Rückblick: Immergut 2010

FREITAG, 11. JUNI 2010



Wer braucht eigentlich Einleitungen? Das bezaubernde Immergut Festival hoch im Norden bei Neustrelitz fand in diesem Jahr zum elften Mal statt. Mit ein paar neuen Gesichtern in den Reihen der Veranstalter, mit einer neuen Bühne, mit neuen Impulsen beim Booking, aber alles immer noch genauso sympathisch organisiert, wie in den Jahren zuvor - ein Rückblick.



Freitag, 16:50 Uhr

Ein Blick aufs Display unseres Autos verrät uns, dass in wenigen Minuten An Horse auf die Bühne gehen werden. Das bedeutet kein schön krachiger 90er-Indierock mit Tegan and Sara-Stimme für uns, denn wir biegen gerade erst auf die B198, nachdem wir soeben durch Weltstädte wie Meyenburg und Ganzlin gefahren sind, weil wir uns das erste Mal in sieben Jahren verfahren haben. So ist das wohl, wenn man erst am Abend zuvor doch noch spontan beschließt aufs Immergut zu fahren, nachdem man damit in diesem Jahr eigentlich schon abgeschlossen hatte.

Freitag, 17:55 Uhr
Tele-Sänger Francesco Wilking liest gerade im „Birkenhain“. Birkenhain ist die dritte Bühne, die in diesem Jahr ihre Prämiere feiert und da steht, wo in den letzten Jahren leckere Wraps verkauft wurden. Ein Tausch, den wir zunächst noch verfluchen, später am Abend aber noch zu schätzen wissen. Herrn Wilking verpassen wir jedenfalls auch, wir müssen unser Zelt aufbauen, welches wir in den nächsten 48 Stunden zum Statisten degradieren werden. Vor wenigen Tagen wieder mal das Tele-Album „Wir brauchen nichts“ angehört und festgestellt, dass es sich dabei wohl um eine der unterschätztesten deutschsprachigen Platten des letzten Jahrzehnts handelt. Wäre also sicher interessant, was Wilking jetzt gerade solo hier macht, aber erst mal ankommen.

Freitag, 18:30 Uhr
Aus der Ferne klingen Everything Everything wie alles, was man in den letzten Jahren an Musik aus Großbritannien gehasst hat. Späte Coldplay paaren sich mit der aktuellen Editors-Platte und bringen mal wieder die Erkenntnis: Musik, die von Anfang an für große Bühnen gemacht wird, muss einfach scheitern! Aus der Nähe ist das aber vielleicht gar nicht so schlecht, beim Haldern vielleicht doch mal genauer anschauen. Neben uns auf dem Zeltplatz läuft sich die 8000-Mark-Fraktion so langsam warm. Ob „8000 Mark“ irgendwann das neue „Helga“ wird? Es nervt jedenfalls schon jetzt und nachdem die Botschaft zusätzlich durch ein Megafon kund getan wird, steht die friedliche Koexistenz auf dem Spiel. Später werden wir unseren Nachbarn mitteilen, dass wir an ihnen die „Top Kill“-Methode austesten werden, wenn nicht bald Ruhe ist. Wir sind erfolgreicher als BP.

Freitag, 21:20 Uhr
Jetzt aber endlich mal Musik. We Were Promised Jetpacks betreten die Zeltbühne. Die Band, die den Postrock auf die Tanzfläche zerrt. Die Band, die wir seit einem Jahr abfeiern. Die Band, die wir bei ihren zahlreichen Deutschland-Konzerten bisher verpasst haben. Der Sound ist anfangs eher mäßig, von der zweiten Gitarre hört man wenig, aber das ist nicht weiter schlimm, denn die Schotten machen ALLES richtig. Da sitzt der Lärm am rechten Fleck und die melancholisch eingefärbten Melodien nehmen fast alle mit, die sich im Zelt eingefunden haben. Ein bislang wenig bekannter Song wird eingestreut, ansonsten gibt es ein Best Of ihres Debütalbums „These Four Walls“ und beim Übersong „Quiet Little Voices“ stehen hier sowieso alle Kopf. Perfekt. Fast schon verdächtig perfekt dieser Auftritt.

