Dr. Barbara Kreis: EIN UMGANG MIT DEM REICHSPARTEITAGSGELÄNDE
Erinnerungen, Gedanken und Appelle von Dr. Barbara Kreis in einem Gespräch mit Natalie Daitch.
Ab 1989 lehrte die Architektin Kreis „Architekturgeschichte mit Entwerfen” an der GSO- Fachhochschule Nürnberg.
„Information, Reflexion, Dokumentation – Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände“ lautete ihre Diplomaufgabe, die sie den FH-Studierenden 1997 stellte. Innerhalb des Seminars sollte ein neuartiger Umgang mit den wichtigsten gebauten Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus ausgearbeitet und diskutiert werden. Die Auseinandersetzung mit dem „Markenzeichen“ deutscher Gewaltherrschaft zielte keinesfalls auf architektonische bzw. bauliche Lösungen für die Nazi-Bauten, sondern wollte die Chance auf eine visuelle Vergegenwärtigung der Vergangenheit als Boden der Reflexion bieten. „Als reale Spuren des Gewesenen führen sie zur Erkenntnis über ein Stück unserer Geschichte. Neue Architektur oder gestalterische Eingriffe können als Bote dienen, um aufzuklären“, schreibt Dr. Kreis in der Aufgabenstellung.
Zehn Jahre nach ihrer Pensionierung erinnert sie sich an die ausgearbeiteten Untersuchungen und Betrachtungen ihrer Studierenden zurück und nimmt Stellung zur aktuellen Debatte zum Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände,
„Die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit bewegte mich schon lange davor – jede deutsche Familie war ja davon betroffen. Mit circa 16 Jahren fiel mir zu Hause das Buch „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon, der das KZ Buchenwald überlebt hatte, in die Hände – beim Lesen wurde ich ohnmächtig. Auch eine Mieterin, die kurze Zeit bei uns wohnte und im Lager Bergen Belsen interniert gewesen war, ließ manchmal etwas durchblicken von dem dortigen Grauen. Während eines Forschungsaufenthalts in den USA lernte ich die Tochter eines ehemaligen Nachbarn meines Vaters, der aus dem KZ-Dachau fliehen konnte und nach Amerika emigrierte, kennen. Sie besuchte mich später in Nürnberg. Es beschämte mich, dass sie sich bei mir bedankte, nachdem ich sie in die Gedenkstätte Dachau begleitet hatte – wie tief mussten sich Schmerz und Angst nach so vielen Jahren noch auf die Kinder übertragen haben. Eine ähnliche Erfahrung machte ich mit Besuchern aus den USA. Sie hatten durch mich von der „Friedens-initiative Architekten und Planer“, die wir in München aufgrund des zunehmenden Wettrüstens im Kalten Krieg Anfang der 1980er-Jahre gegründet hatten, erfahren. Erst durch das Wissen um diese Aufbruchsstimmung hätten sie sich getraut unser Land zu besuchen, teilten sie mir mit. Insofern war es für mich selbstverständlich als neu berufende Professorin für „Architekturgeschichte und Entwerfen“ an den Stadtführungen des pädagogischen Instituts über das Reichsparteitagsgelände teilzunehmen, um die Zeugen des Größenwahns vor Ort auf mich wirken zu lassen und in den Vorlesungen zu thematisieren.
Als ich 1997 beabsichtigte das Diplomthema „Information, Reflexion, Dokumentation – Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände“ zu stellen, wurde seitens des Kollegiums jedoch Skepsis geäußert, dies überträfe den Rahmen einer studentischen Arbeit. Das sollte man Künstlern wie Joseph Beuys überlassen. Zur Bearbeitung konnten sich angesichts der Einschüchterung nur drei Studierende entschließen. Jedoch entwickelte sich in dem von mir dazu angebotenen Seminar eine vielschichtige Auseinandersetzung, zu der auch Interessierte, die das Thema schon behandelt hatten, und eingeladene Spezialisten beitrugen. Auch hier stand als erstes eine Begehung des Geländes auf dem Programm, denn „an diesem Ort kann man wie an keinen anderen in der ganzen Bundesrepublik den Geist, die Ideologie – auch den Ungeist natürlich – des Nationalsozialismus kennenlernen.“
(Dr. W. Nerdinger).
Wie das Hören eines Musikstücks nicht durch das Lesen der Notenblätter erlebt werden kann, so war diese emotionale Begegnung und Wahrnehmung Voraussetzung für die kognitive Erfassung und Analyse rational zu erfassender Merkmale. Beide Ebenen ergänzen sich in der Erinnerungskultur, in der sich der Zeitgeist widerspiegelt. Dieser wiederum, und das ist anhand der Auseinandersetzung mit dem Gelände seit Kriegsende deutlich zu verfolgen, hat sich, beginnend mit der Tabuisierung, mehrfach gewandelt. Gespräche der Studierenden mit Zeitzeugen ihres persönlichen Umfeldes waren Teil des Seminars, ebenso wie die Filme „Triumph des Willens“, „Die Schwarze Sonne“, die Texte „Aber die Autobahnen...“, „Schauder und Idylle“ (Gudrun Brockhaus) und Vorträge. Das Ziel war, das Gelände als Ort der Aufklärung eigenständig sichtbar und wahrnehmbar zu machen und die Dokumentation nicht nur in der Kongresshalle unterzubringen.
