Kleine Ausflüge: Egersdörfer und Jordan besuchen Derleth

FREITAG, 1. DEZEMBER 2023, ATZENHOF

#Egersdörfer, #Fotografie, #Günter Derleth, #Kleine Ausflüge, #Michael Jordan

Michael Jordan ging an etwa fünfundzwanzig Tauben in einem Wiesenstück in der Stadt Erlangen vorbei. Sie schienen den Regen, der auf sie niederfiel, vollständig zu ignorieren. Sie wackelten mit den Köpfen nach vorne und hinten und pickten in kurzen Schritten zwischen den feuchten Grashalmen. Er stellte sich Tauberich und Täubin in spezialangefertigter Regenkleidung vor, mit viergliedrigen Gummistiefeln über den Zehen. Egersdörfer saß auf einer grauen Metallbank am Bahnsteig in Fürth und biss in eine Butterbreze mit Camembert. Neben ihm spuckte ein junger Mann mit braunblond-melierten Haaren immer wieder zwischen seine Schuhe. Dann zog dieser mit nasalen Scheppern den Rotz bis in die Stirnhöhle hinauf, weil ihm offenbar die Spucke im Mund ausging. Egersdörfer erhob sich und ging ein paar Schritte. Kurz danach kam auch schon die S-Bahn, in die er einstieg.

Am Bahnhof in Vach stand Jordan bereits oben an der Treppe, die der Egersdörfer heraufgelaufen kam. Nachdem die zwei Herren einander begrüßt hatten, entnahm der Egersdörfer seinem Rucksack einen Regenumhang. Einige Zeit hantierte der Mann mit dem schütteren Haupthaar unter dem großformatigen Kleiderzelt und wusste kaum, durch welches Loch er Arme und Kopf stecken sollte. Jordan half von der anderen Seite. Dann wanderten die beiden nebeneinander die Hauptstraße entlang Richtung Atzenhof. Leicht nieselte es auf sie herab, als sie an einem umzäunten Loch in der Erde vorbeikamen. Grau und beige glotzten die Häuser am Straßenrand. Vor dem Gästehaus Kalb mit dem braungefliesten Erdgeschoss und den freundlich grünen Holzfensterläden bogen sie rechts ab in den Zenngrund. Den Solarberg ließen sie links liegen. Unter dem mächtigen grauen Aquädukt, in dem der Main-Donaukanal floss, liefen sie weiter, entlang dem grünen Deich der Wasserfahrstraße, um dann ein Weilchen später rechts abzubiegen. Aus dem Dachfenster des Gästehauses Atzenhof hingen zwei braune Schuttrüssel über einem orangefarbenen Container. Die Aufschrift „Fremdenzimmer“ stammte aus einer schon länger vergangenen Zeit.

In zweiter Reihe zur Straße befand sich das schwarze Tor zum Zaubergarten des Fotografen Günter Derleth. Der Lichtkünstler kam dem Jordan und dem Egersdörfer zwischen den hohen tropfenden Bäumen froh rufend entgegen und begrüßte sie sehr herzlich. Buntes Laub lag zwischen den Büschen, Halmen und Stämmen. Sie traten gleich ins verwachsene ehemalige Bauernhaus hinein in die gemütliche gute Stube und setzten sich an den Tisch, nachdem sie die Jacken abgelegt hatten. „Also, was ich anbieten könnte, wär ein Baumhaus. Dann hab ich eine begehbare Kamera, eine riesige, zwei Meter fuchzich, da oben stehen, wo ‚Camera Obscura‘ draufsteht. Dann hab ich noch von einem italienischen Künstler a Wildsau gekauft, ein Kunstobjekt, ganz neu, steht auch vor der Tür. Sonst gibts wenig Attraktionen. Außer halt viel Natur“, sagte der Künstler zum Jordan, während dieser gerade seine Zeichenutensilien ausbreitete. Im Nu waren drei Tassen Espresso zubereitet und serviert, mit Wasser aus kleinen Gläsern und drei Muffins.

