Einges langen Tages ... im Staatstheater: Lärmend ohne ein einziges Wort

SONNTAG, 13. OKTOBER 2024, STAATSTHEATER

#Eines langen Tages Reise in die Nacht, #Kritik, #Premiere, #Rieke Süßkow, #Staatstheater

Staatstheater Nürnberg: Reke Süßkow findet eine neue Formensprache für Eugene O‘Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht.
Premierenkritik von Andreas Thamm zuerst erschienen auf www.nachtkritik.de

Die Geigerin Ekaterina Zeynetdinova steht hoch oben, auf der dritten Hochzeitstortenetage einer sich drehenden Bühne. Ihr weißes Kleid versteckt, meterlang fließend über alle Requisiten und Figuren. Bis auf Stephanie Leue, Mary Tyrone, die am untersten Rand steht, wie eine, die den richtigen Ort und den richtigen Moment sucht, um zu springen. Die Geige kratzt atonal, die Bühne dreht sich, beschienen von spärlichem weißen Licht und während Mary peu a peu ihre Familie, zwei Söhne, ein Mann, aufdeckt, kommen auch deren Instrumente zu sich: Posaune, Klarinette, Cello – und finden, angetrieben von der noch höher im Hintergrund stehenden Schlagzeugerin Ines Lubej, verkantend, sich aneinander reibend, zu sich. Die beiden Jungs, Jamie und Edmund, lassen ihre Blasinstrumente albern kichern, des Vaters Cello zürnt streng. Und was hier nun knapp 75 Minuten gespielt werden wird, ist ohnehin jedem klar, der oder die sich in diese Premiere am Nürnberger Staatstheater gewagt hat:

Instrumentalversion“ hat die Regisseurin Rieke Süßkow unter den Titel des Stücks von Eugene O‘Neill gesetzt, heißt, Eines langen Tages Reise in die Nacht, ein textlastiger Klassiker über den Zerfall einer Familie, nur: ohne Text. Süßkow hat sich ein Stück genommen, das eben auch davon handelt, wie Kommunikation in einer Familie am Abgrund scheitert, wie die Sprache in Extremsituationen nicht mehr als Werkzeug taugt, und sie deshalb weggelassen und durch den Emotionstransporteur Musik ersetzt. Die Geschichte eines Tages im Haus der von Sucht und Krankheit zerfurchten Familie Tyrone wird ohne ein einziges Wort und dabei aus der Perspektive der morphiumabhängigen Mutter Mary erzählt. Jedem Mitglied der Familie ist ein Instrument zugeordnet, die grau gekleideten Musiker:innen begleiten „ihre“ Figur wie Schatten aus der Unterwelt. Die umwerfende Komposition von Philipp C. Mayer spielt permanent mit versuchter Annäherung hin zu Harmonie und einem stellenweise lärmenden Gegeneinander, die Auswahl der jeweiligen Instrumente verdeutlicht die Charakterzeichnung. Die mit dieser sicherlich brutalen Herausforderung beeindruckend und lustvoll umgehenden Musiker:innen kommen von der Nürnberger Hochschule für Musik.

So hat die gefeierte Regisseurin, die dem Nürnberger Theater mit ihrer Schwab-Übergewicht-Inszenierung erstmals eine Einladung zum Berliner Theatertreffen verschaffte, sich selbst eine enorme Hürde gebaut, die Erwartung eines Publikums an ein Minimum an Narration nicht komplett zu entwerten und ihm bei aller Abstraktion zumindest ein Etwas an Konflikt, an Figurenzeichnung zu geben. Dass aber diese Mary an Depression leidet und als leidende, kranke Person in dieser Familie nicht gesehen wird, machen Musik und das ausdrucksstarke Spiel von Stephanie Leue sofort klar. Dass es zwischen ihr und dem jüngeren, an Schwind- und Trunksucht leidenden Sohn Edmund Momente der Zärtlichkeit gibt, dass der Vater James stetig rauchend um Haltung ringt, dass Jamie mit seinem Vater wegen der Sucht der Mutter aneinandergerät, all das vermittelt sich auf ganz anderer Ebene als die Zuschauenden im Theater gewohnt sind. Die Ursachen, die Folgen, die konkreten Anlässe dessen, was man sieht, sind häufig nicht entschlüsselbar, es bleibt die reine Emotion.

Was bei Süßkow-Arbeiten hinzu kommt, ist der Charakter einer Teamarbeit. Zum Team gehört der erwähnte Komponist, Kostümbildnerin Sabrina Bosshard,  sowie die Bühnenbildnerin Mirjam Stängl. Ihr kreisrunder, dreistöckiger Aufbau, mit der kaum sichtbaren zweiten Ebene im Hintergrund ist das materialisierte Nicht-Entkommen aus der bis ins Mark kaputten Familie. Mit langen Schritten schreitet der Vater im grünen Anzug ohne voranzukommen gegen die Drehung an. Die oberste Ebene beginnt gar zu kippen und zu taumeln, als wollte die Bühne Mary abschütteln, als habe sie jeglichen sicheren Boden unter den Füßen verloren. Nur der Rausch, die Spritze, kann ihr ein wenig Frieden schenken. In diesen Momenten ist die Bühne in ein geradezu wohltuend warmes Licht getaucht.
Ein bisschen mehr Licht hätte man sich grundsätzlich gewünscht, so wichtig die Mimik für diesen besonderen Theaterabend ist. Aber das ist Makulatur, wenn es unterm Strich festzuhalten gilt, wie bemerkenswert, wie radikal und im besten Sinne schöpferisch Rieke Süßkow mit den hohen Erwartungen an ihre zweite Nürnberger Inszenierung umgegangen ist. Diese Herangehensweise an Eines langen Tages Reise in die Nacht ist nicht bloß eine verkopfte Spielerei, sondern ein Versuch, der in seiner dringlichen und niederschmetternden Wirkung Bestätigung findet. Eine, sorry, Pathos, neue gute Antwort auf die Frage, warum man das Theater liebt.  


Eines langen Tages Reise in die Nacht. Instrumentalversion
frei nach Eugene O‘Neill
Regie: Rieke Süßkow
Komposition, musikalische Leitung: Philipp C. Mayer
Bühne Mirjam Stängl
Kostüme: Sabrina Bosshard
Licht: Paul Grilj
Dramaturgie: Fabian Schmidtlein
Künstlerische Produktionsleitung: Greta Călinescu     

Schauspiel: Stephanie Leue, Stephan Schäfer, Joshua Kliefert, Justus Pfannkuch
Musik: Ekaterina Zeynetdinova, Lucas Jansen, Nina Janßen-Deinzer, Lukas Immanuel Krauß, Ines Lubej

1 Stunde 15 Minuten, keine Pause




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