Straßenkreuzer Doppelinterview: Wir können uns nicht vom realen Leben lösen
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Die Kapitänin ist von Bord gegangen: Ilse Weiß sieht entspannt aus und lobt die Vorzüge der freien Freizeitgestaltung im Ruhestand. Ihre Nachfolgerin steckt mitten drin im Tagesgeschäft der Magazinmacherin: Alisa Müller heißt die neue Straßenkreuzer-Chefredakteurin. Wir haben mit beiden über die besonderen Herausforderungen dieser einzigartigen Position gesprochen.
CURT: Wie geht‘s euch beiden?
ILSE: Mir gehts gut, aber ich merke schon, dass es nach dieser langen intensiven Arbeitszeit eine Herausforderung ist, sich selbst wieder anders zu entdecken, sich erlauben zu dürfen, andere Dinge zu machen. Es ist seltsam, aber toll. Ich bleibe aber aktiv, ich unterstütze ehrenamtlich meine Freundin Trudi Götz bei der Stiftung Sozialidee, dort mache ich auch einen Nähkurs. Gestern war ich endlich mal im Chor …
Und schreibst du noch?
ILSE: Nein! Wobei doch, Ende Januar mache ich bei den Selbsthilfegruppen Kiss ehrenamtlich eine Schreibwerkstatt.
Alisa, wie ist es bei dir?
ALISA: Mir geht‘s auch gut, aber es ist genau umgekehrt. Ich gewöhne mich an diese Herausforderung, daran, dass es enorm anstrengend sein kann, manchmal. Das Gute ist, es macht immer Spaß. Wir sind drei fest angestellte Journalist:innen, auf eine gewisse Art kann man auch die intensive Zeit der Deadline genießen, wenn man weiß, sie geht wieder vorbei. Und es gehen Dinge mit meiner Aufgabe einher, über die ich immer noch staune. Ich habe z.B. so viel gebügelt wie seit Jahren nicht mehr, weil ich auf einmal vom Fernsehen eingeladen werde. Ich bin viel öffentlicher und damit habe ich nicht gerechnet. Für die Sache mache ich das gerne. Nicht, um mich selbst in den Vordergrund zu spielen.
Ist es ein großer Unterschied für dich, jetzt Chefin zu sein, Alisa?
ALISA: Der Übergang war sehr fließend. Wir hatten eine Phase, in der wir Hefte abwechselnd gemacht haben, das war eine sehr gute Zeit auf der Arbeit. Ab Juli stand ich als Chefredakteurin im Impressum, bis dahin wurde es immer mehr. Was ich jetzt merke ist, dass ich vieles bisher noch nicht gemacht habe und immer noch lernen muss. Das ganze Heft im Überblick zu haben und die Seiten hin und her zu schieben, das hat Ilse fünf Mal so schnell gemacht wie ich. Ich musste in den letzten Wochen noch sehr viel lernen.
ILSE: Ich genieße die Bedeutungslosigkeit. Es passiert nur noch ganz selten, dass Leute sagen, „Sie sind doch die Frau Weiß vom Straßenkreuzer“.
Glaubst du, es wird dir fehlen?
ILSE: Ne, ich habe ja auch nie danach gestrebt. Ich sehe im Rückblick, wie viel irre Energie ich reingesteckt habe, unfassbar viele Wochenenden, immer mehr als nur das Magazin, die ganzen Projekte mit aufzubauen, immer erreichbar sein, jeder hat meine Handynummer. Das ist dann – Plopp! – weg, aber ich brauche keine Entwöhnung, das ist ja keine Sucht.
Wie bist du zum Straßenkreuzer gekommen, Alisa?
ALISA: Ich habe 2018 in slawischer Sprachwissenschaft promoviert und ein Stipendium bekommen. Dadurch war zum ersten Mal mein Lebensunterhalt gesichert und ich dachte, ich kann meine freie Zeit doch sinnvoll verbringen. Also habe ich eine schüchterne E-Mail an Ilse geschrieben, ob ich vielleicht mal korrekturlesen könnte oder so. Und sie hat geantwortet: Komm doch mal vorbei. Aus diesem Treffen bin ich mit der nächsten Titelgeschichte raus, wo Ilse auch gesagt hat, das hat sie vorher und nachher nie gemacht. Seitdem war ich freie Autorin. Die Zeit, die ich an der Dissertation gearbeitet habe, wurde gegen Ende immer weniger und der Straßenkreuzer immer mehr. Im Februar 2022 wurde ich dann angestellt.
