Ein Halbes Jahrhundert Entdeckerlust: 50 Jahre Pocket Opera Company
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Text: Andreas Radlmaier. Der Rettungsring hängt während des Gesprächs im Proberaumbüro mit Schaufensterblick in der Südstadt stets in Sichtweite. Das Requisit mit der einladenden Aufforderung „Willkommen an Bord!“ hat offensichtlich gute Dienste getan. Denn untergegangen ist die Pocket Opera Company in den 50 Jahren ihres Bestehens nicht. Man hielt sich mit Ironie, Ideen und abenteuerlichen Spielorten stets über Wasser. Der Irrwitz hatte Methode und setzte Maßstäbe: Lodernde Schauspieler, singende Paradiesvögel, kenternde Kulissen – man musste, man darf als Gast mit allem rechnen.
Damit steuert die POC, wie sie sich selbst nennt, 2024 in außergewöhnliche Jubiläumsgewässer. Die freie Gruppe ist Deutschlands ältestes mobile Musiktheater, das von Beginn an mutig Konventionen und Erwartungshaltungen über Bord kippte und schon vor Jahrzehnten queere Themen besetzte, als diese sich erst auf die lange Reise durch gesellschaftliche Denkraster machten.
Im Tollwood-Zirkuszelt gastierte man mit Wagners „Ring“, auf dreieinhalb Stunden unvergesslich, weil bildstark zusammengeschmort, auf dem Wöhrder See in Nürnberg mit „My Fair Verdi“ samt wackligem Floss und Tretbooten für Ensemble und Publikum, auf den Rolltreppen eines Fürther Einkaufcenters mit Molinos „Smiling Carcass“, in der monströsen Industrieruine einer Müllschwelbrennanlage mit Henry Purcell und Feuerspeiern für „One Charming Night.
Zwischen Flugzeughangar, Oldtimer-Paradies, Nazi-Gemäuer und Wasch-Salon ist alles drin und erwünscht. Das „WASH HOUSE WALLHALLA“ in Nürnbergs Nordstadt etwa kommt auch zum Jubiläum wieder zum Einsatz. Dann darf Ende November „Der fliegende Holländer“ – wie zuerst in einem fahrenden Linienbus beim inzwischen abgewickelten städtischen „Silvestival“ – an vielen Abenden erlösungstrunken über Maschinen und staunende Menschen taumeln.
Der Auslöser für die POC, sagt „Gründungsdirektor“ Peter Beat Wyrsch rückblickend, war die Aussicht aufs Machendürfen, den eigenen Zugriff. Der Schweizer, damals 28, war 1974 Regieassistent am städtischen Opernhaus. Experimentierfreudige Ensemblemitglieder und ausrangierter „alter Plunder“ aus dem Theaterfundus, heute würde man das als nachhaltiges Upcycling loben, fanden sich in den ersten Inszenierungen, die durchaus klassisch anmuteten. Spätestens mit der verwegenen Version von Offenbachs „Die Großherzogin von Gerolstein“ im gerade reaktivierten Festsaal des Künstlerhauses (aus dem später dann das legendäre KOMM werden sollte) hatte man den Ruf der „Jungen Wilden“ weg. Kulturpolitische Ziele habe man dabei nicht verfolgt, betont Wyrsch. Auch wenn man „raus aus dem Muff der Opernhäuser“ wollte, Bürgerschreckgespenster seien sie nie gewesen: „Es gab nie Buh-Rufe.“
Skepsis schon, auf Seiten der Politik und der Kulturverwaltung unter der späteren Kulturreferenten-Legende Hermann Glaser. „Wir haben ein Opernhaus und das reicht für eine Arbeiterstadt wie Nürnberg“, sei die verbreitete Meinung gewesen. Man habe sich gerade noch ein „Theater aus dem Koffer“ vorstellen können: Minimaler Aufwand, in fünf Minuten spielbereit. Aber, sagt Wyrsch, „wir haben uns gleich am Anfang anders verhalten. Wir kamen nicht mit dem Koffer, sondern dem Lastwagen.“
Später dann auch mit dem Flugzeug. Für Gastspiele in New York. Oder in Edinburgh. Da wollte die POC mit „Der Vampyr“ beim berühmten Fringe-Festival auftreten. Dafür musste ein griffiger Name her. Denn Mitte der 70er Jahre hieß die freie Gruppe eher wenig revoluzzerhaft „Opernstudio Nürnberg e.V.“. Eine schwer vermittelbare Typenbezeichnung für den internationalen Kulturmarkt. Die Folge: Der Begriff „Pocket Opera Company“ wurde geboren. Mittlerweile nennt das Staatstheater Nürnberg seine Nachwuchsabteilung übrigens “Internationales Opernstudio Nürnberg”.
