Gelände im Aufbruch #4: Die Ehrfurcht vor der Kongresshalle ablegen
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Im letzten Gastbeitrag hat Barbara Kreis, emeritierte Professorin für Architekturgeschichte, verschiedene wahrnehmungspsychologische und architektonische Untiefen der Beschäftigung mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände herausgearbeitet. Über ihre Thesen spreche ich im folgenden Interview mit Hajo Wagner. Alle von mir gestellten Fragen wurden von Hajo schriftlich beantwortet, wie immer gab es keine inhaltlichen Eingriffe.
MARIAN: Barbara Kreis spricht in ihrem Beitrag verschiedene Themenfelder an, arbeiten wir uns am besten systematisch durch: Migrantische, internationale Perspektiven in das Gelände einzuschreiben scheint ja schon wegen der NSU-Morde in unmittelbarer Nachbarschaft geboten, oder nicht?
HAJO: Multiperspektivität ist „das“ Gebot der Stunde. Nürnberg hat sich nach 1945 zu einer Stadt entwickelt, in der fast 50% der hier lebenden Menschen einen internationalen Hintergrund haben. Unsere beständige Aufgabe ist es daher, der Komplexität der Geschichten – insbesondere auch von Fluchterfahrung, Diktatur und Gewalt – eine Stimme zu geben. Die Nürnberger Bewerbung um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 war bis in die letzte Faser von dieser Überzeugung getragen.
Aber Achtung – es geht mit Blick auf das Reichsparteitagsgelände nicht um eine wie auch immer geartete Relativierung. Das Gelände ist und bleibt der Ort der Täter und Täterinnen, an dem die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1938 „gefeiert“ wurde. Insofern ist der Vergleich von Barbara Kreis mit den KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Dachau schief. Die Erfahrungshorizonte sind nicht vergleichbar. Das ehemalige Reichsparteitagsgelände ist keine Gedenkstätte! Trotz der Differenz ist es unsere gemeinsame Aufgabe, historisch-politische Bildungsarbeit zu betreiben; Demokratiebildung in einer Zeit, in der sich unser Gemeinwesen auf kaum vorstellbare Weise radikalisiert. Der grassierende Antisemitismus gefährdet den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, genauso wie die permanente Delegitimierung demokratischer Strukturen und Entscheidungsprozesse.
Die NSU-Morde in Nürnberg brauchen eine eigene starke, auch eigenständige Erzählung und damit eine besondere Verortung in der jüngeren Geschichte der Stadt Nürnberg. Sie sind zwar ideologisch mit dem Nationalsozialismus verknüpft, fordern aber in der Aufarbeitung eine spezifische Perspektive. Ich begrüße daher die bundesweite Initiative sehr, ein NSU-Dokumentationszentrum einzurichten, das sich mit dem Herkommen des NSU beschäftigt und zugleich dem würdigen Erinnern an die Opfer gebührend Raum gibt.
Ein anderer Aspekt scheint mir das so krasse Missverhältnis von städtebaulichen und menschlichen Dimensionen. Kurz gefragt: Tut man Menschen etwas an, wenn man sie in solchen Kulissen arbeiten, sich aufhalten und „erholen“ lässt?
Die Antwort auf Deine Frage gibt die Nutzung der Kongresshalle in den vergangenen Jahrzehnten. Hier fand 1949 die erste deutsche Bauausstellung statt, 1950 feierte die Stadt Nürnberg hier ihre 900-Jahr-Feier – die Bilder vom Café Königshof aus jenen Jahren sprechen Bände. 1963 fanden die Nürnberg Symphoniker hier ihren Platz – seither wird in der Kongresshalle geprobt, gearbeitet, musiziert. Der Serenadenhof bietet seit Jahren Programm. 2001 wurde das Dokumentationszentrum eröffnet – die Kolleginnen und Kollegen arbeiten im nördlichen Kopfbau. 300.000 Menschen besuchen jährlich das Doku-Zentrum. Über Jahrzehnte haben Menschen aus ganz Europa für das Quelle-Versandhaus in der Kongresshalle gearbeitet. Und jetzt wird es zum Problem, wenn es um die Spielstätte der Oper geht? Ich habe den Eindruck, dass es in dieser Debatte um ein tiefsitzendes, aber durch nichts begründetes Vorurteil gegenüber der Gattung Oper geht. Wenn man gegen die Ermöglichungsräume in der Kongresshalle nichts einzuwenden hat, Musiktheater aber ablehnt, ist das doch absurd. Leider verfällt auch Barbara Kreis dieser kruden Argumentationsfigur. Fern aller Relativierung möchte ich an dieser Stelle auch den Blick auf das Haus der Kunst und die Hochschule für Musik und Theater in München, das Außenministerium in Berlin oder die ehemalige SS-Kaserne in Nürnberg empfehlen.
