Nan Goldin in Berlin: Operation am offenen Herzen
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Nan Goldins Ausstellung „This Will Not End Well“ in Berlin ist fabelhaft und auch für Nürnberg relevant,
findet Marian Wild.
Die Ausstellung begann mit einem Skandal: Die jüdische New Yorker Fotografin, eine der wichtigsten Kunstschaffenden unserer Zeit, breitete in ihrer zehnminütigen Eröffnungsrede zur Vernissage am 22. November dezidiert ihre Haltung zum Israel-Gaza-Konflikt aus, in einer Weise, die kontrovers genug war, dass der Berliner Kultursenator Joe Chialo sich genötigt sah, auf das Existenzrecht Israels hinzuweisen. Diesen Punkt behandelt eure curt-Kulturredaktion ausführlich im kommenden Heft, diesmal soll es um die hervorragende Ausstellung im Erdgeschoss der Neuen Nationalgalerie gehen:
Sechs Pavillons verschiedener Größe und Form wurden in dem rundum verglasten Stahlfachwerkbau von Ludwig Mies van der Rohe errichtet. In jedem wird einer von Goldins Filmen zu ihren verschiedenen Lebensthemen in Endlosschleife gezeigt. Die Filme sind zwischen 15 und 45 Minuten lang, bis auf den teilanimierten Bewegtfilm „Sirens“ sind es mit Musik unterlegte Foto-Slideshows. Alle Filme werden seit Jahrzehnten kontinuierlich von der Künstlerin ergänzt, verändert und neu geschnitten, weswegen die gezeigten Sequenzen eine neue Version sind, die in der Wanderausstellung erstmals in dieser Form zu sehen sind. Die Retrospektive, die schon in Stockholm und Amsterdam zu sehen war, verweist damit auf Goldins künstlerische Wurzeln im Filmemachen. Die Themen Sexualität, AIDS, Drogen, Mental Health, Queerness und Feminismus finden sich als virtuelle Überschriften zu den gezeigten Filmen, die nicht nur wertvolle Zeitdokumente, sondern immer auch ein aktivistischer Akt für Sichtbarkeit waren. Was Goldin schon ab den 1970er-Jahren künstlerisch in den Fokus nahm, war auch in Nürnberg früh von Bedeutung. Mit einer progressiven AIDS- oder Drogenhilfe und frühen Diskursräumen zu queeren Fragen, wie etwa im damaligen KOMM, war die mittelfränkische Stadt an der Pegnitz in den 1980er-Jahren Teil der deutschen Avantgarde, was einige soziale Fragestellungen betrifft.
Goldins Themen finden hier ein erstaunliches zeitgleiches Äquivalent. In der Form der Umsetzung hätte die Fotografin aber womöglich Unverständnis geerntet: Kompromisslos begleitet sie ihr Umfeld bei allen Aktivitäten mit der Kamera, ob beim Duschen, auf der Toilette oder beim Sex – dass die Fotos für die Öffentlichkeit freigegeben wurden, beweist auch das bemerkenswerte Vertrauen der Abgebildeten in sie. Viele der Fotografien sind in den Slideshows in Berlin zu sehen, ihre Intimität und Authentizität haben sie über die Jahrzehnte nicht verloren. Seit einigen Jahren hat sich die Künstlerin von der Portraitfotographie abgewandt.
Die Retrospektive mag den fulminanten Abschluss einer bemerkenswerten Karriere darstellen. Sonderlich optimistisch klingt der Titel „This Will Not End Well“ dafür allerdings nicht, eher nach einer bösen Vorahnung. Ein Gedanke, der beim Blick auf manche soziopolitischen Tendenzen der Gegenwart nicht ganz fern liegt: So ist der Unheil wähnende Titel auch ein dringender Appell, die Sichtbarkeit von Lebensrealitäten zu verteidigen.
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NAN GOLDIN – THIS WILL NOT END WELL
Bis 6. April in der NEUE NATIONALGALERIE, Potsdamer Str. 50, Berlin
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