Gelände im Aufbruch #5: NEUES ERINNERN UND DAS LEBENDIGHALTEN DER ZEITZEUGENSCHAFT

DIENSTAG, 4. FEBRUAR 2025

##Dr. Marian Wild, ##Gelände im Aufbruch, ##Hajo Wagner, ##Interview, ##Kongresshalle, ##Reichsparteitagsgelände

Doppelinterview mit Alexandra Klobouk & Hans-Joachim Wagner       
von Marian Wild

Im letzten Teil unserer Interviewreihe geht es noch einmal um die Frage, wie man die Zeit, die vor rund 80 Jahren mit einem verheerenden Weltkrieg endete, im Heute zugänglich halten kann. Im zugehörigen Review aus dem Dezember-curt ging es um Otto Ernst Krakenberger und seine Mitwirkung an Graphic Novel und interaktivem Chatbot (siehe QR-Code). Im folgenden Doppelinterview habe ich Alexandra Klobouk, Autorin und Illustratorin des Krakenberger-Buchs, sowie Hajo Wagner, Leiter der Stabsstelle Ehemaliges Reichsparteitagsgelände, zu dem Thema befragt. 

Allen Lesenden und Mitwirkenden, und besonders dir, lieber Hajo, vielen Dank für das Interesse und die kollegiale gemeinsame Arbeit, Licht in die komplexe Situation zu bringen, in der wir uns aktuell mit diesen Themen bewegen! Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft in vielen Bereichen unseres Lebens neue Wege beschreiten müssen, das geht aber nach meiner festen Überzeugung nur, wenn wir die schon durchdachten Gedanken auf diesem Pfad, transparent für alle, mitzunehmen gestatten.
Love, Marian

MARIAN WILD: Lieber Hajo, liebe Alexandra, was ist aus eurer Sicht die aktuell gelungenste Graphic Novel zur NS-Zeit und was macht sie besonders?
HAJO WAGNER: Ganz klar, „Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“ von Art Spiegelman. Und dann das von Jean-Francois Drozak kuratierte Projekt der Familie Jesuran aus Nürnberg – deshalb, weil ich im Rahmen der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2025 an der Entstehung dieser Arbeit teilhaben konnte. Diese Graphic Novel hat Schülerinnen und Schüler und zahlreiche Menschen aus Nürnberg und natürlich Alain Jesuran zusammengebracht, um die Flucht- und Verfolgungsgeschichte der Familie aufzuarbeiten. Der Nürnberger Graphiker und Illustrator Alex Mages hat zum sprachlich schnörkellosen Text eine sehr präzise, raue und an keiner Stelle idealisierende visuelle Sprache entwickelt. Der Comic ist hart und direkt – ich mag diese realistische Haltung sehr.
ALEXANDRA KLOBOUK: Das ist leicht, es ist Barbara Yelins Buch „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“. Die Geschichte ist packend und spannend, gleichzeitig herzlich und frisch erzählt. Beim Storytelling hat Doris Dörrie als Beraterin mitgewirkt. Die kleine Emmie Arbel kommt als Vierjährige ins KZ, man begleitet sie durch die Befreiung und ihr Leben danach. Ihre körperliche Widerständigkeit hat mich berührt, und zu sehen, dass Teile ihrer Seele danach zerstört waren. Dadurch, dass ich selber Kinder habe, fehlt mir persönlich ein Abstraktionsschutz, es könnten auch meine eigenen sein. So ging es mir beim Entwickeln der Geschichte auch mit Erni, also dem kleinen Ernst Otto Krakenberger.

MARIAN: Liebe Alexandra, du hast die Lebensgeschichte von Ernst Otto Krakenberger über einen längeren Zeitraum verfasst und illustriert. Auf welche Momente hast du dich beim Schreiben fokussiert und welche Details sind dir in diesen Bildern besonders wichtig? Illustriert man in diesem Themengebiet anders als bei anderen Themen? 
ALEXANDRA: Erstmal war es ein einzigartiges Projekt. Sowohl was die
Verantwortung gegenüber der Geschichte angeht, als auch, was den
enormen Aufwand betrifft. Es ist ein Glücksfall und eine Ehre, so ein
Projekt mit Herrn Krakenberger zusammen umsetzen zu können. 
Das Buch ist ja für ältere Kinder gedacht, insbesondere für einen pädagogischen Kontext. Die korrekte Wiedergabe der Ereignisse ist
natürlich sehr wichtig, gleichzeitig kann man nicht alle Details vollständig rekonstruieren und muss teils fiktionalisieren, damit es als
Geschichte funktioniert, was mich Anfangs große Überwindung kostete. Illustrationen und nachkolorierte Originalfotos wechseln sich ab, es gibt einen riesigen Fundus mit Fotos von Erni und Familie während der gesamten NS-Zeit. Das war ein großer Schatz für das Buch. Ich habe auch Abbildungen von Originaldokumenten integriert, um dem Thema und unserem Wahrheitsanspruch gerecht zu werden.

