Kleine Ausflüge vom Egersdörfer und dem Herrn Jordan: Johannisfriedhof

SAMSTAG, 1. JULI 2023, JOHANNISFRIEDHOF

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10. Mai ‘23

Wenn man in Nürnberg die Lindengasse hinaufgeht, links vorbei an dem lauschigen Wirtsgarten, in dem es sich im Sommer auf sehr angenehme Weise sitzen und schmausen lässt, gelangt man ein kleines Stück weiter auf eine Einbahnstraße, deren Name „Am Johannisfriedhof“ lautet. Du läufst an der Mauer entlang und wiederum links kannst du durch ein Tor treten und stehst dann mit drei Schritten schon auf der historischen Ruhestätte. Dort saß an jenem Mittwoch, um halb sechs am Abend, der Egersdörfer auf der Bank gleich hinter dem Eingang, mit dem Rücken zur sandsteinernen Einfriedung.

Eine Zeit lang schaute er von oben bis unten in den Himmel. Dann schrieb er in sein Buch auf eine leere Seite: Neben der verhangenen Sonne steht grau verdunkelt ein flacher See. Dahinter ruht scheinbar zerfranstes Wolkenweiß. In den Lücken der Schlieren blinzelt es blau. Lautlos und sachte umwandeln sich die Luftgestalten. Halblaut versuppt ein konturloser Verlauf über den rötlichen Häuserdächern, die hinter der Brückenstraße den Blick beenden. Also, um genau zu sein, schaute der Egersdörfer immer eine Weile und dann schrieb er wieder. Irgendwann zwischen dem Himmelsgucken und Wörterschreiben wurde er neben sich eines Menschen gewahr, der lautlos erschienen war. Der Egers sagte überrascht: „Schau, schau.“ Der so Angesprochene blickte auf den sandigen Boden und murmelte eine Begrüßung, die sich in ihrer Bedeutung nur erahnen ließ. Dann ließ sich aus seinem Sprechen ungefähr Folgendes verstehen: „Der Stau. Verkehr der Ruh- und Ortlosen. Es resultierte keine Pünktlichkeit aus der Fortbewegung. Ich bitte das Versäumnis der vereinbarten Zeit zu entschuldigen. Machtlos ist der Fisch im Schwarm und kann nur bedingt die Richtung seines Weges selbst bestimmen.“ Bei dem Mann handelte es sich um den Herrn Michael Jordan. Dieser setzte sich neben den Freund auf die Holzbank. „Der Mensch verirrt sich ständig mit steigender Geschwindigkeit bei der Flucht vor sich selbst“, sagte der Egers und malte dabei einen Kringel hinter das Wort „beenden“. Jordan brummte, dann nahm er ein Klemmbrett aus seiner Tasche, in das ein Blatt Papier gekrallt war, auf dem sich mehrere Vierecke in verschiedenen Größen befanden. Er blickte vor sich. Dann begann er mit einem Stift mit dünner Spitze in einem der Rahmen zu zeichnen. Egersdörfer wiederum schrieb gleich hinter der rundlichen Kritzelei weiter: Durch das grüne Laub der Bäume rauscht gelegentlich sanft anschwellend der Wind. Verstummt. Dann raunt er wieder und steigert sich zu einem Tosen. Fern singen die Vögel unter leise dröhnenden Flugzeugen. Motorengeknatter umgürtelt den Totenacker. Die Johannisstraße entlang schnauft scheppernd die Straßenbahn im langen Atmen. „Ich möchte die Position wechseln“, sprach der Jordan und stand auf. Der Egersdörfer lief ihm nach. Sie trabten auf den schmalen Wegen zwischen den Gräbern zu der Bank vor dem Andachtsraum für die Bekenntnislosen und setzten sich. Egers horchte. Dann schrieb er: Der Soundcheck im soziokulturellen Zentrum vertrommelt das Sechs-Uhr-Läuten. Aufrechte Steinkreuze wie Ausrufezeichen. Grabplatten aus Sandstein stehen in Reihen neben- und hintereinander. Grün und braun umkleidet das Moos ihre Kanten. Orange und rot blühen die Blumen darüber in abgestellten Schalen. Der Jordan sagte: „Ich muss mir das Problem aus der Nähe ansehen.“ Er erhob sich und lief aus dem Blickfeld vom Egersdörfer. Gesangslinien erscheinen und verschwinden wieder. Koboldgrüne Engel spreizen ihre schwarzen Flügel. An dem roten Kirchlein für die Verabschiedungsfeiern der toten Christen haben sich zwei Holztürmchen angelehnt mit spitz zulaufenden Mützendächern. Jetzt erscheint der kleine ängstliche König des Johannisfriedhofs. Ein Hase mit langen Löffeln hoppelt ein Stück und setzt sich auf die Hinterbeine. Er hält Ausschau nach seiner Gemahlin, dem Mundschenk und dem Kapellmeister. Die abendliche Feierlichkeit muss noch besprochen werden. Dann hoppelt er lautlos seinen vielfältigen Verpflichtungen hinterher. So schnell, wie ich diesen Satz nicht zu Ende schreiben kann. „Das Davor und das Dahinter. Es läuft mir davon“, sagte der Jordan mit größerem Abstand zum Egers auf der Holzbank. „Wie seine Majestät der Hase“, flüsterte der Egers in sein Schreibheft. Namen und Jahreszahlen in Stein graviert oder auf schwarzen Epitaphien auf den Gräbern der Familien. Egers erhob sich und schrieb, was er im gemächlichen Vorübergehen las: In Gottes Ratschluß steht Schweigen geschrieben. Es sehen sich wieder die sich lieben … Hier ruhen im Namen Gottes dem barmherzigen Erbarmer… Frieda, Gundaliese, Simon, Marie, Lisette, Franz, Sophie, Georg. „Mich fröstelt die Kälte. Vielleicht ist es auch der viele Tod. Und mein kalter Hintern bedarf der Wärme“, jammerte der Egersdörfer in Fröhlichkeit. Der Jordan entgegnete: „Dieser Perspektive muss ich noch die Haare kämmen. Es wird nicht länger dauern, als ein Badewasser einzulassen.“ – „Wenn mir der Hintern abfällt, malst mir halt einen Neuen“, sagte darauf der Egers. Dann horchte er und schrieb: Jetzt krachen die Becken. Die Gitarre setzt ein. Schnell klopft der Takt darüber. Gesang. Plötzlich Ruhe. Dann tiriliert, pfeift und schnarrjuchzt im Jubel ein Vogelsänger in nicht nachlassender Verzückung. Weinrot tanzt ein kleiner Busch auf der Stelle. Kleine Primeln stehen stur und wackeln hilflos mit den Blättern neben nicht erleuchteten Grablichtern. Ein Kind wird im Kinderwagen verschoben. Schuhuguhurruht die Taube mit ihrem traurigen Temperament zum Abschied. „Du, Michael. Ich habe gerade das Wort ‚Abschied’ geschrieben“, rief der Egersdörfer zum Jordan. Darauf dieser: „Mein Blick ist jetzt auch festgehalten wie ein kleiner Vogel in der warmen Hand.“ Beide packten ihre Sachen zusammen und liefen zum Ausgang. Schon kam ihnen ein robuster Mann entgegen, der nicht sparsam auf den Armen tätowiert war und mit einer großen Glocke ständig läutete, so dass man es weithin vernehmen konnte. Er sagte, sie sollten den gegenüberliegenden Ausgang nehmen, um hinauszukommen. Genau das taten die beiden.