Das Gespräch kam auf die Hersbrucker Bücherwerkstatt. Es handelt sich um eine verschworene Gemeinschaft, die seit über fünfzig Jahren im Oberland in einem kleinen Gelass in der Stadtmauer eigenwillige schöne Druckerzeugnisse auf altväterlichen Maschinen verfertigt. „Es ist lustig, dass du die Hersbrucker erwähnst“, sagte der Egersdörfer zum Derleth. „Ich hab edz seit gestern Nachmittag alle Derleth-Bücher, die in meiner unmittelbaren Umgebung greifbar waren, durchgeabeitet und musste da oft auch an die Hersbrucker denken mit ihren alten Maschinen und dem alten Handwerk.“

„Ich hab ja Schriftsetzer gelernt“, antwortete der Günter. „Aber ich hab halt leider des machen müssen, was die anderen mir vorgegeben haben. Hätte es damals schon die Hersbrucker gegeben, wäre ich vielleicht auch dabei gewesen. Mir war des halt a weng zu wenig kreativ. Die Arbeit fand ich scho’ toll. Handsatz gfällt mir immer noch total gut. Aber ma’ musste immer nur des nachmachen was irgendwelche Grafiker – irgendwelche maan’ ich edz ned negativ – aber halt vorgegeben haben. Irgendwas Kreatives, hab ich mir dacht. Warum, weiß ich eigentlich aa net. Grafiker werden, irgendwie und so. Aber ich hab ja ka Ausbildung ghabt und gor nix. Ich bin ja so a typisches Kriegskind mit arme Eltern. Mit vierzehn hat’s ghaaßn: Edz’ wird gearbeitet und net studiert. So wor’s halt damals. Hab’ i hald immerhin Schriftsetzer glernt. Woar ja ned schlecht. Weil in meiner Familie woar a Cousin, der wor fünf Jahr’ älter wie ich. Der war aa Schriftsetzer. Und da hat’s halt ghaaßn: Mach hald des, mach hald des, mach hald aa an Schriftsetzer. Die wusstens ja ned anders. Was willst’n mit vierzehn? Was waßdn da von irgendan Beruf? Goar nix. Ich bin aus der Volksschul’ raus und woar a glanns Bürschla mit vierzehn Johr. Und dann hab’ ich halt dacht: dann lern ich halt Schriftsetzer. Erst hab ich in Stuttgart noch gearbeitet und dann bin ich in die Schweiz. Die Schweiz war damals ein Eldorado für Typografie. Schweizer Plakate waren weltberühmt in diesen sechziger Jahren, wo des war. Und die haben ja Schriftgestalter gehabt. Frutiger und wie die alle ghaaßn ham. Weltklasse. Da hab ich mich halt beworben in einer kleinen Druckerei in Zürich. Bin aa glei’ gnommer worn. Und was ich total irrsinnig gfunden hab: Ich wor damals zwanzig oder was. Da binni hingfahrn und hab mi da vorgstellt. Und da hat mi der Chef vo der Druckerei ins Gotthard – weißt du, was des is? – des is a Drei-Sterne-Restaurant in der Bahnhofstraße, da hat der mich zum Mittagessn eigladn. A zwanzgjährigs Bürschla, der die Welt überhaupt ned kennt hat. Do hab ich mir gedacht: des gibts in Deutschland ned. Des fand ich total irre. Ich wor tiefst beeindruckt.“ Derleth lacht kurz erfreut auf und erzählt sofort weiter: „Und der hat mi aa glei angstellt. Und da hab i aa glei’ gearbeitet. Und da war hundertfuchzg Meter weiter die Kunstgewerbeschule Zürich. Weltberühmt, ne. Ich waß gor ned, was da für eine Elite herauskommt an Grafikern und Gestaltern, Fotografen, Architekten aus dieser Schule. Da bin ich immer hin und hab’ a weng gschaut. Und hab’ dacht: Mensch, vielleicht Grafiker. Aber ich konnt’ halt ned studieren. Wie kannst denn des machn’, dassd da überhaupt in so a Schul kommst? Und dann war da a Ausstellung. Schwarzweiß-Fotografie von Werner Bischof. Schweizer Legende. Ganz jung tödlich verunglückt bei einer Expedition in Südamerika. Ein Reportagefotograf. Der hat da ausgestellt, und ich hab in dieser Ausstellung beschlossen, Fotograf zu werden. Und hab’ noch nie eine Kamera in der Hand gehabt. Es war irre. Aber mich hat das so fasziniert. Die Vorstellung: Bilder machen. Und dann hab ich dort gekündigt. Bin nach Nürnberg wieder. Es war die einzige Möglichkeit. Da hab ich beschlossen: Ich werde Fotograf. Ich wusste überhaupt ned wie des geht. Aber warum erzähl’ ich edz mei Leem? Des is’ doch uninteressant.“