MARIAN: Liebe Alexandra, lieber Hajo, dass man Graphic Novels als historische Fachliteratur ernst nimmt, ist noch gar nicht so lange selbstverständlich. Was kann aus eurer Sicht ein Comic vermitteln, was die „klassischen“ Medien wie Sachbücher, Filme oder Audioaufnahmen nicht leisten können?
ALEXANDRA: Mein Buch ist ein Kinderbuch mit gleichem Bild- und Textanteil, keine Graphic Novel, Aber Ich denke Bilder erreichen grundsätzlich eine andere Stelle unseres Bewusstseins als Text. Wir verknüpfen sie anders, schaffen andere Parallelen, und gewinnen eine
andere Nähe. Eine Graphic Novel oder ein illustriertes Buch liefern Informationen in einer anderen oder einer weiteren Qualität. Text und Bild ergänzen sich, vieles kann gezeigt, muss nicht beschrieben werden. Kinder und Jugendliche fühlen sich bei Comics weniger im Schulmodus. Es ist ein oft cineastisches, ein szenisches Erzählen. Und ein weit entfernt scheinendes Ereignis mit vergilbten Dokumenten kann sich ganz gegenwärtig anfühlen. Man begreift intuitiver, dass die Dokumente für Menschenleben stehen.
HAJO: Spätestens seit „Maus“ wird die Bedeutung von Graphic Novels in der Erzählung des Holocaust heftig diskutiert – auch kontrovers ... bis hin zu Verboten wie jüngst in den USA. Der ungeheure Vorzug der Graphic Novel ist die plastische Direktheit visueller Vergegenwärtigung. Zugleich stehen ihr Mittel des Humors, der ironischen Zuspitzung, der Satire zur Verfügung, die andere Medien ausklammern (müssen) oder deren Einsatz sehr leicht zu einer Missinterpretation führen kann. Allerdings würde ich den Begriff der Fachliteratur nicht verwenden, denn die Graphic Novel ist eine fiktionale literarische Gattung, und genau darin liegt ihr immenses Potential gegenüber „klassischen“ Texten der Erinnerungsarbeit. Schließlich spricht die Gattung des Comics auch Menschen an, die mit Fachliteratur oder Dokus wenig bis gar nichts anfangen können, vor allem dann, wenn durchweg mit dem „moralischen Zeigefinger“ gearbeitet wird – wie noch zuletzt in dem vielgepriesenen Film „The Zone of Interest“, der mich mit seiner merkwürdig kühl-ästhetisierenden Bildsprache eher irritiert hat.

MARIAN: Lieber Hajo, das Projekt zu Krakenberger geht noch einen Schritt weiter, es entsteht ein interaktiver Chatbot des jüdischen Zeitzeugen, der sich der aufgezeichneten Originalerinnerungen bedient. Ist das eine rundum positive Zukunft der Geschichtsvermittlung, oder siehst du auch Untiefen?
HAJO: Mit dem Ende der Zeitzeugenschaft gewinnen neue, experimentelle Formen des Erinnerns eine immer größere Bedeutung. Die Speicherung von Wissen und Erfahrungen über gedruckte oder akustische Medien hinaus ist wichtig, da die Speicherung zugleich auch eine sehr viel größere Distribution garantiert – man kann Informationen überall zugänglich machen. Die besondere Qualität, das, was durch keine KI ersetzt werden kann, ist allerdings die Authentizität der Person, die von ihren Erfahrungen berichtet. Das Subjektive des Erlebens lässt sich nicht reproduzieren. Vielleicht ist es deshalb wünschenswert, über den interaktiven Chatbot hinaus noch einen Schritt weiter zu gehen: hinein ins Hologramm. Yad Vashem hat 2013 – wenn ich es richtig erinnere – ein Forschungsprojekt unter dem Titel „New Dimensions in Testimony“ ins Leben gerufen, bei dem das 3D-Hologramm des Holocaust-Überlebenden Pinchas Gutter entwickelt wurde. Es ist eine sehr berührende Vorstellung, dass ein Mensch mit seinen ganz individuellen Erfahrungen, die zugleich universelle Geltung besitzen, gleichsam unsterblich wird. Kaum lässt sich unsere Verpflichtung in der historisch-politischen Bildungsarbeit präziser vergegenwärtigen.
Wir sollten an dieser Stelle den Blick allerdings ein wenig weiten, denn neben der Graphic Novel tut sich im Bereich der „Serious Games“ aktuell sehr viel. Auch das ist eine neue Dimension in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust. Während hier in der Vergangenheit vor allem die Shooter-Games dominierten, hat etwa Luc Bernards in „The Light in the Darkness“ das Schicksal einer jüdischen Familie, die in Auschwitz ums Lebens kommt, zum Inhalt eines Computerspiels gemacht. Spiele zum Widerstand während des Nationalsozialismus entstanden ebenso wie Spiele zu dessen juristischer Aufarbeitung. Das ist eine sehr bedenkenswerte Form der erinnerungskulturellen Arbeit, die ich sehr faszinierend finde.