Matthias Egersdörfer: www.egers.de
Michael Jordan: www.ansichten-des-jordan.de

Der Egersdörfer und Michael Jordan machen gelegentlich gemeinsame Ausflüge. Dann zeichnet der Jordan den Teil der Welt, den er von seinem Platz aus sehen kann. Der Egers schreibt, was er erblickt.




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HERSBRUCK. Bahnhof FÜRTH

Auf der blauen Himmelsleinwand über dem sandsteinernen Bahnhofsgebäude wurde ein Pinsel mit weißer Tünche immer wieder über die ganze Fläche abgestreift, um die Farbe aus den Borsten zu bekommen. Daneben im grauen Hochhausklotz glotzten die hundert schmalen Fensteraugen in müder Verschlagenheit. Auf den Bahnsteigen hingen blau gerahmte Displays in der Luft und zeigten den Reisenden die nächsten und übernächsten Anschlüsse hin zu anderen Bahnsteigen. Ein Mädchen mit weißen Steinchen im Ohr bewegte die kreidebleichen Turnschuhe mit ihren munter wiegenden Füßen und sprach und lachte mit einer Person an einem anderen Ort. Sanft griff sie in eine lange Strähne und zwirbelte das blonde Haar. Der Mann daneben löste seine Maske vom Ohr und trank vorsichtig aus der Mineralwasserflasche. Ein anderer hielt sich fast klammernd am Riemen der Tasche.