Freitag, 22:10 Uhr
Und gleich weiter zu The Go! Team. Der Soundcheck dauert noch an, vom Band kommt Hip Hop, innen drin pocht die Vorfreude. Und dann geht er los der ganz große Zirkus. Instrumente werden genau wie Genres permanent gewechselt und trotzdem klingt hier nichts nach mühsam konstruierten Crossover, sondern einfach nach Spielfreude und unglaublich smartem Songwritertum. Unter „Pop, Indie, Hip Hop“ haben sich The Go! Team bei MySpace eingeordnet, aber ihr Sound geht viel tiefer. Vielseitig und dennoch eingängig. Von derben Baller-Beats bis Banjo-Melancholie geht alles. Eine musikalische Frischzellenkur. Redaktionsintern sind wir uns trotzdem nicht einig: Zwischen „belanglos“ und diversen Superlativen ist alles vertreten. Einig sind wir uns allerdings darüber, dass sich die unsäglichen Bonaparte endlich mal auflösen könnten. Die jagen zwei Stunden nach dem Go! Team ihr buntes Antitainment-Programm zwischen platten Texten, affigen Kostümen und nackten Brüsten über die Hauptbühne. Über Geschmack lässt sich streiten!

Samstag, 2:00 Uhr
Gut, dass Turbostaat anschließend die Gehörgänge wieder durchspülen. Die Band ist inzwischen ihre eigene Marke. Unverkennbar und mit jedem Album eigenständiger. Die Meute fliegt durchs Zelt, irgendjemand hat seinen Schuh verloren, irgendjemand fällt hin, irgendjemand hilft ihm wieder auf. Das Publikum ist textsicher und Turbostaat trotz der späten Uhrzeit topfit. Danke! Mal wieder, du beste Emopunkband der Welt.

Samstag, 3:45 Uhr
I Heart Sharks entern das kleine Birkenhain und wir kommen endlich drauf an was uns der Name ständig erinnert hat: Berghain. Na klar. Der Techno-Tempel aus Berlin. Techno gibt es von der englisch-deutschen Kombo nicht, aber ein bisschen Rave und Discopunk und gar nicht mal schlechten. Blöd nur, dass bei jedem zweiten Song der Strom ausfällt. Ist den hundert Leuten, die nochmal die letzten Energiereserven zusammen gekratzt haben, aber total egal. Die Band wird bis zum letzten Titel getragen, im Hintergrund geht schon wieder die Sonne auf und wir taumeln danach Richtung Diskozelt, wo die spätrömische Dekadenz neu definiert wird. Weintrauben werden gereicht und ein ominöses Getränk namens Cobra Liebe. „Moving To New York“ läuft heute gleich zweimal, als Ausgleich dafür gibt es Udo Jürgens „Ich war noch niemals in New York“. Innovativ ging es beim Karrera Klub ja noch nie zu, aber Spaß macht es trotzdem jedes Jahr aus Neue. Irgendwann gibt es keine Getränke mehr, immer ein gutes Zeichen dafür langsam mal schlafen zu gehen.

Samstag, 10:25 Uhr
Der Samstag ist wie immer die völlige Überforderung: Man würde gerne zum Fußballturnier, man möchte aber auch an den See fahren. Man muss einkaufen, würde aber am liebsten einfach mal nur mal im Campingstuhl sitzen und alles auf sich wirken lassen. „Einfach nur hier sitzen“ - in bester Loriot-Manier. Wir entscheiden uns für den See und einen Einkauf, müssen aber noch warten bis einer unserer Körper uns die Fahrtauglichkeit vorspielt.

