Filmhaus: Tschechslowakische Vergangenheit, Lateinamerikanische Gegenwart
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Von Nürnberg nach Prag sind es gerade mal 290 Kilometer, damit ist uns diese Hauptstadt und Kulturmetropole geografisch näher als Berlin oder Wien, aber kulturell bei uns seltsam unterrepräsentiert (von der nicht nachvollziehbaren schlechten Bahnanbindung wollen wir gar nicht erst anfangen). Ein bisschen ist das auch im Kino so, dabei kam in den 1960er Jahren aus Prag und insbesondere von der dortigen Filmhochschule FAMU eine der spannendsten filmischen Erneuerungsbewegungen. Statt Nouvelle Vague hieß sie Nová Vlna und von allen Neuen Filmwellen, die damals die Welt erfassten, war die tschechoslowakische eine der fruchtbarsten, faszinierendsten und radikalsten. Beflügelt von einer allgemeinen politischen Liberalisierungstendenz in der damaligen CSSR revolutionierte eine junge Generation unerschrockener Regisseur:innen – darunter Vera Chytilová, Jan Nemec, Jaromil Jireš, Ivan Passer, Evald Schorm, Pavel Jurádek sowie die späteren Oscar-Preisträger Miloš Forman, Jirí Menzel und Ján Kadár – ihre Kinematografie und setzte dem staatstragenden „Sozialistischen Realismus“ ein Kino der persönlichen Erfahrung, Aufrichtigkeit und formalen Erneuerung entgegen. Sie riskierten Zensur, hinterfragten herrschende Moralvorstellungen und stellten Autoritäten in Frage.
Dank einer eruptiven Kreativität, die sowohl gesellschaftlich als auch filmhistorisch folgenreich war, brach sich Mitte der 1960er Jahre das tschechoslowakische Filmwunder Bahn und erregte auch internationale Aufmerksamkeit. Auszeichnungen bei renommierten Filmfes-tivals wie Cannes, Venedig und Locarno häuften sich. Neben einem anderen Blick auf den Alltag finden sich in den Filmen der Nová Vilna immer wieder Anknüpfungspunkte und Übergänge zu Stilformen, die vom Spiel mit den filmischen Möglichkeiten, einem feinen Gespür für das Tragikomische und einem Sinn für eine lyrische Filmsprache geprägt sind. Darüber hinaus ließen sich die Filmemacher:innen von der Moderne des internationalen Autorenfilms inspirieren und bezogen sich auch auf die Avantgarde-Traditionen ihres Landes, wie etwa den Poetismus, der sich um einen abenteuerlichen Blick auf das Alltägliche bemühte und in den 1930er Jahren als tschechischer Vorläufer des Surrealismus galt. Franz Kafka, der erst 1963 in der Tschechoslowakei rehabilitiert wurde, und die Stücke des absurden Theaters dienten ebenso als Inspirationsquelle. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR am 21. August 1968 bereitete dem Experiment des Prager Reformkommunismus und damit auch der Blütezeit des tschechoslowakischen Films ein jähes Ende. Geblieben sind filmische Werke, die weit über die Grenzen des Landes hinaus einen Einfluss ausübten. Das Filmhaus Nürnberg freut sich, seit Anfang Januar insgesamt 25 Filmperlen der Nová Vlna zu präsentieren. Die Reihe ist noch bis zum 7. März zu sehen.
Geographisch noch viel weiter sind Süd- und Mittelamerika von uns entfernt, aber das Filmhaus Nürnberg macht es sich bereits zum 37. Mal zur Aufgabe, das aktuelle lateinamerikanische Kino bei den Lateinamerikafilmtagen zu präsentieren.
Filmische Vielfalt wird bei "LAFI" groß geschrieben: Der Eröffnungsfilm IGUALADA ist eine Langzeitdokumentation über Francia Márquez – eine „Igualada“ –, die bei den kolumbianischen Präsidentschaftswahlen 2022 unerwartet Vizepräsidentin wurde. REINAS – DIE KÖNIGINNEN hingegen ist die Coming-of-Age-Geschichte zweier Schwestern in Lima, die 1992 vor dem Hintergrund sozialer und politischer Unruhen gemeinsam mit ihrer Mutter die Ausreise von Peru in die USA vorbereiten. PUAN von María Alchés und Benjamín Naishtat beginnt als pointensichere Campus-Komödie und weitet sich über den absurden Universitätsalltag zu einer Bestandsaufnahme der argentinischen Gesellschaft aus. Gemeinsam mit Pepe Orozco ist Regisseur Uli Stelzner mit seinem neuesten Film EL CINE ES UN VIAJE vertreten, der das Team eines Menschenrechtsfilmfestivals in Guatemala begleitet, das in entlegene Dörfer fährt, um Filme zu zeigen. Die Zuschauer:innen sind größtenteils indigener Herkunft, die erstmals ihr Spiegelbild durch bisher ungesehene Filmaufnahmen ihres Landes sehen.
Die kaleidoskopartige Dokufiktion MEMORIAS DE UN CUERPO QUE ARDE der costaricanischen Regisseurin Antonella Sudasassi verarbeitet mit beeindruckender Sensibilität die kollektiven Erfahrungen einer Generation von Frauen mit Liebe und Sexualität. In seinem vielschichtigen Dokumentarfilm LANDRIÁN nähert sich der Regisseur Ernesto Daranas dem Werk und Leben des ersten afrokubanischen Filmemachers Nicolás Guillén Landrián und hebt damit einen einzigartigen Schatz. Daran anknüpfend zeigt das Kurzfilmprogramm LANDRIÁNSHORTS Landriáns Filme aus den Jahren 1963 bis 1971.
Auf berührende Weise erzählt der brasilianische Regisseur Walter Salles in AINDA ESTOU AQUI die wahre Geschichte der Familie Pavia, bei der er als Kind ein- und ausging. Eine Liebeserklärung an das demokratische Brasilien. Während das sprechende Nilpferd PEPE in dem auf der Berlinale preisgekrönten Essayfilm von seiner Reise von Afrika nach Südamerika erzählt und damit auf den transatlantischen Sklavenhandel anspielt, landet Pepe im Zoo des Drogenbarons Pablo Escobar, bevor er in Freiheit durch die Gewässer Südamerikas gleitet. Vor der atemberaubenden Kulisse des peruanischen Andenhochlands erzählt schließlich der Debütfilm RAÍZ die Geschichte des achtjährigen Feliciano, der im Jahr 2017 nur die WM-Qualifikationsspiele im Kopf hat. Doch das friedliche Leben in seinem Dorf ist bedroht und so entspinnt sich ein bezaubernder Film über die Zerstörung der Natur, Freundschaft und Zusammenhalt.
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Filmhaus Nürnberg
Schwerpunkt Nová Vlna und Lateinamerikafilmtage
im Künstlerhaus, Nbg. Infos & Termine: www.filmhaus-nuernberg.de
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