Opernspielzeiten im Schatten der Kongresshallenfassade: Was bedeutet das für die Intendant:innen des Opernhauses? Begibt man sich nicht mit jeder musikalischen Auswahl zwangsläufig in unmittelbaren Dialog mit dem Gelände, den man aus Sicht der Kunstfreiheit dann auch nur verlieren kann?
Du fragst den Falschen – ich bin nicht der Intendant. Wie wäre es aber in der ersten Spielzeit mit Richard Wagners „Rienzi“ – der Lieblingsoper von Adolf Hitler, mit Franz Lehárs „Die lustige Witwe“ – der Lieblingsoperette von Adolf Hitler, und mit Eugen d’Alberts Oper „Tiefland“, die durch die Verfilmung von Leni Riefenstahl zweifelhafte Popularität erringen konnte? Man kann an diesem Ort alles spielen! Legen wir doch endlich diese falsch verstandene Ehrfurcht vor der Kongresshalle ab und treten ihr mit Selbstbewusstsein entgegen. Denn gerade die Ehrfurcht vor den gigantomanischen Architekturen war doch das, was Adolf Hitler beabsichtigt hat.
Wenn Du in diesem Zusammenhang auf die Kunstfreiheit zu sprechen kommst, dann sollten wir das Thema differenziert betrachten. Die Kunstfreiheit – verstanden als Freiheit der Kunst und des Künstlers / der Künstlerin gegenüber staatlicher Beeinflussung – ist weder hinsichtlich musiktheatraler Produktion noch hinsichtlich der künstlerischen Produktion in den Ermöglichungsräumen tangiert. Allerdings entsteht Kunst nirgends im luftleeren Raum, sie ist immer kontextuell (ein-)gebunden. Gleiches gilt für die Rezeption von Kunst: Ob man Dürer in einem Museum, in einem Krankenhaus oder einer Tankstelle zeigt, ist ein Unterschied ums Ganze.
Ganz ketzerisch gefragt: Wie wird man die Fassaden des – wie ich finde sonst recht gelungenen – Opernhausentwurfs so erhalten, dass der Kubus auch wirklich durchgängig begrünt bleibt? An anderen Orten sind solche Fassaden ja auch oft eingegangen ...
Die grüne Insel im Innenhof der Kongresshalle – Spötter sprechen ja bereits liebevoll vom „Grünen Hügel“ in Nürnberg – ist in meinen Augen ein wuchtiges Zeichen, ästhetisch absolut überzeugend und eine konsequente Fortsetzung der ökologischen Prämissen, die bei der Entwicklung der Kongresshalle gelten: angefangen bei Photovoltaik und Retentionsdach bis hin zu den neu zu schaffenden Fledermausgängen. Dass eine Rundumbegrünung einer besonderen Pflege bedarf, steht außer Frage, aber ich vertraue ganz auf die außerordentliche Expertise des Büros von LRO, die uns einen Entwurf beschert haben, der Architekturgeschichte schreiben wird.
Wenn man den Review liest, geht es auch immer wieder um Dialogfähigkeit als Gegenmittel zur Autorität der Monumentalbauten. Kann man sich in der heutigen medialen Situation überhaupt noch sachlich über solche komplexen Fragen austauschen?
Es ist am Ende immer eine Frage der Gestaltung des Kommunikationsraums. Selbstverständlich lassen sich auch komplexe Fragen und Themenstellungen an ausgewählten Orten diskutieren. Das gewählte Format zählt. Darüber hinaus ist es aber entscheidend, ob die Gesprächsteilnehmenden willens sind, sich auf einen komplexen Diskurs einzulassen. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder die Erfahrung gemacht, dass in Debatten eine Agenda verfolgt wird, die mit dem eigentlichen Diskussionsgegenstand keinen Zusammenhang hat. Besonders evident wird das, wenn es im politischen Raum nur mehr um parteipolitisches Kalkül geht und nicht mehr um „die Sache“. Und besonders wirr wird es, wenn aufgrund von schlichter Unkenntnis – oder auch mit voller Absicht – falsche Behauptungen in die Welt gesetzt werden… habe ich alles im Zusammenhang mit der Kongresshalle erlebt.