Samstag, 16:40 Uhr
Als wir zurückkommen ist die Parkplatzsituation „eskaliert“. Wir wissen nicht, wer sie wann deeskalieren wird und kurven durch die Gegend auf der Suche nach einem Parkplatz. Irgendwann werden wir bei einer Mercedes-Werkstatt fündig und stellen das Auto zwischen schrottreife Viertürer ohne Nummernschilder. Ob unser Auto am nächsten Tag noch da sein wird oder schon ausgeschlachtet in Einzelteilen durch Deutschland fährt? Wir haben keine Zeit ausführlich darüber nachzudenken, denn wir wollen The Kissaway Trail sehen. Die fünf Dänen haben keine einfache Aufgabe, denn ihr zur Decke strebender Indiepop im Stile von Arcade Fire ist am späten Nachmittag nicht gut aufgehoben. Ihre Musik ist für die hoffnungsvollen Trübsalbläser, die sich erst raustrauen, wenn es draußen dunkel ist. Draußen ist es aber hell und obendrein scheint die Sonne in ihrer ganzen Pracht. Da müssen sie jetzt durch und wir auch. Am Ende wirkt das ganze gar nicht mal so deplatziert - abgesehen vielleicht von den Bühnenoutfits einzelner Bandmitglieder.

Samstag, 18:00 Uhr
Ja, Panik gehen auf die Hauptbühne und beweisen ein weiteres Mal, dass sie keine Festivalband sind. Vielleicht sind sie nicht einmal eine Liveband. Auf Tour zu gehen ist Frontmann Andreas Spechtl sowieso ein Graus hat er vor Kurzem zugegeben und tatsächlich sind Ja, Panik einfach nicht die Typen, von denen man erwartet, dass sie abliefern sollen und müssen. Mit „The Taste and The Money“ haben sie eine der wichtigsten deutschsprachigen Platten des neuen Jahrtausends veröffentlicht, man hat auch schon gute Club-Konzerte erlebt, aber irgendwie wünscht man ihnen fast, dass die Leute wieder so viele Tonträger kaufen würden, dass Ja, Panik gar nicht erst live spielen müssten. Die Antithese auf einem „Markt“, der immer mehr von den Umsätzen durchs Livegeschäft lebt.

Samstag, 18:50 Uhr
William Fitzsimmons, der Songwriter mit dem vielen Haar am Kinn und wenig Haar auf dem Kopf, geht als einer der Geheimtipps ins Rennen um den Lieblingsauftritt beim diesjährigen Immergut. Entsprechend viele Menschen haben sich vor der Birkenhain-Bühne versammelt, sitzen dicht gedrängt im Gras und harren der Soundprobleme, die da inzwischen erwartungsgemäß aufkommen. Die Technik im Birkenhain - eine der wenigen ausbaufähigen Randnotizen an diesem Wochenende. Nachdem Fitzsimmons und Band mit viel Applaus begrüßt werden, dröhnt der Bass erst einmal viel zu laut durch die ersten Minuten des Sets, bevor die hektisch umher wuselnden Mischer die Lage in den Griff bekommen und sich doch noch ein herzergreifendes Songwriter-Kleinod entwickeln kann. Ganz weit vorne und vielleicht einer der Köpfe, die das Genre in nächster Zeit prägen werden. (siehe auch: Interview mit William Fitzsimmons auf curt.de)

Samstag, 21:25 Uhr
Kein Immergut ohne Weilheim. Wenn The Notwist nicht anwesend sind, irgendeine Band aus ihrem Umfeld ist fast immer da. Diesmal sind es Lali Puna, die vor Kurzem ihr neues Album „Our Inventions“ veröffentlicht haben und zwischen München und Zagreb mal eben so Neustrelitz in ihren Tourplan integriert haben. Natürlich könnte man dem Quartett um Valerie Trebeljahr und Markus Acher vorwerfen, dass auch Lali Puna nach dem typischen Notwist-Geplucker + x klingen, aber das wäre zu einfach. Wer genau hinhört findet jede Menge Unterschiede zwischen den diversen Weilheim-Bands und Lali Puna machen sich gerade auf mehr als nur eine schöne Ergänzung zur Hauptband zu sein. Ihr Auftritt beim Immergut hat etwas Meditatives, wenn man sich darauf einlässt. Das Quartett hat eine starke Basis und darauf stapeln sie dann Schicht um Schicht, steigern sich rein, lassen sich treiben und alles ist im Fluss. Augen zu und los geht die Reise. Und wenn man danach die Augen wieder aufmacht, sieht man nichts außer entzückten Gesichtern und in den Händen halbvolle Bierbecher, die in den letzten 45 Minuten unberührt geblieben sind.