Eine Bahn fuhr heran. Seine Beine liefen zu den sich öffnenden Türen. Er verschwand. Die Türen schlossen sich. Die Bahn fuhr davon. Eine Frau mit gradem schwarzen Scheitel ließ eine Tasche unter dem Hintern nach vorne und hinten baumeln. Sie trug noch einen Beutel über der Brust und einen Rucksack am Rücken, als wolle sie sich von allen Seiten beschweren, um der Gefahr zu entgehen davonzufliegen wie der fliegende Robert. Dann pfiff hinten eine braune Lok, die sogleich geschäftig vorbeirollte, als habe sie im Lotto gewonnen. Dem geduldigen Postgebäude zur linken war ein Lederdach aufgesetzt worden. Wie braune Kappen auf den Köpfen von Knechten die im Viereck, Schulter an Schulter stumpf mit gestrecktem Rücken nebeneinender harren, stand es da und wartete auf Befehle. Direkt davor hatte man schwarze und gelbe Tonnen in einen engmaschigen Zwinger gesperrt. Die Quer- und Längsverstrebungen eines grünen Metallmasten überkreuzten sich im Blick darauf. Mit einer daran befestigten grauen Stangenkonstruktion wurde die elektrische Oberleitung recht aufwendig in die Luft gehalten. Weiße parallele Streifen flankierten im Sonnenlicht die Bahnsteigkante. Der Kabarettist stieg in die nächste Bahn nach Hersbruck ein und setzte sich zum Grafiker, der schon  im Waggon saß.
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AKADEMIE DER BILDENDEN KüNSTE. Text Matthias Egersdörfer

Der Moll war ein sehr langsamer Mensch. Er fuhr zum Beispiel mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit Fahrrad. Wäre er auch nur eine Kleinigkeit langsamer gefahren, wäre er schlichtweg umgefallen. Sah man den Philipp zum Beispiel von der Weite aus auf seinem alten Holland-Rad, musste man annehmen, dass er völlig reglos darauf saß und sich nicht bewegte. Auf der anderen Seite verfügte der Moll über eine blitzschnelle Auffassungsgabe. Jahrelang waren wir gemeinsam zum Christlichen Verein Junger Menschen hinmarschiert und hatten mit schier unermesslichem Übermut die Bibel bis knapp zum Irrsinn zerdeutet, hernach in herzlicher Zugewandheit mit den anderen Christenknaben bis zum Ohrenglühen gerauft und auch ansonsten keinen evangelischen Blödsinn ausgelassen. Dann, von einem Tag auf den anderen, war der Philipp nicht mehr hingegangen. Hat wortlos die Kündigung eingereicht. In Ewigkeit. Amen. Aus die Maus. Ich habe es am Anfang nicht begriffen. Es hat einige Zeit gebraucht. Das holdselige Himmelreich hatte seine Grenzen, von engstirnigen Glaubensbeamten errichtet. Da konnte man sich sauber daran derrennen. Und zum Müffeln hat es allenthalben auch schon angefangen gehabt. Junge Männer waren dazu gekommen, die sich für etwas besseres hielten, und vorbei war es mit unserem klassenlosen Bubenclub. Der Moll hatte einen Riecher. Dann hat er sich verzupft. Ohne Getu. Ohne Spektakel und großes Reden. Ich habe länger dazu gebraucht, das zu begreifen.
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TAFELHALLE. Es ist ja nicht so, als ob der feine Herr Matthias "Egi" Egersdörfer in der Vergangenheit von den Preisjurys ignoriert und übergangen worden wäre. Das nicht selten unflätige Gebaren dieses grob wirkenden Mannes wird seit 2007 mit verblüffender Regelmäßigkeit ausgezeichnet: Hamburger Comedy Preis, Kabarett Kaktus, Passauer Scharfrichterbeil, Stuttgarter Besen, Böblinger Fingerhut, Hassfurter Warentrenner, Göppinger Beutel, ... Einer fehlte! Und nunmehr endlich hat unser Achill den Olymp erklommen und darf sich den, noch dazu von seiner Geburtsstadt gestifteten und vom dort ansässigen Burgtheater vergebenen, Deutschen Kabarettpreis in seine stets penibel polierte Preisvitrine stellen. Er ist mit 6.000 Euro dotiert, was für einen A-Prominenten aber zweitrangig sein dürfte und wahrscheinlich mittlerweile automatisch an ein Witwen- und Waisenhaus überwiesen wird.
Aber im Ernst! Der curt ist mehr als stolz über ein Wort, das nur aus fünf Buchstaben besteht, weil wir das sagen dürfen: UNSER Egi gewinnt den Deutschen Kabarettpreis 2024. Er ist nicht nur, auch das dürfen wir hoffentlich sagen, ein Freund des Hauses, er ist auch, denn einige Gesichter hat der curt bereits kommen und gehen sehen, er ist, das dürfte korrekt so sein, unser langjährigster Schreiber, der seit hunderten und hunderten von Ausgaben unser schönes Heft einleitet. Der Herr Egersdörfer ist einer, der nicht nur, wie es die Jury beschreibt, mit Mut, Vielseitigkeit und Beharrlichkeit seinen Platz in deutschen Kabarettszene erobert hat und mit seinem Bühnenego auf manchmal verstörende Weise Schmerzgrenzen auslotet, nein, er ist auch einer, der sich trotz hallenfüllender Tourneetätigkeit landauf, landab und einem Millionenpublikum im Öffentlich Rechtlichen Fernsehen, nicht zu schade ist, mit absoluter Verlässlichkeit sein Textchen für die kleine Kulturpostillenklitsche in der Heimat abzuliefern. Damit unsere Leser:innen sich in jedem Heft wenigstens für die zwei bis vier Seiten auch mit Literatur mit Anspruch auseinandersetzen dürfen. "Im deutschsprachigen Kabarett gehört Matthias Egersdörfer zu den ganz großen Geschichtenerzählern" – und im Nürnberger Kulturmagazinjournalismus erst recht!
Vielen Dank, Matthias, und herzlichen Glückwunsch! Er trifft bestimmt nicht den Falschen, dieser Preis.
www.egers.de

