Theobald O.J. Fuchs Ziegelstein am Start
#Hinten raus, #Kulturpreisträger, #Theo Fuchs, #Theo hinten raus, #Theobald O.J. Fuchs
War ich neulich dienstlich in Ziegelstein. Montagabend, Termin beim CURT-Chef, es geht um alles. Das Bier schmeckt, das kann der Lampe einfach außerordentlich gut: Bier besorgen. Irgendwann muss dann aber auch wieder Schluss sein, irgendwo halbwegs vor Mitternacht verabschiede ich mich sauber angeschlagen, aber gefühlt geradlinig. Laufe vor zum Fritz-Munkert-Platz, der mir komplett ausgestorben daherkommt. Nicht einmal der Oberpfälzer Meister-Metzger mit seinem mobilen Delikatessladen ist zu sehen.
Ich lenke meine Schritte souverän zum Eingang der U-Bahnstation. Dort die echte Unerwartet-Überraschung: Keine U-Bahn in Ziegelstein. Seit 21 Uhr fährt sie nicht mehr, Bauarbeiten, U-Bahnhof rappelfest verschlossen, Treten und Schreien ohne Reaktion. Kurzentschlossen VAG-Rad flott gemacht. Losgeradelt. Feste tretend stundenlange Abwägungen – über Leipziger Platz zum Rathenau? Oder Marienberg-Straße bis … äh, keine Ahnung. Am Wegfeld, Straßenbahn vielleicht? Zentimeter um Zentimeter schlurft das Rad mit mir oben drauf immer näher an die Kreuzung heran, schon kann ich die Kippenstummel im Rinnstein zählen. In letzter Sekunde fällt eine Ampel meine Entscheidung. Ich lenke hin zum grünen Licht. Wie immer in solchen Momenten singt in meinem Kopf Edith Piaf [1] »Non, je ne regrette rien« von einer Schellackplatte.
Immer Gedanken an Polizei im Kopf. Die Straßen unendlich leer, Montag Nacht wirklich nicht einmal die älteste Sau noch unterwegs. Wenn sich da ein einsamer VAG-Radfahrer schlingernd an die Radspur der Haupteinfallsstraße aus Richtung Nord-Nord-Ost herantastet? Bzw. sich redlich bemüht, drin zu bleiben? Und das ohne Handschuhe! Bei der Kälte! Im Streifenwagen satte 23 Grad, draußen um die zwölf. Gibt es da irgendeinen Zweifel an der Entscheidung? Genau: den Typen, der uns da nötigt, das warme rollende Polizeipupskabuff zu verlassen, den ficken wir bis zum Anschlag. Haben Sie was getrunken? Wissen Sie, was Sie hier tun? Organspendeausweis, bitte und zack-zack, etc.
Egal. Bis kurz vor Rathenau alles o.k. Räumlich gemeint, nicht zeitlich natürlich. Dann aber: Riesenbaustelle. Die vierspurige Straße aufgerissen, wie ein vom Orkan aufgewühltes Betonmeer. Alle Nebenstraßen der Einfachheit halber gleich mitzerfetzt. Aus den rot-weißen Baustellenabsperrungen haben die Bauarbeiter ein Labyrinth errichtet. Ultrakomplex, sie müssen Tage lang daran getüftelt haben und sich im Voraus königlich amüsiert haben. Darüber, dass angetüdelte Mitfünfziger auf einem rumpelnden VAG-Rad komplett die Orientierung verlieren, während sie versuchen werden, in den schmalen Behelfsgassen NICHT in Schlangenlinien zu fahren. Ich verirre mich sagenhaft innerhalb von eineinhalb Häuserblocks. Kurze Panik. Lebensbilanz-Geräusche. Eben noch gemütlich in Lampes Küche und nur eine kurze Stunde später völlig lost, vom Gnadenlos-Moloch Noris geschluckt.
Doch irgendwann plötzlich taucht der Ausgang auf, hier geht es hinein in die Altstadt. Glücksmoment! Das Rad findet wie von alleine einen Abstellbügel, und ich will das Schloss schließen. Das Ding aber will nicht. Schnappt nicht ein, sondern wieder auf. Nochmal. Nochmal. Nochmal. Es ist passiert: ich habe dieses Rad bis ans Ende meines Lebens ausgeliehen.
