Ein Buch, ein Ziel, drei Lesungen und eine Leseprobe

9. FEBRUAR 2016 - 11. FEBRUAR 2016, N/Fü/ER

#Buchvorstellung, #Café, #Konzert, #Lesung, #Literatur

Schaffenskrise sieht anders aus. Die Schaffenskrise ist das Autorenduo Immanuel Rouven Reinschlüssel und Robert Wolfgang Segel, und die wollen in einer Kurzlesereise an drei aufeinanderfolgenden Abenden in Fürth, Erlangen und Nürnberg ihr Buch „Wer Sturm ernten will“ einmal komplett durchlesen.

Ihr bisher zweites Buch, erschienen im Dezember, enthält 22 Kurzgeschichten auf 116 Seiten, ist somit zum Dreiteilen und für Zuhörer, die nicht an allen Abenden dabei sind, gut geeignet. So gut, dass an allen Abenden sogar genügend Zeit bleibt für sehr gute Livemusik. Wir sagen: „Die schaffen das!“

TERMINE
Di., 09.02., 20 Uhr:
CAFÉ KAFFEEBOHNE
Gustavstraße 40, Fürth
Musik: We Brought A Penguin

Mi., 10.02., 21 Uhr
WORT + KLANG
Goethestraße 12, Erlangen.
Musik: Brickwater

Do.,11.02., 20 Uhr
WEINEREI
Königstraße 33-37, Nürnberg
(Ostermayr Passage)
Musik: Marco Klein


DIE AUTOREN
IMMANUEL ROUVEN REINSCHLÜSSEL,
geboren 1985, hat Politologie studiert und schreibt, seit es das Leben notwendig gemacht hat. Seine Texte erzählen in den leisesten und lautesten Tonlagen vom Unglaublichen, vom Zwischenmenschlichen und von der Flucht nach innen. Neben dem Schreiben sitzt er oft auf Parkbänken und beobachtet Schildkröten.
ROBERT WOLFGANG SEGEL,
geboren 1984, hat Theologie, Biologie, Anglistik und Germanistik studiert und schreibt, seit er weiß, dass auch zwischen den Worten etwas stehen sollte. Seine Texte taumeln über die Planken menschlicher Emotionen und fallen nicht selten zwischen die Zeilen. Neben dem Schreiben schlendert er gern durch den Tiergarten und gibt Führungen.


Zum Aufwärmen und Einlesen gibt es an dieser Stelle schon ein Kurzgeschichte aus dem Buch. Unser herzlichstes Dankeschön an die Autoren und ein herzliches Bitteschön für unsere Leser.

IGUAZÚ
In Buenos Aires erzählen sie,
das argentinische Kleingeld wäre so wertlos, dass kein Verkäufer es mehr annimmt.
Mehr noch – jeder Verkäufer runde den Gesamtpreis auf, nur um kein Münzgeld von den Kunden zu erhalten.

In Buenos Aires erzählen sie,
diese centavos wären so wertvoll, dass kein Verkäufer sie mehr herausgeben will.
Mehr noch – sie sind die einzige Möglichkeit, mit der man für Busfahrten in der Innenstadt bezahlen kann.

Solche Hinweise stehen nicht in Reiseführern, nicht einmal in den guten.
Man bekommt sie ausschließlich von den Menschen, die einem helfen wollen, einfach so, kostenlos, doch nicht umsonst.
Wo gibt es das heutzutage noch?
„In Deutschland nicht“
dachten wir uns und buchten einen Flug nach Buenos Aires, Argentinien, der Name eine unfassbare Übertreibung.
Die Portenos, die in Buenos Aires geborenen Argentinier, nennen diesen Ort, diesen Schmelztiegel, dieses zusammengeflickte Abenteuer an der Flussmündung des Rio de la Plata, des Silberflusses, kurz und knapp BsAs und essen niemals etwas in der stickig heißen und immer überfüllten Subte, sie finden das ekelhaft.
Wo gibt es das heutzutage noch?
„In Deutschland nicht.“
dachten wir uns und buchten einen Flug nach Buenos Aires, Argentinien, der Name eine unfassbare Übertreibung.