Förderpreis LARA ERMER
Der Förderpreis des Deutschen Kabarett-Preises für das Jahr 2024, dotiert mit 2000 Euro, vergeben vom nürnberger burgtheater, geht an LARA ERMER, geboren in Fürth, mittlerweile leider abgewandert, aber immer noch auf den hiesigen Bühnen zu sehen. Lara Ermer besitzt die Gabe aktuelle Zeitgeistthemen so zu beleuchten, dass daraus absurd-komische Miniaturen entstehen. Thematisch führt sie dabei souverän die satirische Pionierarbeit ihrer Vorgängerinnen fort. Den jungen Frauen im Kabarett gibt Lara Ermer eine starke Stimme. Bitte mehr davon!
www.laraermer.com

Sonderpreis SEBASTIAN 23
Sebastian Rabsahl, auf der Bühne bekannt als Sebastian 23, ist ein Pionier der Poetryslam-Szene. Er verbindet gekonnt und zeitgemäß Wortspiel, Musik, literarische Kurzformen und Politik. Mit seinem kabarettistischen Schaffen bespielt er alle aktuellen Formate der öffentlichen Präsenz gleichermaßen. So überwindet er virtuos die Genregrenzen und erweitert den Spielraum für seine Themen.
www.sebastian23.org

Der Verleihung, moderiert von Luise Kinseher, findet am 11.01. in der Tafelhalle statt.
www.burgtheater.de

Am 24.01. präsentiert der Herr Egi dann sein neues Programm im Gutmann am Dutzendteich:
www.gutmann-nuernberg.de  >>
Kultur  19.10.-15.11.2024
NÜ/FÜ/ER.
Text: Tommy Wurm
Oktober und November sind die perfekten Kabarett- und Comedy-Monate. Draußen ist es dunkel und die Seele braucht Wärme, Freude und Humor. 
Hier eine subjektive Auswahl, die euch den Herbst versüßen soll. Witzig, oder?

Fee Bremberck  –  Erklär’s mir, als wäre ich eine Frau 
19.10., Burgtheater Nürnberg
Die 30-Jährige Münchnerin Felicia “Fee“ Brembeck ist eine vielseitige Künstlerin. Sie schreibt Bücher, gewinnt Preise beim Poetry-Slam und hat einen Masteranschuss in Operngesang. Ihr aktuelles Programm “Erklär’s mir, als wäre ich eine Frau“ dreht sich um das leidige Thema Mansplaining. Gutgebildete Männer in den besten Jahren erklären jüngeren Frauen die Welt. Klar, sie meinen es doch nur gut, oder? Viele wahrscheinlich schon, aber das ändert ja nichts an der Tatsache, dass diese verbale Übergriffigkeiten schon immer ein No-Go sind. Fee erörtert dieses Thema mit viel Witz und Charme, nicht ohne die Torstens dieser Welt (die meisten Mansplainer dieser Welt heißen ihrer Meinung nach Torsten) klar zu benennen und in die Schranken zu weisen. Macht Spaß.   >>
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