Diesen abschließenden Satz sprach Günter Derleth in das Aufnahmegerät an diesem verregneten Novembernachmittag. Am nächsten Tag hörte sich der Egersdörfer diesen Satz noch einmal an und wunderte sich, weil er schon viele uninteressante Dinge in seinem Leben Leute sagen hat hören. Die Lebensgeschichte des Günter Derleth gehörte aber bestimmt nicht dazu. Immer noch sich wundernd schaltete er das Aufnahmegerät ab. Dann wusch er einen Apfel und teilte ihn mit einem Messer in zwei Teile. Zur gleichen Zeit hörte der Herr Jordan einen Radiobeitrag über einen französischen Roman, der vor bereits fünfzig Jahren erschienen war. Auf dem Schreibtisch lag die Tasche, aus der das Klemmbrett ragte, auf dem er Günter Derleth portraitiert und unter anderem auch einen kleinen Ausschnitt vom Bahnhof in Vach festgehalten hatte.  

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Matthias Egersdörfer:     www.egers.de
Michael Jordan:     www.ansichten-des-jordan.de

Der Egersdörfer und Michael Jordan machen gelegentlich gemeinsame Ausflüge. Dann zeichnet der Jordan den Teil der Welt, den er von seinem Platz aus sehen kann. Der Egers schreibt, was er erblickt.

Egis Termine in der Region im Herbst    
05.01.  // LESUNG MIT EGERSDÖRFER & GRÖSCHEL:
Das Lachen des Grünspechts / Kulturbahnhof Hersbruck
09.01.  // EGERSDÖRFER & BRUCKMAIER: Pop Goes the Brain – ein
Leichentrunk für die Toten des Pop-Jahrgangs 2023 / Bernsteinzimmer
16.01. // EGERSDÖRFER & GRÖSCHEL FEAT. SUPPKULTUR:
Gostner Hoftheater Loft

Michael Jordans Ausstellungen
10.12. - 28.04. // ERLANGEN UND DIE KUNST / Stadtmuseum Erlangen
25.01. - 28.01. // FESTIVAL INTERNATIONAL DE LA  Dessinée d‘Angoulême / Frankreich / signiert er seinen Comic „Pourquoi nous sommes las“ am Stand der Editions Frémok. www.bdangouleme.com




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#Egersdörfer, #Fotografie, #Günter Derleth, #Kleine Ausflüge, #Michael Jordan

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AKADEMIE DER BILDENDEN KüNSTE. Text Matthias Egersdörfer

Der Moll war ein sehr langsamer Mensch. Er fuhr zum Beispiel mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit Fahrrad. Wäre er auch nur eine Kleinigkeit langsamer gefahren, wäre er schlichtweg umgefallen. Sah man den Philipp zum Beispiel von der Weite aus auf seinem alten Holland-Rad, musste man annehmen, dass er völlig reglos darauf saß und sich nicht bewegte. Auf der anderen Seite verfügte der Moll über eine blitzschnelle Auffassungsgabe. Jahrelang waren wir gemeinsam zum Christlichen Verein Junger Menschen hinmarschiert und hatten mit schier unermesslichem Übermut die Bibel bis knapp zum Irrsinn zerdeutet, hernach in herzlicher Zugewandheit mit den anderen Christenknaben bis zum Ohrenglühen gerauft und auch ansonsten keinen evangelischen Blödsinn ausgelassen. Dann, von einem Tag auf den anderen, war der Philipp nicht mehr hingegangen. Hat wortlos die Kündigung eingereicht. In Ewigkeit. Amen. Aus die Maus. Ich habe es am Anfang nicht begriffen. Es hat einige Zeit gebraucht. Das holdselige Himmelreich hatte seine Grenzen, von engstirnigen Glaubensbeamten errichtet. Da konnte man sich sauber daran derrennen. Und zum Müffeln hat es allenthalben auch schon angefangen gehabt. Junge Männer waren dazu gekommen, die sich für etwas besseres hielten, und vorbei war es mit unserem klassenlosen Bubenclub. Der Moll hatte einen Riecher. Dann hat er sich verzupft. Ohne Getu. Ohne Spektakel und großes Reden. Ich habe länger dazu gebraucht, das zu begreifen.
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HERSBRUCK. Bahnhof FÜRTH