Samstag, 22:20 Uhr
Wie passend, dass im Anschluss Efterklang auf der Hauptbühne stehen und mit ihrem komplex arrangierten Postrock eine Kopfkino-Brücke schlagen. Spätestens seit dem nächtlichen Seidenmatt-Auftritt 2007 wissen die Veranstalter, dass der oft verschmähte Gevatter Postrock eine wunderbare Show bieten kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Dunkel muss es sein und die Bühne groß, dann kann sich dieser Sound perfekt entfalten. Efterklang würde man zwar wünschen, dass sie zwischendurch auch mal mehr auf den Punkt kommen würden und neben all der Verspieltheit auch mal einen echten Song abstecken würden, aber das ist scheinbar ihr Naturell: alles was nach Song klingt, ist zu hinterfragen.

Samstag, 23:50 Uhr
Gut, dass im Anschluss mit FM Belfast der größtmögliche Gegenentwurf auf der Zeltbühne steht. Als „Songs“ muss man ihre Dance-Bonbons zwar auch nicht unbedingt bezeichnen, aber wer dachte, dass nach der Audiolithisierung der Indieszene Schluss ist mit Bier-Rave, hat sich offensichtlich getäuscht. Während die einen nach Efterklang schlafen gehen, dreht der Rest noch mal so richtig auf und kommt in den Genuss des Überraschungs-Acts des Wochenendes. In der ersten Hälfte des Sets wirkt der Elektropop noch etwas altbacken, in der zweiten gibt es kein Halten mehr. Völlig losgelöst raven sich Band und Publikum in die Nacht. Guns n‘ Roses werden mal eben so von 90er-Trash-Sounds gekidnappt und als FM Belfast am Ende noch den Triumph von Lena in Oslo durchgeben, steht der Gewinner des elften Immergut Festivals scheinbar fest: Zwölf Punkte gehen nach Reykjavik.

Sonntag, 1:25 Uhr
So langsam macht sich Enttäuschung breit. Über eine halbe Stunde stehen Tokyo Police Club nun schon auf der Bühne und abgesehen von zwei bekannten Titeln spielen die Kanadier ausschließlich neue Songs von einem Album, das erst Wochen nach dem Festival erscheinen wird und das natürlich noch niemand kennt. Einerseits logisch, denn das Quartett hat sich in den letzten Monaten fast ausschließlich mit den neuen Stücken beschäftigt, andererseits ist der Headliner-Posten auf einem Festival fern ab der Heimat nicht unbedingt dafür geeignet ausgerechnet dort das neue Album fast vollständig anzutesten - zumal die Band bisher kaum in Deutschland auf Tour war. Die Erwartungshaltung vorher ist groß und Tokyo Police Club fahren sie mutig aber wenig erfolgreich über den Haufen. Auf ihrem Debütalbum „Elephant Shell“ und den vorangegangen EPs haben sie mehr als ein Duzend Hits versammelt, in dieser Nacht spielen sie kaum einen davon und sorgen damit trotz unglaublich tightem Sound für eine der größten Enttäuschungen an diesem Wochenende. Das kommende Album wird bestimmt trotzdem fantastisch, nur diesmal war der „Champ“ zur falschen Zeit am falschen Ort.

Sonntag, 3:10 Uhr
Die Meute feiert mit Remmidemmi im Discozelt, wir lieber entspannt auf dem Zeltplatz mit einem letzten Bier. Kann man ein DJ-Team 2010 eigentlich noch „Remmidemmi“ nennen? Und während der Bass monoton zu uns hinüber weht, ziehen wir unser Fazit vom elften Immergut Festival und kommen zu dem Schluss, dass wir wohl auch nächstes Jahr wieder da sind, selbst wenn uns die Umstände mit jedem Jahr mehr davon abhalten wollen. Deal? Deal!


[Text: Sebastian Gloser, Fotos: Gesine Schuer]




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