Leichenschmaus-Premiere am Gostner: Abstecher in die Familien-Fallgrube
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CURT-Redakteur Andreas Thamm hat die Vorlage für sein erstes Theaterstück geschrieben: eine gallige Abrechnung mit Familien-Ritualen. Die Uraufführung von „Leichenschmaus 12.30 Uhr“ wurde im Gostner Hoftheater gefeiert
von Andreas Radlmaier
Dieses Stück kommt zur rechten Zeit. Nicht, weil es Verweis auf das baldige Jubiläum des ähnlich gelagerten Bühnenklassikers „Schweig, Bub!“ von Fitzgerald Kusz nebenan im Schauspielhaus wäre (50 Jahre!). Sondern weil es in einem Augenblick seine Uraufführung feiert, in der ein Teil der biedermeierenden Gesellschaft angesichts des gemeinsam angerichteten, globalen Schlamassels den Rückzug in die Familienbande als Lebensprinzip feiert. Da setzt die Erzählung „Leichenschmaus 12.30“ von Andreas Thamm an. Im Gostner Hoftheater ist in der Regie von Richard Henschel, der zuletzt im „Wilhelm Tell“ als Schauspieler auf der Gostner-Bühne stand, die adaptierte Bühnenfassung als 70minütiger Abstecher in die wohlvertraute Familienfallgrube zu erleben. Der Unterhaltungswert steckt im Grauen verwandtschaftlicher Fassadenkletterei.
Also keine Konfirmation, kein Dialekt wie bei Kusz. Sondern eine Beerdigung mit Berlin-Provinz-Gefälle, ewig gestrigem Nazi-Onkel und queerem Störfeuer im Hillbilly-Gehege. Der Tod von Onkel Walther ist Anlass für Ich-Erzähler Daniel, mit dem Bahn-Sprinter aus der Hauptstadt in die enge Heimat zu reisen, wo unter den Teppich gekehrte Verwerfungen, Verletzungen und Vorurteile wuchern. Da werden am Rande des Rituals dann alte Rechnungen beglichen, neue Ressentiments zementiert und Beschwichtigungen gestreut.
Das barfüßige und auch sonst bemerkenswerte entspannte Schauspieler-Duo Philine Bührer und Helwig Arenz erscheint im Partnerlook: das geschlechtsübergreifende Doppel-Ego des Erzählers wird zum Pingpong-Prinzip. Mit reichlich Lust am Lied. „Halt dich an deiner Liebe fest“ singen die beiden gleich zu Beginn im Geiste von Ikonen-Jubilar Rio Reiser und machen damit von vorneherein unter der rotierenden Discokugel klar: Purer Zynismus ist auch keine Lösung. Aber welche Überlebensstrategie plant man dann im Wiederhören der Erwartbarkeiten? Bis der gedoppelte Daniel am Ende aus dem offenen Maul der Hirsch-Trophäe – schließlich findet die Leichenfeier im Rustikal-Ambiente des Gasthof „Hirschen“ statt – die Leuchtschnur der Selbsterkenntnis zieht und den „polnischen Abgang“ wählt („wir müssen raus!“), läuft das Familientreffen mit reichlich Wiedererkennungsmustern ab.
Am Grab denkt der Provinz-Flüchtling, der im Berliner Alltag mit etwas Koks seine Laune als leidlich erfolgloser Schauspieler aufbessert, über die Möglichkeit nach, zehn Punkte zu erhalten, wenn man den Sarg mit der Erde „schön mittig trifft“, in der Wirtschaft gibt’s dann Dorade „für die Vegetarier“, eine gedankenlose Wat’schn für Habeck vom blöden Onkel und fachliche Erklärungen für Bisexualität: „Das ist jetzt das, wo man sich nicht entscheiden will.“ Gestanzte Weltbilder treffen auf selbstgewählten Gruppenzwang und Floskelunterhaltung. Schmerz und Scherz liegen bei der Vorlage von Andreas Thamm, dessen Schreibtalent mehrfach ausgezeichnet wurde, eng beieinander.
Richard Henschel formte im Gruppenprozess aus den komischen bis schauerlichen Beobachtungen Erzähltheater, das von der Beobachterrolle immer wieder in den Dialog springt, um die Skurriltäten und Gemeinheiten, Lakonie und Small Talk-Langeweile zu pointieren. Fünf Stühle, eine Tapetenwand samt Hirschgeweih und grüner Rasenteppich genügen, um die Allmacht der Gewohnheiten zu umreißen. Erschöpfend ist „Leichenschmaus 12.30“ nicht, lachhaft und ernüchternd schon. Wie Familienfeste eben so sind. Das junge Premierenpublikum fühlte sich offensichtlich wie zuhause und applaudierte heftig.
Weitere Termine bis 14. Februar. Infos unter www.gostner.de
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