Im Sternzeichen des Ohrwurms

MITTWOCH, 2. MäRZ 2016

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Warum in Nürnberg und Erlangen die Theater ihr Heil wieder mal in den Hitparaden suchen – Ein Kulturkommentar von Dieter Stoll

Haben Sie‘s schon gehört, Helene Fischer ist jetzt Mitglied im Ensemble des Erlanger Markgrafentheaters. Echt wahr! Nach ihrem vielbeachteten Tod im „Tatort“ darf man da, auch mit gewisser theologischer Emphase, durchaus von glorreicher Auferstehung sprechen: Atemlos durch die Nacht bis der Abonnent erwacht. Im Februar wurde sie bereits in fünf Aufführungen gefeiert, ab April folgen viele weitere. Wie enthusiastische Kritiker zu berichten wissen, trifft sie in der  intergalaktischen Show nicht nur auf drei Flüchtlinge (die - jaja, das ganze Leben ist ein Quiz - als Show-Kandidaten um ein Plätzchen in der neuen HEIMAT ERLANGEN kämpfen) sondern auch auf Hugenotten und Außerirdische. Erstere gehören zum Erbgut der Stadt, Marsmännchen hingegen sind selbst in der universellen Siemens-Zentrale bislang nicht aktenkundig. Übrigens: Um es auf die Bühne des altehrwürdigen Kulturtempels zu schaffen, musste die Starsängerin mit ihren Hits laut Regisseur Ekat Cordes in einer internen Vorauswahl, die im Sternzeichen des Ohrwurms stattfand, gegen 500 andere Schlager bestehen. Lügenpresse? Das ist aber jetzt sehr verletzend!

HOHE GEDANKEN, TIEFE GEFÜHLE

Moment mal: Die weitergehende Recherche (versuchtes Twittern mit Florian Silbereisen) hat ergeben, dass sich in Erlangen ein Helene-Fischer-Double eingeschlichen hat, wegen ununterscheidbarer Talente bejubelt und deshalb in der Langzeitwirkung besonders infam. Die Schauspielerin Janina Tschernig (demnächst Natascha in Tschechows „Drei Schwestern“) soll zu ihrer Rechtfertigung gesagt (oder gedacht?) haben, sie wolle damit bloß die anhaltende Verschmelzung von Hoch- und Popkultur auf den neuesten Stand bringen, respektive updaten. Die Erlanger „Liederabend“-Inszenierung sei lediglich ein Abbild dessen, wie hohe Gedanken und tiefe Gefühle diese typisch deutsche Trennung von U und E gemeinsam überwinden, indem sie über alle willkürlichen Grenzen hinweg aufs Schönste miteinander harmonieren. So oder ähnlich könnte sie es zusammengefasst haben: Man solle sich doch zur Bestätigung nur mal die Spielpläne der großen Theaterwelt, also in Nürnberg und Fürth, ansehen.

EWIG JUNG AM SCHAUSPIELHAUS

Das kann man nicht ignorieren. Am Nürnberger „Staats“-Schauspielhaus wurde nämlich in aller Stille, während die Erlanger noch mit Kletterübungen auf ihrer hochgestapelten Hitparaden-Halde befasst waren, ein bislang nicht angekündigtes, in Berlin allerdings seit zehn Jahren erfolgreiches „Songdrama“ in die laufende Planung eingefädelt. Erik Gedeons schwarzhumoriges Rentnerbespaßungsspektakel EWIG JUNG, einer der Prototypen der neuen Schlagerdramatik, soll am Richard-Wagner-Platz zwischen Ibsens „Ein Volksfeind“ und Schillers „Wilhelm Tell“ ab Mitte Mai für Stimmung und Quote sorgen. Handlung: Da wohnen in der fernen Zukunft des Jahres 2050 im Gebäude des ehemaligen Theaters, das längst zum Seniorenstift umgebaut wurde, hochbetagte Künstler und treffen sich statt Bingo zur trotzigen Vorstellung einer Vorstellung, wo sie an imaginärer Bühnenrampe gegen alles Tattern in gewohnter „Ich bin ein Star, lasst mich hier los“-Konkurrenz das strenge Regiment der so bedrohlich zynischen wie stimmstarken Pflegeschwester (in Berlin seit 2006 Angelika Milster, in Nürnberg ab 2016 Elke Wollmann) untergraben. Ein Hit nach dem andern wird aus dem Nähkästchen geholt und als höchstpersönlicher Ausdruck der im Langzeitgedächtnis verankerten Erinnerungen geentert. Da die mit Maskenbildnerkunst authentisch gealterten Akteure allesamt unter ihrem heutigen Echtnamen auftreten, könnte in 34 Jahren ein lokales Kammerschauspielernest entstanden sein. Eines, wo die Seeräuber-Jenny und Nathan der Weise mit König Lears Tochter und dem Teifl aus dem Fränkischen Jedermann bei kleinen Show-Häppchen an den Schemen der Vergangenheit kuscheln bis der Boandlkramer kommt.

