Gelände im Aufbruch #3: Kreative Erinnerungsarbeit

MITTWOCH, 16. OKTOBER 2024, REICHSPARTEITAGSGELäNDE

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Im letzten Review ging es um die Frage, inwieweit eine innere Erinnerungsarbeit mit physisch erfahrbaren Elementen aufklärerisch und ästhetisch funktionieren kann, am Beispiel der Holzschuharbeit von Harald Kienle für Hersbruck. Über diese Beobachtung und den größeren Kontext einer kreativen Erinnerungsarbeit spreche ich im folgenden Interview mit Hajo Wagner. Alle gestellten Fragen wurden unverändert schriftlich beantwortet, die Antworten wurden inhaltlich nicht verändert.

MARIAN: Die letzten Zeitzeugen der NS-Zeit sterben, die 1930er- und 1940er-Jahre sind wohl gerade dabei, eine historische Epoche zu werden, ähnlich vielleicht wie der 30-jährige Krieg oder Napoleons Kaiserzeit. Wie sehr verändert sich dadurch die Vermittlungsaufgabe für diese Zeit?
HAJO WAGNER: Zeitzeugenschaft stellt eine zentrale Perspektive für eine zeitgemäße Geschichtsschreibung und -vermittlung dar. Diese Erkenntnis hat sich spätestens in den 1960er-Jahren durchgesetzt. Zwar wurde auch immer wieder Kritik an Formaten der Oral History formuliert, z.B., dass der Quellenwert von Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenaussagen nicht hinreichend sei, da die gemachten Erfahrungen „nur“ privater Natur seien – also nicht zu verallgemeinern. Aber diese Kritik geht meiner Meinung nach ins Leere – auch wenn sich Erinnerung verflüchtigt, von neuen Erfahrungen überlagert wird und natürlich nicht von äußeren Einflüssen frei ist. Erinnerungen sind fluide. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind wichtig, sie weisen den Weg zu einem empathischen Erleben. Für die historisch-politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit bringt ihr Verschwinden neben dem Verlust ganz neue Herausforderungen. 
Ich bin in diesem Kontext ganz bei Charlotte Knobloch, die mehrfach darauf hingewiesen hat, dass den Architekturen des Nationalsozialismus eine neue Funktion zukommt: Sie berichten in einem übertragenen Sinne als steinerne Zeugen von der menschenverachtenden Ideologie der Nazi-Zeit. 
Darüber hinaus werden seit geraumer Zeit auch andere Formate der Zeitzeugenschaft erprobt: die medial-digitale Aufarbeitung der Erinnerungen oder auch die Erörterung der Frage, welche Bedeutung die „Zeitzeugen der zweiten Generation“ haben können. Anfang des Jahres ist beim Wallstein Verlag eine hoch interessante Publikation zum Thema erschienen – sehr lesenswert.

MARIAN: Ein Hauptkonflikt um den Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände dreht sich um die Frage, ob das Gebiet „authentisch“ erhalten werden muss oder kreativ angeeignet werden darf (oder sollte). Diese beiden Strategien schließen sich gegenseitig aus, oder?
HAJO: Du setzt das Wort „authentisch“ zu Recht in Anführungszeichen. Was bedeutet authentisch für das ehemalige Reichsparteitagsgelände? Authentisch ist doch hier nichts mehr. Das Gelände als Ganzes ist nicht mehr lesbar, wesentliche Teile des Architekturprogramms wie die Luitpoldarena wurden beseitigt, die Kongresshalle ist Rohbau und nie fertig geworden, und Zeppelinfeld und Zeppelintribüne sind durch massive Eingriffe verändert. Andererseits würde doch der Erhalt im Horizont einer vermeintlichen Authentizität das Gelände zu einem Freiluftmuseum machen, zu einem Nazi-Erlebnispark – und das will ja nun wirklich niemand.
Was aber heißt: Kreativ aneignen? Auf dem Gelände finden seit vielen Jahrzehnten Formen der „kreativen Aneignung“ statt, die in meinen Augen absolut fehl am Platz sind. Ich denke nicht, dass hier alles möglich sein sollte. Man könnte gerne einmal etwas „aufräumen“ hinsichtlich diverser Veranstaltungen.
Das Gelände hat eine Geschichte; dieser Geschichte sollten wir uns annehmen und sie vermitteln – Demokratiebildung durch Aufklärung ist unser aller drängende Herausforderung angesichts der gesamtgesellschaftlichen Zeitläufe. Darüber hinaus gibt es keinen vernünftigen Grund, auf Aneignung, Umnutzung, Überschreibung, Transformation zu verzichten – immer im Wissen um die Historizität des Geländes.