Und so standen wir damals am Aeropuerto Ezeiza,
gleichzeitig überwältigt und überfordert von unserer Umgebung,
die uns und unseresgleichen bereits etwas gewöhnt und dadurch nachsichtig ist.
Die vielzitierte, augenzwinkernde Gastfreundschaft der Portenos war vom ersten Augenblick an greifbar, für uns ein unschätzbarer Vorteil.
Man hatte uns geraten, auf das Taxi zu verzichten und den Bus zu nehmen.
Der erste Eindruck von Buenos Aires sollte wohl sofort der richtige sein.
Solche Hinweise stehen nicht in Reiseführern, nicht einmal in den guten.
Man schenkte uns Centavos und wir wussten diese Kostbarkeit noch nicht gebührend zu würdigen, nickten nur fragend, heilfroh, überhaupt eine leise Ahnung davon zu haben, was man uns in fremden Zungen eben vorgeschlagen hatte.
Wir wurden gezwungenermaßen zu Beobachtern, gehetzt, erschlagen, von Taubheit und Stummheit geplagt und fanden eine Bushaltestelle, eine geordnete Schlange an wartenden Menschen und warteten hinter, vor und mit ihnen.
Geordnet, in einer Schlange, einige Meter lang.
Wo gibt es das heutzutage noch?
Wir bestiegen den erstbesten Bus, die meisten fahren in die Innenstadt, folgten den Anweisungen des Busfahrers, die wir nicht verstanden und warfen unseren geschenkten Schatz in den Automaten hinter dem Fahrersitz wie alle Fahrgäste vor uns auch. Dafür benötigt man zum Glück keine Wörter.
Und als die Münzen, in dieser für uns aufgebrachten, unübersichtlichen Stimmung, fast schon ohrenbetäubend laut unten aus einer Öffnung im Automat heraus prasselten, rief uns der Fahrer lachend ein paar spanische Wörter zu, die grob von seiner schweren, argentinischen Zunge purzelten, winkte uns nach hinten, schloss die Türen und fuhr uns geradewegs in die Hölle.

Dieser Schmelztiegel,
dieses zusammengeflickte Abenteuer an der Flussmündung des Silberflusses wird nachts zu einer noch größeren Überforderung für Europäer,
zu einer Überforderung für uns,
deren Anziehung wir uns nicht entziehen konnten, wollten oder auch beides.
Für uns hatten die Argentinier Tag und Nacht vertauscht, sie luden uns ein,
zu essen, obwohl wir die Zutaten nicht kannten,
zu trinken, obwohl wir noch nie von argentinischem Rotwein gehört hatten,
zu reden, obwohl wir nicht sprechen konnten,
zu tanzen, obwohl wir deutsche Hüften hatten,
aufzubleiben, obwohl wir uns bereits um Betten bemüht hatten.
Wo gibt es das heutzutage noch?

Und so erlebten wir 7 Tage in dieser Hölle wie im Traum.
Wir aßen in San Telmo echte Pommes und choripan beim Grill um die Ecke und waren dem Besitzer nach viel zu kurzer Zeit ergeben.
Wir wunderten uns über den Vogelkäfig im Baum gegenüber.
Wir saßen in europäischen Cafés in Palermo, sahen dort am helllichten Tag den kleinen großen Argentinier fernab der Heimat seine Landsmänner verzaubern.
Wir wunderten uns über die vielen wilden Katzen im Botanischen Garten.
Wir feilschten an Marktständen in Recoleta und suchten das berühmte Grab der berühmten Frau, die fast so berühmt ist wie die Hand Gottes.
Wir wunderten uns über den Friedhof, der eher einem Labyrinth glich.
Wir staunten im Centro über die täglichen Protestmärsche der alten Mütter am
Plaza de Mayo und die alten, noch immer beeindruckenden Kolonialbauten, die den Platz umrunden.
Wir wunderten uns, warum man noch immer Obelisken erbaut.
Wir ließen uns von der Verrücktheit der Portenos in La Boca anstecken, naschten an der Pralinenschachtel und flohen danach wie ertappte Diebe.
Wir wunderten uns über unsere Schnelligkeit, unser Glück und im Nachhinein über unsere Naivität.
Und so erlebten wir 7 Tage in dieser Hölle.
Wir wurden von jedem auf den ersten Blick als Europäer erkannt, obwohl die meisten hier selbst von Europäern abstammen, vielleicht aber auch gerade deswegen.
Und so erlebten wir 7 Tage wie im Traum,
bis wir nicht nur knietief in den Reizen standen, sondern fast in ihnen ertranken.
Wir brauchten endlich etwas Ruhe, weniger Häuser, weniger Autos, weniger Menschen, weniger fremde Wörter, weniger Hektik.

