dahin) bedeutet – Kulturkommentar von Dieter Stoll

Um es mal in aller Offenheit zu sagen: HURRA! Manchmal überwältigt die trübe Nachrichtenlage mit einem unerwarteten Sonnenstrahl, dessen Kitzel niemand widerstehen kann. So wie kürzlich, da die Zeit gereift war, in dieser unserer fränkischen Stadt inmitten des Freistaats Bayern die Geschichte ein weiteres Mal umzuschreiben. Nein, nicht bloß die Theatergeschichte, sondern die ganze Sache mit der Kultur. Beiläufig ging es um die Verkündigung der Vertragsunterschrift von Jens-Daniel Herzog (Dortmund), der ab 2018 die Leitung des Staatstheaters Nürnberg übernehmen wird. Viel wichtiger als diese kleine Personalie war natürlich die grundsätzliche Stellungnahme des dafür mitverantwortlichen Finanzentwicklungsundheimatministers Markus Söder, der fürs Institut an der U-Bahn-Station „Opernhaus“ schriftlich begutachtete, es sei (ich zitiere) „das kulturelle Flaggschiff der Metropolregion Nürnberg“ und (ich zitiere immer noch) „des Freistaats“. Da werden sie aber aufhorchen in München. Vor allem, wenn demnächst dieser Windstoß bei geblähten Segeln als alternative Franken-Hymne vertont wird, beispielsweise für Trompete und Flaggschifferklavier. Also nochmal: HURRA!

SCHAUSPIELMANN, DER OPER LERNTE

Nun gut, mit der Berufung von Jens-Daniel Herzog zum künftigen Chef des Staatstheaters Nürnberg ist der Suchmannschaft um Kulturreferentin Julia Lehner wohl wirklich die denkbar beste Lösung geglückt. Ein Theatermacher, der Schauspiel gelernt hat (Jungtalent bei den Münchner Kammerspielen, Direktor am Nationaltheater Mannheim) und seit 2011 auf Oper spezialisiert ist (Intendant in Dortmund, wo er nun drei Jahre vor Vertragsende zugunsten der neuen Aufgabe aussteigt) müsste ab 2018 der drei- bis vierspartigen Kulturfabrik am Richard-Wagner-Platz der richtige Inspirator sein. Dass dort ein „Jens“ als Nachfolger von Peter Theiler einziehen würde, hatte sich schon länger abgezeichnet. Bei der Auswahl aus 150 Bewerbern (Herzog hat sich natürlich nicht beworben, er ließ „anfragen“) mit den anschließenden Favoritenverhandlungen, wo es um Gagenhöhe, Gastierfreiheit, Präsenzpflichten und Konzeptblanko ging, war noch die alternative Möglichkeit Jens Neundorff von Enzberg geblieben. Dieser Wundertäter aus der Oberpfalz mischt seit einigen Jahren als Intendant das kleine Regensburger Stadttheater so spektakulär auf, dass die Branche samt der anhängenden Kritikerkarawane bei der Beurteilung dieser Arbeit das Wort „Provinz“ unzerkaut runterschluckte. Auch er wäre eine gute Lösung gewesen.

BUH-RUFE ZUM „AIDA“-HINTERHOF

Der grundsolide Jens-Daniel Herzog – sicher auch in Zukunft Dauer-Gast der Opernhäuser in Zürich, Dresden, Hamburg und Frankfurt - ist die größere Nummer im deutschen Bühnenbetrieb. Er war eine Regie-Entdeckung des Münchner Altmeisters Dieter Dorn, wurde (mit dem Schauspiel Zürich und David Mamets Psycho-Thriller „Oleanna“) mal zum Berliner Theatertreffen berufen und kann in der persönlichen Trophäensammlung des Reiseregisseurs sogar die Legende Nikolaus Harnoncourt (gemeinsame „Zauberflöte“ in Salzburg) als Partner präsentieren. Dass er Nürnbergs Opernhaus „neue Impulse“ schon allein dadurch geben wird, weil er hier künftig „selbst Regie führt“, ist allerdings nur die Vermutung eines weiteren flüchtig informierten Landespolitikers. Denn Herzog hat in Nürnberg in den letzten Jahren bereits Verdis „Aida“ und Puccinis „Tosca“ als Gast inszeniert (bei Verdi mit Hinterhofmüll gab es Buh-Rufe, bei Puccini uneingeschränkte Begeisterung für perfekt umgesetzte Hitchcock-Psychologie), was Kunstminister Ludwig Spaenle bei seiner Bewertung aus der Ferne entgangen war. Kann passieren, schließlich hatte sein Amts-Vorgänger aus der F.D.P., als er damals beim Festakt zur Wiedereröffnung des runderneuerten Schauspielhauses antrat, auf dem Weg zum Grußwort-Mikrophon schnell noch absichernd bei der Pressestelle nachgefragt, ob die Sparte denn wirklich zum Staatstheater gehöre.

EIN REGISSEUR WAR IN NÜRNBERG NOCH NIE INTENDANT

Grundsätzlichen Wechsel in der Machtstruktur bedeutet die Berufung von Jens-Daniel Herzog durchaus. Mit ihm als „Staatsintendant“ wird erstmals seit Menschengedenken ein praktizierender Regisseur das Nürnberger Opernhaus samt Anhang führen. Das war bisher anderen Berufsgruppen vorbehalten: Schauspieler (Karl Pschigode), Dirigenten (Hans Gierster, Eberhard Kloke), Festivalmanager (Lew Bogdan), Dramaturgen (Burkhard Mauer, Wulf Konold) lenkten das große Ensemble meist mit Hilfe eines Oberspielleiters. Wenn Herzog, wie derzeit in Dortmund, die zwei wichtigsten der gerade mal üblichen sechs bis sieben Neuinszenierungen pro Saison selber herausbringt, also quasi die große Linie im Spielplan für alle sichtbar markiert, ist das jedenfalls ein anderer Schwerpunkt als bisher. Denn in den Jahren von Peter Theiler, der sich als Entdecker und Förderer sah, galt strikt bunte Abwechslung mit Gästen als oberstes Gebot der Hausmacherästhetik.