Ab wann war für dich, Ilse, klar, Alisa könnte deine Nachfolgerin werden?
ILSE: Ab wann genau, weiß ich nicht. Es ist richtig, dass ich beim ersten Gespräch sofort sicher war, dass sie das kann, diese Titelgeschichte. Ich kann das nicht erklären. Dann war es natürlich noch offen, ob sie an der Uni bleibt oder was sie macht. Ich habe sie unterstützt und wollte sie gut begleiten. Alisa hatte immer einen Anspruch an sich. Spätestens als sie regelmäßiger mitgearbeitet hat, habe ich angefangen, nachzufragen, wie ihre Pläne aussehen. Der Gedanke war schon 2021 da, dass sie die Richtige wäre. Es ist bei so einem Magazin wichtig, was für ein Menschenbild du hast, wie frei und auch kritisch du auf Menschen zugehst, das muss alles passen. Und das Journalistische.
Ist es dir dann schwergefallen, zuzusagen?
ALISA: Das war auch ein Prozess. Ich bin sicher später draufgekommen als Ilse, aber ich konnte es mir mit der Zeit immer besser vorstellen. Es ist immer meine Entscheidung geblieben und es war keine Bedingung für meine Anstellung. Vor allem musste ich mich selbst davon überzeugen, dass ich das ausfüllen könnte.
Wie geht es dem Straßenkreuzer heute? Corona war nicht ganz leicht, das haben wir jetzt hinter uns. Wie steht ihr da?
ALISA: Corona war nicht leicht für den Heftverkauf. Zum ersten Mal haben wir zwei Ausgaben zusammengelegt, weil so wenig los war. Auf der anderen Seite hat Corona eine große Spendenbereitschaft ausgelöst. Viele Menschen haben verstanden, es ist keine gute Idee, Menschen den Aufenthalt auf der Straße zu verbieten, wenn es Menschen gibt, die auf der Straße leben.
ILSE: Wir haben neun Monate lang jedem Verkäufer 100 Euro im Monat gezahlt. Weil die keine Chance hatten etwas zu verdienen. Das war nur durch Spenden finanzierbar und diese Resonanz in der Öffentlichkeit zu spüren, das war unfassbar toll. Insofern war die Zeit vom Verkauf her entsetzlich, aber finanziell kein Einbruch. Und es war ermutigend, sagen zu können, es muss weitergehen, denn dieses Magazin wird wahrgenommen.
ALISA: Mittlerweile sind es eher die Inflation und die Unsicherheit durch multiple Krisen, die Einfluss auf unseren Heftverkauf haben. Die Menschen sind geneigt, sich solche Ausgaben zu sparen. Die Auflage ist aber seit zwei Jahren stabil, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau als vor Corona. Das geht aber allen Printprodukten so.
Ihr merkt, dass die Stadt weniger frequentiert ist.
ILSE: Es ist unfassbar traurig. Und es ist eine große Herausforderung für die Stadtgesellschaft: Was machen wir eigentlich mit Leerständen? Wir können ganz sicher nicht weiter auf diese Konsumtempel setzen. Das sind ganz wichtige Fragen und die betreffen sicher auch Straßenzeitungen. Wo sind die Plätze, wo Frauen und Männer, die den Straßenkreuzer verkaufen müssen, gut stehen und ihr Gesicht zeigen können?
ALISA: Der Gegenpol ist die Digitalisierung. Mit der müssen sich alle Medien auseinandersetzen, aber Straßenzeitungen mit anderen Voraussetzungen. Wir können uns nicht vom realen Leben lösen.
Wie geht es den Menschen, die für euch verkaufen? Und hat sich die soziale Situation in Nürnberg verbessert, verschlechtert, …?
ILSE: Was das Thema Wahrnehmung angeht, hat Nürnberg über Jahre eine gute und offene Politik gefahren. Das ist auch durch den Politikwechsel unverändert. Während Corona gab es nicht, wie in anderen Städten, Strafzettel für Obdachlose in der Öffentlichkeit, es gab die Möglichkeit, unterzukommen und es gab gut geschulte Polizei. Der Straßenkreuzer soll ein Magazin sein, das man gerne liest, aber er soll auch ein Stachel sein und ich gehe davon aus, dass er durch diese Arbeit dazu beigetragen hat, dass soziale Themen auf Augenhöhe verhandelt werden. Insgesamt fühlen sich trotzdem viele Menschen benachteiligt. Soziale Politik wird seit Jahren nicht konsequent und nachvollziehbar kommuniziert. Straßenzeitungen haben auch den Auftrag, zu erklären und zu vermitteln.