Auf der blauen Himmelsleinwand über dem sandsteinernen Bahnhofsgebäude wurde ein Pinsel mit weißer Tünche immer wieder über die ganze Fläche abgestreift, um die Farbe aus den Borsten zu bekommen. Daneben im grauen Hochhausklotz glotzten die hundert schmalen Fensteraugen in müder Verschlagenheit. Auf den Bahnsteigen hingen blau gerahmte Displays in der Luft und zeigten den Reisenden die nächsten und übernächsten Anschlüsse hin zu anderen Bahnsteigen. Ein Mädchen mit weißen Steinchen im Ohr bewegte die kreidebleichen Turnschuhe mit ihren munter wiegenden Füßen und sprach und lachte mit einer Person an einem anderen Ort. Sanft griff sie in eine lange Strähne und zwirbelte das blonde Haar. Der Mann daneben löste seine Maske vom Ohr und trank vorsichtig aus der Mineralwasserflasche. Ein anderer hielt sich fast klammernd am Riemen der Tasche.

Eine Bahn fuhr heran. Seine Beine liefen zu den sich öffnenden Türen. Er verschwand. Die Türen schlossen sich. Die Bahn fuhr davon. Eine Frau mit gradem schwarzen Scheitel ließ eine Tasche unter dem Hintern nach vorne und hinten baumeln. Sie trug noch einen Beutel über der Brust und einen Rucksack am Rücken, als wolle sie sich von allen Seiten beschweren, um der Gefahr zu entgehen davonzufliegen wie der fliegende Robert. Dann pfiff hinten eine braune Lok, die sogleich geschäftig vorbeirollte, als habe sie im Lotto gewonnen. Dem geduldigen Postgebäude zur linken war ein Lederdach aufgesetzt worden. Wie braune Kappen auf den Köpfen von Knechten die im Viereck, Schulter an Schulter stumpf mit gestrecktem Rücken nebeneinender harren, stand es da und wartete auf Befehle. Direkt davor hatte man schwarze und gelbe Tonnen in einen engmaschigen Zwinger gesperrt. Die Quer- und Längsverstrebungen eines grünen Metallmasten überkreuzten sich im Blick darauf. Mit einer daran befestigten grauen Stangenkonstruktion wurde die elektrische Oberleitung recht aufwendig in die Luft gehalten. Weiße parallele Streifen flankierten im Sonnenlicht die Bahnsteigkante. Der Kabarettist stieg in die nächste Bahn nach Hersbruck ein und setzte sich zum Grafiker, der schon  im Waggon saß.
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Kultur  19.10.-15.11.2024
NÜ/FÜ/ER.
Text: Tommy Wurm
Oktober und November sind die perfekten Kabarett- und Comedy-Monate. Draußen ist es dunkel und die Seele braucht Wärme, Freude und Humor. 
Hier eine subjektive Auswahl, die euch den Herbst versüßen soll. Witzig, oder?

Fee Bremberck  –  Erklär’s mir, als wäre ich eine Frau 
19.10., Burgtheater Nürnberg
Die 30-Jährige Münchnerin Felicia “Fee“ Brembeck ist eine vielseitige Künstlerin. Sie schreibt Bücher, gewinnt Preise beim Poetry-Slam und hat einen Masteranschuss in Operngesang. Ihr aktuelles Programm “Erklär’s mir, als wäre ich eine Frau“ dreht sich um das leidige Thema Mansplaining. Gutgebildete Männer in den besten Jahren erklären jüngeren Frauen die Welt. Klar, sie meinen es doch nur gut, oder? Viele wahrscheinlich schon, aber das ändert ja nichts an der Tatsache, dass diese verbale Übergriffigkeiten schon immer ein No-Go sind. Fee erörtert dieses Thema mit viel Witz und Charme, nicht ohne die Torstens dieser Welt (die meisten Mansplainer dieser Welt heißen ihrer Meinung nach Torsten) klar zu benennen und in die Schranken zu weisen. Macht Spaß.   >>
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