MARIAN: Harald Kienle nähert sich in seiner Holzschuharbeit dem teils unaufgearbeiteten Grauen des Arbeitslagers über Sound und Geräusche. Aber die Arbeit ist mehr als das, sie verursacht eine zwingende körperliche Erfahrung bei den Teilnehmenden, gleichzeitig hinterlässt die Erfahrung eine starke Erinnerung. Kann so ein Konzept ein Weg sein, historische Geschehnisse im Heute als relevant spürbar zu machen?
HAJO: Die Arbeit von Harald Kienle führt uns in einen Komplex unterschiedlichster Fragestellungen, der auch die Konzeption des Lern- und Begegnungsortes Zeppelinfeld/Zeppelintribüne betrifft. Ursprünglich sind wir davon ausgegangen, auf Tribüne, Feld und Wallanlage „Reflexionsorte“ zu installieren – Orte, die die Besuchenden auf niedrigschwellige Weise über die Geschichte des Areals informieren und zugleich zum Nachdenken anregen. Aber Gegenstand und Richtung des Nachdenkens lassen sich nicht vorhersehen und lassen sich nicht steuern. Wir nehmen aktuell Abstand von der Konzeption, weil wir eine Emotionalisierung der Besuchenden in eine falsche Richtung – nochmals Stichwort: Nazi-Erlebnispark – vermeiden müssen.
Aber zurück zur Arbeit von Harald Kienle. Ich glaube, sie kann dann ihr wichtiges Potenzial entfalten, wenn sie begleitet wird; sie braucht die Erläuterung, denn wenn sie als „Reenactment“ erlebt würde, wäre das fatal. Kienle will ja genau das auch explizit nicht. Die gemachte körperliche Erfahrung darf nicht zu dem Kurzschluss führen, dass ich glaubte, den Schmerz und das Leid der Menschen im Arbeitslager nachempfinden zu können. Es ist eine Erfahrung im Heute, und sie braucht die Kontextualisierung im Heute. Oder anders formuliert: Was hat das mit mir heute zu tun? Und das heißt doch dann wiederum, dass der Erfahrung die historisch-politische Aufklärung vorangestellt werden muss. Ohne Rahmung geht es nicht.