Wie trittst du in deiner Rolle mit Kritiker:innen der Umbaupläne in Kontakt, und an welchen Punkten ist dir vielleicht selbst mulmig?
Kritik ist für das Gelingen der Debatten im Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände und insbesondere mit der Kongresshalle von immenser Bedeutung. Kritik hilft bei der Schärfung der eigenen Positionen, und sie zwingt – im positiven Sinne – immer wieder zum kritischen Hinterfragen. Andererseits sind die Positionen des Für und Wider mittlerweile alle auf dem Tisch und hinreichend erörtert. Und ich gebe zu, dass es mir zuweilen Überdruss bereitet, die immer gleichen Argumente zu hören, die auch durch ständige Wiederholung nicht an Relevanz hinzugewinnen und den Diskurs voranbringen.
Barbara Kreis hat in ihrem Review zwei Themenfelder angerissen, die ich gerne aufgreifen möchte und deren Erörterung zumindest ansatzweile Antworten gibt auf deine Frage.
Einerseits stellt Barbara Kreis ganz richtig fest, dass sich in der Erinnerungskultur der Zeitgeist widerspiegelt. Erinnerungskultur ist nichts Feststehendes, was und wie wir erinnern ist fluide – es mag für die eine oder den anderen eine schmerzhafte Erkenntnis sein, dass liebgewonnene Sichtweisen und Argumente in ihrer Wirkmacht verblassen. Für mich stellt sich dabei die Frage, was Kunst in diesem Kontext vermag. Die Aktivitäten im Segment#1 der Kongresshalle verstehen sich als Versuchsanordnung, sie eröffnen neue Räume in die Zukunft. Besonders gespannt bin ich darüber hinaus auf den Wettbewerb Kunst am Bau an Zeppelinfeld und Zeppelintribüne. Im Rahmen des Einladungswettbewerbs werden sicherlich herausragende Entwürfe entstehen.
Andererseits erörtert Barbara Kreis wahrnehmungspsychologische Aspekte, die ich gerne beleuchten würde. Ich habe vor einiger Zeit ein kleines Experiment durchgeführt und einem Freund Alexander Kluges und Peter Schamonis „Brutalität in Stein“ aus dem Jahre 1961 gezeigt – wichtig dabei: ohne Ton, also ohne die Originalstimmen, ohne Kommentar, ohne Musik. Die bloß visuelle Wahrnehmung der Nazi-Architekturen setzte keinen Erkenntnisprozess in Gang, denn die Gebäude sind nicht böse, allein sie überwältigen mit ihrer schieren Größe. Wenn Kreis sagt: „Der Eindruck sinnlicher Konfrontation kann nicht ersetzt werden, sondern nur ergänzt werden durch verbale, schriftliche Information.“ – dann sage ich: Die sinnliche Konfrontation ist nichts ohne die verbale oder schriftliche Information. Die Fassade im „Innenhof“ der Kongresshalle ist eine kariöse Ziegelwand – nicht mehr und nicht weniger; der „Innenhof“ war über Jahre ein Publikumsmagnet für Touristinnen und Touristen (Stichwort: Dark Tourism). Und selbst der vielgepriesene Pfeil von Günter Domenig ist in die Jahre gekommen und fordert heute zu einer kritischen Würdigung heraus. Das ehemalige Reichsparteitagsgelände ist kein Museum – es verändert sich und muss immer wieder neu auf- und erschlossen werden.
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Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner
ist studierter Musikwissenschaftler, Philologe und Kunsthistoriker. Nach Tätigkeiten an den Opernhäusern in Koblenz und Köln war er Musikreferent im Kulturamt der Stadt Köln und bis 2017 Fachbereichsleiter für Musik, Theater und Tanz bei der Kunststiftung NRW. Wagner leitete in Nürnberg von Januar 2018 bis August 2021 das Büro für die Kulturhauptstadtbewerbung 2025.
Seit dem 01.08.2021 hat er die Leitung der Stabsstelle Ehemaliges Reichsparteitagsgelände inne.
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