VERWEILE DOCH … ODER TU, WAS DU NICHT LASSEN KANNST

Es geht doch nichts über Fingerfood. Natürlich, wir sind schließlich bei der Kultur, im übertragenen Sinn. Manche Menschen setzen heimlich immer noch auf Kalenderblätter (Der Spatz in der Hand…) oder den Seitenblick auf die Wand über Omas Frisierkommode (Eigner Herd …), wenn sie die Welt verstehen oder beschwören wollen. Im Rahmen der globalen Erweiterung und der Peking-Ente darf es ersatzweise auch der Glückskeks mit dem Hinweis auf den himmlischen Frieden sein. Andere geben sich intellektueller und rufen zum Gefühlstraining portionsweise Ludwig van Beethoven (Alle Menschen werden Brüder) gern mit der Antwort von Peter Alexander (Hier ist ein Mensch, öffne die Tür) auf. Das Theater hat ja mit seinen Klassikern schon immer einen besonderen Beitrag zur Beschleunigung existentieller Fragen auf geflügelten Worten geleistet – oder wenigstens deren Kenntnisnahme während des Absturzes angeregt. Shakespeare (Bestseller forever) passt immer! Dazu Goethes „Faust“ (ständig irgendwo im Spielplan) und Schillers „Wilhelm Tell“ (ab Juni wieder mal in Nürnberg neu), dann kann der gebildete Bürger nach wie vor das ganze Schicksal in handliche Sinnsprüche zerkleinern. Verweile doch, du bist so schön oder tu, was du nicht lassen kannst. Aber was ist schon „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“ gegen „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, nananananana“.

NUR AN DEN DOMSPATZEN SCHEITERT DAS SYSTEM

Wann mag das wohl gewesen sein, dass an den kulturellen Heil- und Pflegeanstalten der von öffentlicher Hand gestützten Theater die Erkenntnis blühte, eine Verbrüderung der hehren Kunst mit dem populären Sound könne die andere Art von Tragikomödie wie eine Alternative zur nackten Wortgewalt erschaffen. In Nürnberg war es vielleicht der Aufmarsch der trällernden SEKRETÄRINNEN, der zu hundert ausverkauften Vorstellungen führte. Der Musiker Franz Wittenbrink (später in München, Hamburg, Wien und Berlin eine sichere Bank für viele solcher Projekte) hatte die Tippsen-Collage erfunden, ebenso wie das danach zu immerhin noch für 50 Nürnberger Aufführungen gute Gegenstück MÄNNER, das die Herren im Kicker-Delirium am heimischen Bildschirm von Lust und Frust rhythmisch grölen ließ. Im Vorjahr musste Wittenbrink dann in Berlin erleben, wie sein System am eigenen gehobenen Anspruch scheiterte. Da baute der ehemalige Regensburger Domspatz aus gegebenem Anlass für Claus Peymanns Berliner Ensemble unter dem Titel „Schlafe mein Prinzchen“ mit Chorälen und Schlagern seinen ätzenden Kommentar zur Aufarbeitung der laufenden Missbrauchsaffäre – und war dem Massenpublikum erstmals zu wenig  unterhaltsam. Es ist nicht bekannt, dass irgendein Theater dieses Stück nachspielen will.

GRENZÜBERTRITT ALS NORMALFALL

Nehmen wir, was wir kriegen können. Da gehört neben den absehbaren Serienerfolgen von „Heimat Erlangen“ und „Ewig jung“ unbedingt die breiter gewordene Front der Kleinkunst mit eingebautem Quergedanken-Großformat dazu, die Phalanx der singend in die Theatralik aufgebrochenen Satiriker. Die besseren von ihnen machen ja alle Theater-Miniaturen statt Sketchen. Kleine Vorschau gefällig? Die sechs Berlin Comedian Harmonists führen das Fracksausen an der Zeitgeistkonserve mit DIE LIEBE KOMMT, DIE LIEBE GEHT in die nächste Runde (26.3./27.3. im Fürther Theater), die früheren Windsbacher Knaben von Six Pack lassen zum 25-jährigen Jubiläum ihrer „A-Cappella-Piraterie“ mit TSCHINGDERASSABUMM (7.4./8.4. Hubertussaal Nürnberg) von überirdischen Engelsgrüßen bis zum Nachruf auf No Angels alles zusammenprallen, die seit Katharinenruinen-Auftritten legendären ANNA MATEUR & THE BEUYS quetschen auf Einladung des Burgtheaters am liebsten beliebteste Hits wie Saftzitronen für den Säureschock aus (7. April). Und natürlich ist beim angekündigten ELEFANTENTREFFEN von Ottfried Fischer und Lizzy Aumeier die wuchtige Wendung zur ganzkörperlichen Musik unausweichlich. Ob der „Bulle von Tölz“ dabei den Pavarotti macht, ist ungewiss, aber ein Auftritt der zweitbesten Tina Turner aller Zeiten dürfte sicher sein (2. Mai, Tafelhalle). Hier wie bei den großen Theatershows der etablierten Häuser in Erlangen und Nürnberg gilt die knetgummiharte Regel: Der Zuschauer darf im Feuerwerk der Evergreens auch Schattenspiele erkennen – oder gerne ganz einfach mitwippen.

AC/DC FÜR DEN OPERNFREUND

Wieviel Ernsthaftigkeit diese hemmungslose Verbrüderung hinter allem sortierten Jux entwickeln kann, bedarf wohl in der Kunst wie im sonstigen Verwaltungsleben eindeutig der „Einzelfallprüfung“. Oft ist es mehr als die Papierform ahnen lässt – es gilt das gesungene Wort. Dass der Trend sowieso nicht aufzuhalten ist und die Spartengrenzen nur noch Restsymbolik mit breiten Portalen zum Durchwinken haben, mag eine Gastspielankündigung in Fürth belegen. Dort tritt im Stadttheater am 17. April das seit Jahren zurecht beliebte Hamburger Quartett LA-LE-LU mit Jubiläumsprogramm auf. Laut Ankündigung handelt es sich dabei um „Opern-Comedy“. Auf der Liste der beteiligten Opern-Komponisten stehen Enrique Iglesias, Herbert Grönemeyer und AC/DC.




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