Ist Wohnungslosigkeit in Nürnberg ein größer werdendes Problem?
ALISA: Es soll niemanden entlasten, aber im Vergleich zu anderen Großstädten steht Nürnberg ganz gut da. Trotzdem gibt es in Nürnberg Menschen, die auf der Straße schlafen. Die Argumentation, es gibt doch Notunterkünfte, zählt für mich nicht, denn viele davon sind schlecht.
ILSE: Es sind etwa zweieinhalbtausend Menschen, die in Nürnberg als wohnungslos gelten. Diese Zahlen sind seit Jahren ziemlich stabil. Das ist für jeden einzelnen schlimm. Ich kenne aber auch viele Menschen, die eine Wohnung haben und aus ihren beengten Verhältnissen nicht rauskommen.
Was ist für euch der wichtigste Schlüssel, um Wohnungslosigkeit zu bekämpfen?
ILSE: Es wird immer Menschen geben, die ihre Wohnung gefährden und es sind auch nicht alle Menschen einfach. Natürlich wäre ein viel höherer Invest in Sozialpolitik ein Anfang. Und ich fände es gut, wenn die Kommune eine eigene Vorbildpension für Wohnungslose mit besseren Standards eröffnen würde.
ALISA: Die beste Antwort auf deine Frage ist gute Sozialpolitik, die viele Probleme vor dem Entstehen verhindern kann. Im Bereich der Prävention von Wohnungsverlust herrscht super viel Unwissen, viele Menschen rutschen in eine schwierige Situation und wissen nicht, dass und wo sie sich Hilfe suchen können. Die Menschen rutschen eher in eine Depression und machen ihre Briefe nicht mehr auf – und das hat viel mit gesellschaftlichem Stigma zu tun. Die Frage ist aber auch eine Steilvorlage, um über Housing First zu sprechen, das als Projekt jetzt mit drei Sozialpädagog:innen hier angesiedelt ist. Wir drehen das Problem mit der Wohnungslosigkeit um und wir können sagen: Es hilft. In zwei Jahren haben wir nur eine Wohnung wieder verloren, knapp 20 Mieter wohnen einfach.
Und das Wohnen führt dazu, dass die Menschen allgemein stabiler sind?
ILSE: Die meisten. Es gibt auch Menschen, für die dadurch erst der Raum entsteht, um sich über alle Probleme klar zu werden und da bricht dann etwas auf. Aber deswegen sind ja Profis da, die sich kümmern. Die meisten flutschen aber einfach rein, als wäre es gar nichts. Als wir angefangen haben, habe ich immer gesagt: Wohnen ist wie Fahrradfahren. Das verlernt man nicht. Bei den meisten Leuten bleibt diese Sehnsucht. Aber es gibt auch Leute, die steigen nie wieder auf ein Fahrrad, und andere vermasseln es. Mich beeindruckt, wie viele Vermieter:innen sagen: Das mache ich jetzt einfach mal. Es müssen noch mehr Wohnungen werden und es gibt jede Menge leerstehende. Und natürlich gibt es auch viele andere Leute, die Wohnungen suchen, es geht uns nicht darum, dass Housing First alle Wohnungen zuerst bekommen muss. Aber Obdachlosigkeit ist kein erlernter Beruf, sondern etwas, das einem geschieht. Diese Menschen sind keine Abfallmenschen, sondern so normal oder auch nicht normal wie alle anderen auch. Die Stadt Nürnberg unterstützt Housing First, auch das ist nicht in allen Kommunen so.
Wo steht Housing First jetzt, was habt ihr euch vorgenommen?
ALISA: Max Hopperdietzel, der Housing First hier mit aufgebaut hat, hat gesagt, das Projekt ist zum Wachsen verdammt. Je länger Menschen wohnen, desto weniger betreuungsintensiv werden sie in der Regel. Und dann werden Kapazitäten frei, um mehr Menschen zu betreuen und im Idealfall sind dann auch Wohnungen da. An den Menschen, die rein wollen, mangelt es nicht. Ich glaube aber, es wäre falsch, sich jetzt eine Anzahl an Wohnungen vorzunehmen.
