Sechs Kilometer
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Eine Beobachtung von Marian Wild, gemeinsam mit den Beteiligten
Personen, die im Umkreis von Hersbruck wohnen oder unterwegs sind, bietet sich seit ein paar Jahren von Zeit zu Zeit ein irritierender Anblick: Zuerst hört man ein rhythmisches Klacken von Holz auf Asphalt und Stein. Etwas später kommt womöglich eine Gruppe von Silhouetten in Sichtweite, oder auch nur einzelne Gestalten. Sie laufen langsam und etwas unnatürlich, wie Störche, und sind offenbar stark mit sich selbst beschäftigt. Sie tragen Stoff um die Füße gewickelt, und darüber klobige Holzschuhe.
Der Nürnberger Künstler Harald Kienle hat das Projekt im Jahr 2022 im Rahmen eines Kunstwettbewerbs für das ehemalige KZ-Außenlager Hersbruck entwickelt. Er hat einige Dutzend Schuhpaare aus Holzklötzen geschnitzt, ausgestemmt und in Form gebracht, alle wurden im Rahmen des Projekts „Fußspuren ¬ Klangspuren“ individuell an die Freiwilligen angepasst, die den sechs Kilometer langen Weg laufen wollen. Es ist der Weg vom KZ-Außenlager Hersbruck bis zum Doggerstollen oberhalb des heutigen Happurger Stausees. Hier befand sich damals das Krematorium für die Toten, insgesamt liefen rund 10.000 Gefangene in drei Schichten durch die Dörfer, in Holzschuhen. 4.000 von ihnen überlebten diese Zeit nicht.
Die Schuhe tun bereits nach wenigen Schritten weh, beschreibt unter anderem Moritz, der 22-jährige Sohn von Harald Kienle, der den Weg zusammen mit dem 23-jährigen Till, seinem WG-Mitbewohner, gelaufen ist. „Als ich von Moritz von dem Projekt gehört habe, hab´ ich ihn gefragt, ob Harald mir auch ein paar Schuhe anpassen könnte. Wir hatten in der Schule natürlich im Unterricht das Reichsparteitagsgelände und das Doku-Zentrum durchgenommen, aber über die Sache in Hersbruck wusste ich ehrlich gesagt gar nichts.“ sagt Till. – „Wir waren mit der Schule in Auschwitz, aber ich hab' da eher wenig von mitgenommen.“ ergänzt Moritz. Für beide waren die historischen Vorgänge im KZ Hersbruck erstmal neu: Es war das Lager mit der höchsten Sterberate unter den Lagern „ohne Gas“, also ohne den Einsatz von Gaskammern. Wie Moritz geht es bis heute fast allen: Trotz der jahrzehntelangen, engagierten Arbeit des Vereins Dokumentationsstätte Hersbruck,ist eines der größten der 80 Außenlager des KZ Flossenbürg immer noch eine erinnerungspädagogische Leerstelle. Dieser Situation stellt Harald Kienle sich mit dem Projekt: Er irritiert, wirft Fragen auf und setzt sich mit einer Vielzahl in ihrem Aufkommen nicht steuerbaren Meinungen und Interpretationen auseinander. „Erinnerungskultur fängt von innen an. Ich versuche, die Menschen ins Jetzt zu bringen. Dabei geht es mir nicht um Reinszenierung, sondern um eine Einladung zum Dialog mit sich selbst und anderen“ sagt der Künstler.
Lehrer*innen haben schon Anfragen gestellt, ob man mit der ganzen Klasse zum Laufen kommen könnte. Dabei trägt das Projekt ein methodisches Tabu der NS-Erinnerungsarbeit in sich, auf das der überwiegende Großteil der Historiker*innen sich verständigt hat: Das Leid jener NS-Opfer ist schlicht nicht nachempfindbar. „Wenn man Besuchern in einer KZ-Gedenkstätte einen auch nur im Entferntesten authentischen Eindruck vom Alltag im KZ geben wollte, müsste man allen direkt beim Aussteigen aus dem Bus erstmal mit voller Wucht ins Gesicht schlagen.“ so hat Alexander Schmidt, Kurator am Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, das Problem einmal zusammengefasst. „Man kann KZ eigentlich nicht nachspielen.“
Das ist auch nicht Harald Kienles Absicht. Blasen an den Füßen, der Klang der schweren Holzschuhe auf dem Boden und die Erinnerung, die mit ihm aufkommt, all das prägt sich sicher nachhaltig ein, aber er ist doch nichts verglichen mit dem unvorstellbaren körperlichen, mentalen und seelischen Terror, der den Opfern des NS-Regimes angetan wurde. Verharmlosung also, Erinnerungskitsch?
Unbestreitbar ist der Eindruck, den die Erfahrung auf die Freiwilligen macht, das, was sich vielleicht mit „innerer Erinnerungsarbeit“ labeln lässt: Die Leute berichten von Wellen innerer Versenkung, Nachdenklichkeit und Empathie. Und dass mitunter alte Anwohner*innen auf sie zukamen, die sich noch an die damaligen Gefangenentracks und das Klacken derer Holzschuhe erinnern.
„Wir haben uns natürlich schon im Zug Gedanken gemacht, ob wir die Strecke in den Schuhen schaffen, und wie bequem sie wohl sein werden“, sagt Till im Interview. – „Wir hatten vorher eine längere Anprobe in Nürnberg.“ ergänzt Moritz. „Aber da ist man vielleicht 10 Schritte in dem noch nicht geformten Holzklotz gelaufen. Das war auf jeden Fall kein Vergleich zu dem, was man dann vor Ort erlebt hat.“ Und Till nochmal: „Nach den ersten zwei Schritten auf dem Parkplatz hab‘ ich mir gedacht, ach du Scheiße, das wird hart.“
Nach vier Wochen waren die Blasen und Wunden noch da, sagen die beiden. Ganz offensichtlich braucht es für die Generation von Moritz und Till neue Ansätze für Erinnerungsarbeit, denn nach dem einstündigen Gespräch ist eines klar: Die alten Strategien der Schulen und Museen, das Unmenschliche der NS-Zeit zu vermitteln, haben ihre Unmittelbarkeit in Teilen verloren. Mangelnden Biss kann man den beiden Jungs jedenfalls nicht vorwerfen.
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