Erneut wurde ein Bus unsere Rettung, Abfahrt Busbahnhof Retiro,
Endstation Puerto de Iguazú, hoch im Norden, an der brasilianischen Grenze.
Er brachte uns stundenlang durch das nächtliche Brachland, die weiten Pampas, begleitet von Blitzen und Unwettern, die wir als Reinigung empfanden, als Beginn von etwas Neuem.
Doch wir mussten feststellen, dass man hier fast nie alleine ist, in diesem Land, auf diesem Kontinent, selbst wenn man Buenos Aires bereits gemeistert hat.
Unser Ziel war der Nationalpark am Rio Iguazú, der natürlichen Grenze zwischen Brasilien und Argentinien. Und er war voller bettelnder Waschbären und alten Österreichern und wir taten uns schwer damit, beides zu akzeptieren und abzuwägen, welche der beiden Parteien schwieriger zu ignorieren war.
Auf unserer Flucht vor ihnen trauten wir uns tiefer in den Dschungel, versuchten herauszufinden, weshalb man uns so eindringlich geraten hatte, hier unbedingt herzukommen.
Solche Hinweise stehen nicht einmal in den guten.
Man bekommt sie ausschließlich von den Menschen, die einem ansehen, was man gerade benötigt, einfach so, kostenlos, doch nicht umsonst.
Wo gibt es das heutzutage noch?

Und als sich nach einigen Kurven im Rundweg der erste dieser mächtigen Wasserfälle zeigte, die man in keiner Sprache der Welt beschreiben kann, war die Beantwortung auf diese Frage so ersichtlich, dass man sie nicht mehr aussprach, wie ein Schüler, der die Antwort schon kennt.
Ich machte das Foto, das jeder hier macht, einfach weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.
Das Staunen raubte mir all meine Kraft.
Ich machte das Foto, das jeder hier macht und das alleine noch nicht beweist, dass ich tatsächlich hier war, Wikipedia sei Dank.
Aus diesem Grund machten wir ebenso Fotos von uns vor diesem nicht beschreibbaren Motiv, so wie jeder hier und hofften, wir hätten andere Motive als jeder hier,
nämlich innere Unruhe und nicht den naiven Glauben, wir könnten dieses Naturwunder so einfach mit nach Hause nehmen, in diesem viel zu kleinen Fotoapparat.
Wir wandelten stumm wie ungläubige Ketzer über die Besucherwege des Nationalparks, bekamen unsere Münder und Augen nicht mehr geschlossen und wollten diesen Versuch erst gar nicht unternehmen. Wir waren nicht nur stumm in spanischer Hinsicht, wir waren stumm in jeglicher Hinsicht.
Und als uns, ganz am Ende, der Teufelsschlund die Augen etwas weiter geöffnet hatte, sagtest du atemlos einen Satz, den ich nie vergessen werde und der mich seither auf meinen Reisen begleitet hat.
Du sagtest: „Hier geht es echt nicht mehr um Fotos.“
Dieser Satz begleitet mich, überall hin, weil er wahr ist. Absolut wahr.
Ich habe damals unzählige Bilder von den atemberaubenden Wasserfällen des Rio Iguazú gemacht und keines von ihnen zeigt mir die Realität.
Kein einziges.
So sehr ich mir das auch wünschen würde.
Vielleicht sollte ich einfach alle Fotos löschen, und, wenn mich die Erinnerung an diesen schönsten Ort verlässt, sehr unwahrscheinlich zwar, wieder hinfahren und mich wieder berauben lassen.

Und als du mir damals mit deiner atemlosen Stimme deinen Satz, deine Wortschöpfung präsentiert hattest, wie ein Wissenschaftler, der mit seiner Entdeckung die Menschheit retten kann, kam mir selbst eine Erkenntnis in den Sinn, die ich nie vergessen werde und die mich seither in meinem Leben begleitet hat.
Ich dachte damals:
„Wer kann dieses Naturwunder, das man mit keiner Sprache, die uns Menschen zur Verfügung steht, begreifen kann, wahrhaftig erleben und trotzdem behaupten, es gäbe keinen Gott?
Wer?“ Mir fiel niemand ein.
Und doch gibt es noch immer Menschen, die Iguazú nicht kennen,
die Gottes Schöpfung nicht kennen
und die Konsequenzen dieser Unwissenheit unterschätzen.

Wo gibt es das heutzutage noch?
„In Argentinien nicht“
dachten wir uns und buchten den Flug nach Nürnberg, Deutschland, der Name eine unfassbare Vertrautheit.

Autor: Robert Segel

Text aus dem Buch „Wer Sturm ernten will“.
Mit freundlicher Genehmigung der Autoren. Vielen Dank!
Anderweitige Veröffentlichung, Kopie, Nachdruck und Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Autoren.



 




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