Mich beeindruckt diese Menge an Projekten, die es neben dem Heft gibt. Welches ist gerade jetzt das wichtigste?
ILSE: Ich finde, auch das ist Housing First, weil es an das essentielle Thema Wohnen rührt. Ein Zuhause haben, die Schlüsselgewalt über sein Leben zu haben: dies Menschen abzusprechen, ist schwierig. Deswegen berührt das Projekt auch die Frage, wie wir würdevoller miteinander umgehen können. Danach kommt für mich sofort das Pfandprojekt am Flughafen. Der Straßenkreuzer hat es geschafft, dort zwei Leuten eine feste Stelle zu schaffen und damit auch Perspektiven und Ermutigung.
ALISA: Ich sehe bei der Arbeit meiner Kolleg:innen in jedem Projekt Menschen, die darauf angewiesen sind. Es gib auch Unihörer:innen, die sich nicht vorstellen könnten, einmal nicht mehr in die Straßenkreuzer-Uni zu gehen. Am meisten Einfluss hat aber sicher Housing First.
Wie geht es den Menschen, die draußen sind, wenn es jetzt kalt wird? Und was können die Menschen, denen es gut geht, tun?
ALISA: Grundsätzlich ist es nicht schön, draußen zu schlafen, wenn es kalt ist. Es gibt Notunterkünfte, manche davon sind in Ordnung. Was ich beim Straßenkreuzer gelernt habe: Menschen auf der Straße haben in der Weihnachtszeit genug zu essen, weil viele Leute auf die Idee kommen, Lebkuchen und Heißgetränke zu verschenken. Ich bin mittlerweile der Meinung: Geld schadet nie. Ilse hat ein Heft zum Thema Betteln gemacht, das mich in der Hinsicht sehr geprägt hat. Wenn du Geld gibst, ist es die Verantwortung der Menschen, zu entscheiden, was sie damit machen. Man muss allen Menschen zugestehen, Entscheidungen für sich treffen zu können. Ansonsten bin ich in der Versuchung zu sagen, wenn man in der Weihnachtszeit diesen Impuls hat, sollte man sich überlegen, ob es eine nachhaltige Strategie gibt, das im gesamten nächsten Jahr umzusetzen – mit regelmäßigen Spenden oder einem Ehrenamt. Ich kann aber voll einsehen, dass man speziell in dieser Familienzeit etwas zurückgeben möchte und es gibt genug Initiativen, auch für Obdachlose, die man unterstützen kann.
ILSE: Wir sollten die Mildtätigkeit ins ganze Jahr mitnehmen. Es ist niemanden geholfen, der einen Berg Essen oder nochmal einen Schlafsack geschenkt kriegt.
ALISA: Und bevor du ungefragt einen Schlafsack vorbeibringst, geh doch mal hin zu demjenigen, den du da siehst und frag nach, was er braucht.
ILSE: Sich zu trauen, jemanden anzusprechen, das wäre wirklich gut. Und auch der Straßenkreuzer baut ja diese Brücke.
Hab ich irgendwas vergessen?
ILSE: Ich wünsch dir so viel Erfolg, Alisa.
Dem schließen wir uns natürlich vollumfänglich an.
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Straßenkreuzer – Sozialmagazin für Nbg
Ilse Weiß hat Sozialwissenschaften an der FAU studiert, danach Ausbildung zur Redakteurin an der Deutschen Journalistenschule München. Zehn Jahre bei der Abendzeitung Nürnberg. Nach der Rückkehr von einer mehrmonatigen Reise Freelancerin, ab 2002 Chefredakteurin des Straßenkreuzer. Projekte wie die Stadttouren, die Uni, das Pfandprojekt oder Housing First wurden von ihr mit entwickelt.
Alisa Müller ist seit Juli 2024 Chefredakteurin beim Straßenkreuzer. Zuvor hat sie als freie Journalistin in Nürnberg und Umgebung gearbeitet, seit 2018 auch für den Straßenkreuzer. Sie hat an der Universität Bamberg studiert und ein Auslandssemester in Warschau absolviert. Anschließend hat sie in Bamberg promoviert und dort als Lehrbeauftragte in der Slavischen Sprachwissenschaft unterrichtet.
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