MARIAN: Liebe Alexandra, das Buch wird im Mai vorgestellt werden, es war ein umfangreiches, interdisziplinäres Unterfangen. Was ist dir bei dem Projekt am intensivsten in Erinnerung geblieben und wohin geht die Reise jetzt mit dem nächsten Projekt? 
ALEXANDRA: Erstmal hoffe ich dieses Buch, das aktuell als E-Book im
Rahmen des Chatbot Projekts angelegt ist, weiterzuentwickeln und als
gedrucktes Buch zu veröffentlichen. Ich möchte die Geschichte von Ernis Rettung mit einer Rahmenhandlung verbinden, die im Jetzt spielt: hier treffen Kinder auf Maja, die damals half Erni zu verstecken. Die Kinder lernen Ernis Geschichte kennen und entdecken Parallelen zur heutigen Gesellschaft und in ihren eigenen (u.a. migrantisierten) Biografien. Es soll ein Buch sein, das zum Diskurs einlädt und immer wieder fragt: Was hat das mit uns zu tun? Ich glaube wir brauchen den Diskurs ohne moralischen Zeigefinger, denn die Fragen nach Diskriminierung, Empathie, Menschlichkeit sind dieselben wie vor 80 Jahren.Übrigens suche ich noch nach einem Verlag …

MARIAN: Lieber Hajo, wird eine Art der interaktiven Erinnerungsarbeit auch ein Baustein bei der Neuaufstellung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes sein? Darf man darüber schon sprechen?
HAJO: Oft wird das Interaktive als die Methode der ersten Wahl begriffen und für die museale Bildungs- und Aufklärungsarbeit als unverzichtbar angesehen. Haben wir das Vertrauen in die rezipierende Aneignung von Wissen durch Lesen und Hören verloren? Verzeih‘ mir diese rhetorische Frage, manchmal bin ich dann doch ein klassisch ausgebildeter Professor... Aktivierung, aktivierende Aneignung und aktivierender Nachvollzug ist das Gebot der Stunde. Die neue Dauerausstellung, die aktuell von den Kolleginnen und Kollegen des Dokumentationszentrum Reichsparteitage entwickelt wird, stellt verschiedene Ebenen der Interaktivität ins Zentrum – angefangen bei der Auffächerung der Vermittlungsinhalte bis hin zu einer digitalen Pinwand. Ein breites Spektrum wird geboten, aber detaillierter will ich nicht darüber sprechen, das wird in Kürze Aufgabe des Doku-Zentrums sein. Nur so viel: Es wird einiges zu entdecken geben! Bei der Entwicklung des Lern- und Begegnungsortes Zeppelinfeld und Zeppelintribüne sieht die Situation ein wenig anders aus. Hier beschränken wir uns weitgehend auf klassische Tools mit Text- und Audiostationen. An der Konzeption der musealen Ausgestaltung von Rednertribüne, Zeppelinfeld und Wallanlage arbeiten wir noch. Inwieweit hier interaktive Elemente zum Tragen kommen und in welchem Umfang, kann ich heute noch nicht abschließend sagen, aber die im Rahmen des partizipativen Prozesses im vergangenen Jahr erörterten Aspekte werden Eingang finden. Der gerade laufende Wettbewerb Kunst am Bau / Kunst im öffentlichen Raum für das Zeppelinareal könnte hinsichtlich interaktiver Erinnerungsarbeit ein Augenöffner sein. Aber auch da bitte ich noch um etwas Geduld.

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Alexandra Klobouk 
ist Künstlerin, Autorin und Kultur- und Content-Illustratorin, die in
Berlin lebt und aus Regensburg kommt. In ihrer Arbeit kombiniert sie
visuelles Geschichtenerzählen, Journalismus, interkulturelle
Kommunikation, Reiseskizzen, und verschiedene andere Disziplinen.
Ihre Bücher wurden unter die schönsten deutschen Bücher gewählt.

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Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner 
ist studierter Musikwissenschaftler, Philologe und Kunsthistoriker. Nach Tätigkeiten an den Opernhäusern in Koblenz und Köln war er Musikreferent im Kulturamt der Stadt Köln und bis 2017 Fachbereichsleiter für Musik, Theater und Tanz bei der Kunststiftung NRW.
Wagner leitete in Nürnberg von Januar 2018 bis August 2021 das Büro für die Kulturhauptstadtbewerbung 2025. 
Seit dem 01.08.2021 hat er die Leitung der Stabsstelle Ehemaliges Reichsparteitagsgelände inne.




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