MIT GOTTVERTRAUEN AUF JESUS CHRIST

Die wenigen Schwerpunkte seiner Nürnberger Perspektive, die sich Herzog bislang entlocken ließ, sind Dortmunder Blaupause – und für Nürnberger Verhältnisse durchaus verheißungsvoll. Wo Theiler mit dem Motto „Belcanto & Broadway“ angetreten war, könnte sein Nachfolger bei Schlagwortbedarf mit „Barock und Rock“ dienen. Er verspricht also mehr vom hier unfassbar vernachlässigten Händel (in Dortmunder Koproduktion mit Bonn ist „Rinaldo“ sein größter Erfolg) und bleibt wohl mit Gottvertrauen bei „Jesus Christ Superstar“ (in Dortmund/Bonn mit DsdS-Sieger Alexander Klaws sein Kassenknüller), will „Familien-Oper“ auch jenseits von Hänsel und Gretel (in Dortmund ist es die singende „Ronja Räubertochter“). Ansonsten gibt es dort die Musicals „Next to normal“ (das hatte vorher Deutschland-Premiere in Fürth) und „Kiss me, Kate“ (wie derzeit in Nürnberg) sowie die auch hier üblichen Standards von „Tristan und Isolde“ über „Rosenkavalier“ und  „La traviata“ bis zu „Peter Grimes“. Die Behauptung, dass damit der Begriff „Oper für alle“ erfüllt und für Nürnberg garantiert ist, braucht gewisses Wohlwollen als Voraussetzung. Andererseits beschallen die Philharmoniker von Marcus Bosch ja sowieso auch gelegentlich den Rock-Club „Hirsch“ und die Mittagsgäste im Germanischen Nationalmuseum. Da sind ebenfalls unsortiert „alle“ angesprochen – mindestens!

BAUSTELLEN-DOPPEL: KONZERTSAAL UND OPERNHAUS

Überraschend ist an der Vorstellung des neuen Staatsintendanten eine diskret mitgegebene Terminverschiebung. War das technisch marode Opernhaus angeblich schon vor vier Jahren von einer unmittelbar bevorstehenden Schließung durch den TÜV bedroht, und wurde die auf drei Spielzeiten angelegte Sanierung nach mehreren Verschiebungen schließlich auf die ultimative Frist von 2018 gelegt, soll nun 2021 als Umzugsdatum ausreichen. Statt dem drohenden Beginn im Provisorium also erst mal normaler Betrieb für den Einsteiger Herzog, allerdings in einem angeblich nur mit Notplänen bespielbaren Gebäude. Dann müsste das vom Stadtrat beschlossene zweite Konzerthaus am Parkplatz neben der Meistersingerhalle bezugsfertig sein für drei bis vier Jahre als Ausweichquartier für die Unbehausten aus der Innenstadt. Vielleicht kann Nürnberg nach der erhofften Rückkehr anno 2025 im dritten Anlauf den Ritterschlag zur „Kulturstadt Europas“ doch noch empfangen. Das wär´ schon eine Gala wert … Aber es ist der ferne Klang von Zukunftsmusik mit erheblicher Dissonanzgefahr, also ein anderes Thema.

WICHTIGER SCHEINT, WAS VORHER GESCHIEHT

In den nächsten zwei Jahren muss Staatsintendant Jens-Daniel Herzog einen neuen Schauspieldirektor finden (für Klaus Kusenberg, der in seinen beiden letzten Spielzeiten garantiert noch mal aufdrehen wird), vermutlich auch einen neuen Ballettchef (da Goyo Montero als attraktives Theiler-Mitbringsel für Dresden im Gespräch ist) und die weitere Zusammenarbeit mit dem ehrgeizigen Generalmusikdirektor Marcus Bosch klären. In allen Fällen dürfte sich zeigen, wie fest der Griff des Neuen über die Spartengrenzen hinweg ausfallen kann. Glücklicherweise darf man davon ausgehen, dass es ihm der noch amtierende Vorgänger in seinen beiden Restspielzeiten und der daraus folgenden Bilanz nicht leicht machen wird. Peter Theiler will mit Trommelwirbel abziehen und drei Regie-Schwergewichtler seines Nürnberg-Jahrzehnts noch einmal markant in Stellung bringen. Er lässt den unberechenbar provokanten Spanier Calixto Bieito die kolossalen Berlioz-„Trojaner“, den ostdeutschen Stiliserungsaltmeister Peter Konwitschny die immer noch wie ein Höhepunkt der Moderne wirkenden Zimmermann-„Soldaten“ und den vom Schauspiel zur Opernaufmischung abgeworbenen Österreicher Georg Schmiedleitner mit Alban Bergs „Wozzeck“ den unwiderstehlichen Klassiker des Atonalen inszenieren. Das muss man dann erst mal übertreffen können.

Es kommen verheißungsvolle Zeiten auf die Nürnberger Theaterfreunde zu – vielleicht ab 2018, ganz sicher aber vorher. Am Flaggschiff wird schon eifrig gepaddelt. Hiermit das dritte HURRA!




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