Zu einem späteren Zeitpunkt sah ich mich nochmals herausgefordert einen Vorschlag hinsichtlich einer temporären Nutzung des RPG einzubringen. Nachdem das erste Friedensmahl zum Gedenken an den Friedensprozess nach dem 30-jährigen Krieg mit Erfolg im Stadtzentrum abgehalten wurde und künftig im Rahmen der Verleihung des Menschenrechtspreises wiederholt werden sollte, hatte ich die Idee an der Großen Straße eine große Friedens- und Begegnungstafel zu errichten, um den Ort der Gewaltherrschaft symbolisch zu einem Ort der Begegnung und neuer Visionen werden zu lassen. Eine multikulturelle Aktion zwischen Vergangenheit und Zukunft war die Idee. Es sollten Angehörige aller Nationen, die in Nürnberg eine neue Heimat gefunden haben, zu einem gemeinsamen Mahl eingeladen werden. Neben Nürnberger Hausmannskost könnten Gerichte aus allen Herkunftsländern serviert und parallel zum Bunten Mahl in der Ausstellung „Ohne Einwanderung keine Zukunft – Eine Erfolgsgeschichte zwischen Hoffnung und Enttäuschung“ die verschiedenen Facetten und Blickwinkel der Einwanderungsgesellschaft mit Fokus auf Nürnberg gezeigt werden. Auch Dürer war ja ein Einwandererkind – „Albrecht, du Migrationshintergrund!?“. Die Idee stieß seitens der Stadt auf kein Interesse. Nachdem ich einige Zeit später von der Errichtung einer Friedenstafel auf der Straße der Menschenrechte hörte, dachte ich: „... na ja, vielleicht hatte mein Vorschlag doch eine gewisse Wirkung?“
Als nun das Thema im Rahmen der Interimsnutzung für das Opernhaus wieder zur Diskussion stand, tauchten auch bei mir all diese Erinnerungen wieder auf. Auf der Großen Straße tobt nach wie vor das städtische Freizeitleben. Die Rockkonzerte, die schwarz-rot-golden jubelnde Menschenmasse beim Public-Viewing der WM 2006, die Raserfans, die sich beim Norisring-Rennen zum „Flanieren“ treffen, wie sie es nennen, und natürlich die jährlichen Volksfeste gehören alle zum üblichen Programm. Das Innere des Hufeisens, ein Areal von der Größe zweier Fußballfelder, blieb mehr oder weniger „sich selbst überlassen“ als Autoabstellplatz, zeitweises Übungsareal, Reservefläche – oder, wie 2018, als Raum für eine spontane Friedensaktion.
„... Nichts ist mehr geeignet, den kleinen Nörgler zum Schweigen zu bringen, als die ewige Sprache der großen Kunst.“
(Adolf Hitler, Aussage am Reichsparteitag 1935)
Wäre es nicht eine vertane Chance diesen gigantischen Rahmen, der seiner ehemaligen Bestimmung nicht gerecht wurde, neu zu definieren? Böte dies nicht eine Herausforderung, dem „kleinen Nörgler“ abgeschirmt vom brodelnden tosenden Alltagsleben, nun im Inneren eine Bühne für innovative, temporäre Projekte einen Raum zu bieten, oder singen und tanzen zu lassen? Warum nicht den Platz, ausgestattet mit Informationstafeln und Audiostationen, abgegrenzten Ruhebereichen und dergleichen, in seiner öden Kahlheit belassen, sodass Besucher und Besucherinnen aus aller Welt in Konfrontation mit den Ruinen des Größenwahns zum Nachdenken angeregt werden, damit Besinnung und Reflexion zu ermöglichen. Gerade weil der Rest des Areals schon von anderen Nutzungen in Beschlag genommen wurde. Wenn nun im Rahmen der Sanierung des Opernhauses der Platz für ein Ausweichquartier gesucht und diese Freifläche als einzig mögliche in Erwägung gezogen wird, scheint das recht merkwürdig. Zumal wenn man dies seitens des Kulturreferats offenbar als gute Lösung betrachtet wird, mit der Begründung „Steine sprechen nicht für sich alleine – sie müssen interpretiert werden“, wie in einem Bericht des Bayerischen Rundfunks verlautet, dann stimmt das etwas nachdenklich. Hier geht es um Ablesbarkeit der Dimensionen, denn die menschliche Erinnerung ist topologisch geprägt. Der Eindruck sinnlicher Konfrontation kann nicht ersetzt, sondern nur ergänzt werden durch verbale, schriftliche Informationen.
Wie viel wurde und wird über die Wirkung der Architektur, Architekturpsychologie, Stadtsoziologie gesprochen, und jetzt lässt man ein Opernhaus, in welchem die Menschen sich entspannen und erbauen wollen, einrahmen von den immer noch wirkmächtigen Ruinen maßloser Tyrannei, um sich nach dem Genuss der Zauberflöte bei einem Glas Prosecco an ihrem Anblick zu ergötzen. Diese wie auch die internationalen Gäste der Kongresshalle, immerhin inzwischen jährlich rund 300.000 (im Jahre 2020), werden sich womöglich wundern, warum ausgerechnet zwischen den Nazisteinen die Hochkultur ihren Platz gefunden hat?
Und zum guten Schluss erhält „der kleine Nörgler“ nach neuester Meldung auch noch andere Fürsprecher seines Anliegens, nämlich Wanderfalken und Uhus, die es sich auf dem Gelände jenseits der städtischen Alltagshektik inzwischen gemütlich gemacht haben. Wie verschiedene Zeitungen, unter anderem die Süddeutsche Zeitung und die Nürnberger Nachrichten, vor ein paar Jahren verlauteten, ließen sich die geschützten Vogel- und Fledermausarten nicht einfach so vertreiben.“
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NATALIE DAITCH
hat im Jahr 2022 ihr Studium des Ressortjournalismus an der Hochschule Ansbach abgeschlossen. Seit März 2024 arbeitet sie als Redakteurin in der Social-Media-Abteilung von RTL.