MARIAN: Übertragen wir diese Frage auf das Gelände: Wie „kreativ“ kann der Umgang hier deiner Meinung nach sein? Eine Gedenkstation, z.B. mit KZ-Überlebenden, die ihre Geschichten erzählen (ich fantasiere jetzt mal ganz frei), würde wohl nicht nur bei mir Unwohlsein auslösen ...
HAJO: Das ist nun wirklich spannend. Wir hatten jüngst einen Workshop, der sich der Frage der Gestaltung von Feld, Wallanlage und Tribüne gewidmet hat – und ein erstes, sehr wohl durchdachtes Plädoyer eines renommierten Wissenschaftlers zielte darauf ab, auf dem Gelände ausschließlich die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus zu erzählen. Wie das sehr eindrücklich sich ereignen kann, zeigt der Film mit Josef Salomonovic, der Jahre in Konzentrationslagern verbrachte und 2020 das Gelände besucht hat, um über seine Erfahrungen zu sprechen.
Insgesamt muss man aber immer berücksichtigen, wo man sich auf dem Gelände befindet. Ob Bahnhof Märzfeld, Zeppelinfeld/Tribüne, Kongresshalle oder Luitpoldhain – nicht überall ist alles möglich oder wünschenswert. Die Veranstaltungsreihe im Segment#1 in der Kongresshalle zeigt uns seit mehr als einem Jahr, welche Potenziale eine kreative Aneignung freisetzen kann. Am Feld haben temporäre Interventionen wie das „Regenbogenpräludium“ oder auch das Konzert „die männer – die steine“ gezeigt, was ein kreativer Umgang mit den Architekturen des Nationalsozialismus vermag. Demnächst wird es auch um die Frage „Kunst am Bau“ / „Kunst im öffentlichen Raum“ an Tribüne und Feld gehen. Ich bin sehr gespannt, welche Positionen hier entwickelt werden.

MARIAN: Augenscheinlich ist, dass die schulische Aufklärung über den Nationalsozialismus, die wohl in der Fläche so umfassend ist wie nie zuvor, immer weniger verfängt. Das ist aus demokratischer Perspektive eine große Herausforderung, oder? Wie kann man das auffangen?
Offensichtlich dringt die schulische Vermittlung nicht mehr durch. Woran das liegt, kann ich nicht sagen. Vielleicht braucht es andere Methoden …
HAJO: Wenn Geschichte immer nur als Geschichte eines Höhenkamms erzählt wird, fällt es schwer sich einzufinden. Berichte über Einzelschicksale; fragen, was die Nazi-Zeit mit unserer Gegenwart zu tun hat; aufzeigen, wie sich Diskurse heute ins rechte Spektrum verschieben … Aber erschreckend sind allemal die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen, wenn man sich anschaut, wie die jungen Erwachsenen gewählt haben. Es bleibt unsere Kernerarbeit, immer wieder und mit allem Nachdruck in der historisch-politischen Bildungsarbeit über den Nationalsozialismus und seine Ideologeme aufzuklären. Andererseits müssen wir die erinnerungskulturellen Inhalte multiperspektivischer anlegen, ohne allerdings die Singularität des Nationalsozialismus zu relativieren.

MARIAN: Nun war das Gelände ein Ort der gewaltsamen und martialischen Propaganda, kein Ort der direkten Ermordung von Menschen. Gleichsam ist es ein Ort der Zwangsarbeit und Menschenfeindlichkeit. Gibt es überhaupt eine Chance, für das alles eine schlüssige, aktive Gesamtstrategie zu finden, oder wird das Gebiet dadurch zwangsläufig inhaltlich in viele „Einzeldenkmäler“ zerfallen?
HAJO: Ich kann das Gelände nicht als eine homogene Einheit mit einer homogenen Aussagedimension verstehen. Ein pluralistischer Zugriff, der auch die Potenziale generationalen Wandels berücksichtigt, ist in meinen Augen der einzig sinnvolle Weg im Umgang mit dem Gelände.

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#4 der Kolmune in curt 12/2024–01/2025
Hajo Wagner setzt sich mit weiteren Ideen und Fiktionen zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände auseinander.

#2 der Kolmune aus der letzten Ausgabe findest du HIER.

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Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner 
ist studierter Musikwissenschaftler, Philologe und Kunsthistoriker. Nach Tätigkeiten an den Opernhäusern in Koblenz und Köln war er Musikreferent im Kulturamt der Stadt Köln und bis 2017 Fachbereichsleiter für Musik, Theater und Tanz bei der Kunststiftung NRW.
Wagner leitete in Nürnberg von Januar 2018 bis August 2021 das Büro für die Kulturhauptstadtbewerbung 2025. 
Seit dem 01.08.2021 hat er die Leitung der Stabsstelle Ehemaliges Reichsparteitagsgelände inne.




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