Nachahmereffekte registrierten die POC-Macher immer. „Die freie Szene hat dem Stadttheater die Ideen und das Personal geliefert“, meint Wyrsch, der selber irgendwann als Intendant in die Schweiz ging und die künstlerische Gesamtleitung an den Mitstreiter Franz Killer übergab. Der Dirigent mit Barock-Leidenschaft führte als tragendes musikalisches Live-Element ein Saxophon-Quartett ein. Das tönt robust, wetterfest, jazzig, flexibel. Die Geigen, gibt Killer zu bedenken „sind beim ersten Regentropfen unter freiem Himmel ausgeknockt.“
Das Ambiente, der Spielort, die optische Faszination war stets Emotionsverstärker fürs Publikum, preisgünstiger Kulissenzauber und Inspiration für die Interpretation. Markenzeichen für die POC sowieso. Die Performance wurde Teil der Praxis. „Die Zuschauer sind“, weiß Wyrsch, „wenn sie in solche Räume kommen, beeindruckt durch die besondere Atmosphäre. Das macht das Erlebnis aus.“ Über 150.000 Gäste in über 80 Produktionen erlebten seit der Gründung dieses „kleine Wunder mit Perspektive“, wie es der Theaterkritiker Dieter Stoll umschreibt.
Gab es je ein künstlerisches Manifest? Nein, sagen Wyrsch und Killer. Aber es gab den Wunsch, gesellschaftliche Themen zu spiegeln – Todesstrafe, Autismus, Werbefuror, Katastrophen, Machtrausch –, Uraufführungen zu ermöglichen (von Franz Hummel bis Heiner Goebbels), Verschüttetes zu zeigen. „Der eifersüchtige Trinker“ ist so eine Ausgrabung. Vor 100 Jahren am Nürnberger Opernhaus uraufgeführt, bevor Max Ettinger, Komponist mit jüdischen Wurzeln, aus Nazi-Deutschland in die Schweiz emigrieren musste, wo er 1951 nach brutalem Karriereknick starb. Die Wiederentdeckung Ettingers, der Nürnberg immerhin drei Opern-Uraufführungen lieferte, ist die zentrale Jubiläums-Produktion. Am 18., 19., 25. und 26. Oktober in großer Besetzung im Neuen Museum zu sehen.
Räume besetzen und aufladen: Umgeben von einem wuchernden Fundus der Erinnerungen und Requisiten in der neuen Geschäfts- und Anlaufstelle, die der POC ein Gönner, passenderweise Immobilienentwickler, überlassen hat, schält sich beim Zwischenfazit dieser Regieansatz heraus. Ein Alleinstellungsmerkmal, betont Dramaturg Florian Reichart, das stationäre Häuser nicht bieten. Mit dem Risiko, dass der doppelte Boden fehlt. Aber: Ausfälle wegen Erkrankungen in all den Jahren? Fehlanzeige. Wyrsch: „Die Sänger wissen, dass das nicht geht. Also werden sie nicht krank.“ Welche Aufgabe hat dann die POC heute? „Vielseitig sein und am Puls der Zeit“, antwortet Killer. Stets reagierte man auf den Zeitgeist. Wenn der Overkill der Eindrücke zu Konzentrationslücken führt, gibt’s eben einen wild wirbelnden Arien-Appetizer im Afterwork-Club.
Einfacher ist es in 50 Jahren dennoch nicht geworden. „Die finanzielle Grundsituation hat sich grundsätzlich geändert, nicht zum Positiven“, sagt Killer. Die Zuschüsse sind gleichgeblieben, die Einflüsse außen herum nicht. Corona, die Kosten und Kontrollen – ein unerschöpfliches Thema. Aber: „Man soll die Hoffnung nie fahren lassen.“ Was tun also beispielweise in Sachen Nachwuchs? „Wir bleiben jung“, kontert Killer kichernd. Der Rettungsring, er hängt ja immer noch da.
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Pocket Opera Company
Jubiläumsprogramm mit „Der eifersüchtige Trinker“
und „WASH HOUSE WALHALLA“.
Alle Termine: www.pocket-opera.de
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