Andererseits: Niemand will am Rathenauplatz in die U-Bahn steigen. Wirklich niemand. Zumindest Menschen, die noch einen letzten Funken Anstand und Ehre besitzen. Rathenauplatz ist doof. Rathenauplatz ist komplett inakzeptabel. Der müsste dringend mal achtsamer kuratiert werden! Zum Teufel also, hinunter geht es die Äußere Laufer Gasse hinein ins Tal. Auf meinem jetzt persönlichen Leihrad.
Die Straßen wie ausgestorben, alles dunkel und tot. In der Stille surrt und brummt der ehemalige VAG-Drahtesel, der mehr Gene eines Traktors in seiner DNS hat als man es ihm ansieht. Am Fünferplatz zur Frauenkirche runter gerüttelt über sagenhaft krakelierten Asphalt. An der Kirchenseite, die man Hinterteil nennt, weil sie echt mächtig und rund ist, angehalten. Überall stehen VAG-Räder. Ein sicheres Zeichen, dass ich mich hier außerhalb der tödlichen Sperrzone befinde. Alles prima, die Hände nicht erfroren, noch kurz vor Mitternacht, Station Lorenzkirche in Sichtweite.
Vielleicht werde ich das Ding doch noch los, denke ich. Ich schließe den Bügel. Aber das Scheißding verriegelt nicht. Ich wiederhole die Bewegung gefühlt neunundsiebzig Mal. Ohne Erfolg: das gurkendumme Teil springt ein ums andere Mal wieder auf. Kein Piepton, kein beruhigendes grünes Blinken am hinteren Kotfänger. Jede Minute verzweifelter Versuche kostet mich eine Minute. Hilft nichts. Ich beginne mich durch den Kundendialog
zu klicken. Meine erste Meldung ist noch wortreich und ausführlich. Ich zeige an, dass ein Problem mit dem Schließmechanismus eines der Mietfahrräder dieses Anbieters vorliegt. Um mich als vertrauenswürdigen Stammkunden zu erkennen zu geben, erläutere ich, dass dies in letzter Zeit öfter vorkäme, was bedauerlich sei. Und beende meine Nachricht mit einer vorsichtigen Spekulation, ob man es hier nicht mit einer Schwachstelle der ansonsten sehr ausgereiften Fahrradverleihtechnologie zu tun habe.
Noch einmal rüttele ich an dem Hebel, stoße mit dem Fuß die Speichen des Hinterrades vor und zurück in der Hoffnung, dem Schließmechanismus einen letzten Stups zu geben, den er braucht, um seine gottverdammte und wahrhaft nicht zu schwierige Schließaufgabe zu erledigen. Ohne Erfolg.
Auf dem Weg über die Fleischbrücke fällt mir siedendheiß auf, dass ich die Nachricht an den falschen Kundendialog geschickt habe. Irgendjemand bei meinem Highspeed-Dealer wird sich am nächsten Tag wundern, was ich nachts mit dem Internetanschluss anzustellen versuchte. Ich beginne erneut in den Menüs zu suchen, stoße schließlich auch auf das richtige Fenster zur Texteingabe und erkläre nochmal meinen Verdacht, dass hier ein systematisches technisches Versagen vorläge. Umgehend trifft die erlösende Nachricht ein: »Wir sind morgen wieder für Sie zwischen 9 und 17 Uhr da. Ganz, ganz liebe Grüße, voll schade, bis total bald.«
Deshalb schreibe ich eine zweite Nachricht hinterher, in der ich mein eigentliches Anliegen schildere: »Sorry, vergessen. Schloss schließt nicht, wie schon gesagt.«
Meine Nachrichten müssen den Anschein erwecken, als kämen Sie von einem sinkenden Schiff. Vom verzweifelten Funker an Bord der Titanic.
Am Ende aber geht alles gut aus. Fahrrad sauber abgemeldet, U-Bahn nach Gostenhof tadellos, im Kühlschrank noch genau ein Bier. Also stimmt der Vergleich mit dem Funker auf der Titanic nur halb. Aber kein Wunder: der Rest von der Story vermutlich genauso.
[1] Ein, zwei oder drei Generationen vor unserer Zeit liebevoll »Der Spatz von Paris« genannter, von Millionen (unter die sich auch mein Großvater eingereiht hatte) heißhungrig angebeteter Weltstar des Chanson-Gesangs.
Vgl. YouTube bzw. Internet a.a.O.
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HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH AN UNSEREN NEUEN KULTURPREISTRÄGER, THEO!
HIER findet ihr ein Exklusivinterview. curt ist stolz wie Bolle!
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