Totengerippe und sprechende Trommeln: Das neue Buch von Christiane Neudecker

FREITAG, 1. NOVEMBER 2024, NüRNBERG

#Buch, #Christiane Neudecker, #Die Welt wartet, #Rezension, #Theo Fuchs

Christiane Neudecker: Die Welt wartet – rezensiert von Theo Fuchs

Gerade rechtzeitig zur Buchmesse in Frankfurt erschien Mitte Oktober Christiane Neudeckers neues, ihr siebtes Buch: »Die Welt wartet«. Der Untertitel: »Unheimliche Geschichten«. Sieben Erzählungen sind darin versammelt, auf 256 Seiten bei Luchterhand verlegt.

Wer Neudeckers Schaffen in den letzten knapp 25 Jahren verfolgt hat, weiß, dass dies nicht Neudeckers erste Sammlung beunruhigend-phantastischer Geschichten ist. Schon in ihrem Erzählband »Das siamesische Klavier« aus dem Jahr 2010 arbeitete sie jenseits der Grenzen unserer nüchternen und rundherum harmlos-erklärbaren Alltagswelt.

Neudecker lebt heute in Berlin, stammt jedoch ursprünglich aus Nürnberg-Eibach und erreichte ihre ersten schriftstellerischen Meilensteine hier in CURT-City. Sie kann überhaupt sehr vieles, wenn nicht alles. Gelernt hat sie ganz bodenständig Regisseurin, darüber hinaus schreibt sie Erzählungen, Romane, Opernlibretti, Stücke. Sie tanzt auf ihrem instagram-Kanal für mehr als 3.500 begeisterte Follower und sie inszeniert mit ihrer Event-Company »phase7« anhaltend erfolgreich Theaterstücke und kulturelle Großereignisse. Nebst vielen anderen gewann sie den Nürnberger Kulturpreis und den Wolfram-von-Eschenbach-Preis des Bezirks Mittelfranken.

Im Gespräch mit dem Literaturkritiker Dirk Kruse nannte Neudecker beim Buch-Preview im Nürnberger Literaturhaus ihre literarischen Vorbilder: Daphne de Maurier und Marie Luise Kaschnitz. Doch es gäbe noch eine Reihe weiterer Namen, die der Rezensent droppen könnte, um Neudeckers Stories zuverschubladen, als da wären Ambrose Bierce, Shirley Jackson, Roald Dahl und so weiter. Doch das braucht es gar nicht.

Das Versprechen, dass die Geschichten irritieren, beunruhigen und vielleicht sogar das Grundvertrauen ins regelgemäße Funktionieren der Welt erschüttern, wird absolut erfüllt. CURT schätzt die Stärke des Bebens auf drei bis vier, so unsanft stößt Christiane Neudeckers atmosphärische Sprache auf die (freilich nur scheinbar) stahlharte, 100% magiefreie Realität. Diverse Themen, Situationen, Figuren werden ausbuchstabiert – der hochsensible Dirigent, der plötzlich beginnt, aus einer Pauke die Worte einer Warnung zu hören, die er überbringen muss und die niemand sonst hören kann. Der alternde Schauspieler, der im Verlauf eines Instagram-Posings mit einem antiken Engelssymbol interferiert und sein ewig jugendliches Aussehen wiedergewinnt, welches ihn in der Folge allerdings ganz fürchterlich in die Bredouille bringt. Ein seiner selbst bewusstes Bild, das sich nicht von seinem Schöpfer trennen möchte und beginnt, in die Leben einer sich rasch entwickelnden Reihe von Käufer*innen einzugreifen. Und in diesem Stil noch einiges mehr, das hier nicht gespoilert werden darf, das wäre ja noch schöner!

Als Lesende*r muss man nämlich irgendwann darüber nachdenken, was eigentlich dieses »unheimlich« ganz konkret bedeutet. Die heutige Welt ist ausgeleuchtet, vollständig bis in die letzte Ecke – jedenfalls behaupten wir das gerne – wir, die wir stolz auf Aufklärung (englisch: »enlightment«), auf Wissenschaft und Technik sind. Doch ist alles wirklich so ausnahmslos offensichtlich, verstanden, harmlos, beherrschbar, rational?

Die Frage ist rhetorisch, die Antwort lautetet natürlich »nein« und Neudecker beweist eindrücklich warum. Unsere Realität ist nichts weiter als eine Konstruktion, ein dünner Firnis über dem brodelnden Abgrund eines Möglichkeitsraums. Wir alle sehen die Welt nur zum Teil und nur so, wie wir sie sehen wollen. Aber wir ahnen, dass das nicht alles ist. Dass da mehr ist, das sich nicht erklären lässt und das uns deswegen Angst macht, weil wir nicht wissen, was wirklich geschieht. Da zeigen dann mit einem Mal elektronische Geräte ein grauenhaftes Totengerippe, obwohl sie auf einen lebenden Menschen gerichtet sind. Da sprechen Trommeln mit bedrohlichen Worten, da sitzen Leser und Leserinnen auf Palmen bzw. im Gebüsch und beobachten eine Schriftstellerin, die einen leeren Bildschirm anstarrt, und da sitzt eine Frau an der Bar, in deren Blut ein tödlicher Virus kreist, den sie nur loswerden kann, indem sie ihn rasch auf einen anderen Menschen überträgt.

Die COVID-19 Pandemie der Jahre 2020 und 2021 schwingt in diesem Buch ständig mit. In den Geschichten findet eine intensive Auseinandersetzung mit der menschlichen Gesellschaft in den Corona-Jahren und danach statt. Viele der Figuren in »Die Welt wartet« haben künstlerische Berufe, welche bekanntermaßen noch einen Ticken stärker von der Seuche und allen Maßnahmen zur Unterbrechung der Infektionslawine betroffen waren. Hiervon mag auch Neudeckers Wahl der Schauplätze ihrer Erzählungen beeinflusst worden sein: Andalusien, Gomera, Rom, New York, Insel Frauenchiemsee –allen Unheimlichkeiten ist unverkennbar eine ununterdrückbare Reiselust zur Seite gestellt.

Unter dem Strich: eine wilde wie kurzweilige Lektüre, welche die Gedanken der Lesenden auch noch lange, nachdem die letzte Page geturned wurde, fesselt. Daher hiermit eine freundliche Empfehlung von CURT! Profis halten übrigens Ausschau nach der nächsten Lesung von Christiane Neudecker und schießen sich dort ein Exemplar mit Original-Unterschrift der Autorin!
 
P.S.: Wer Freude an solchen Dingen hat, möge einen genaueren Blick auf das Buchcover werfen – es lohnt sich!

Christiane Neudecker: Die Welt wartet
Luchterhand, 256 Seiten, 22 Euro
 




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