Theobald O.J. Fuchs: Mit Auto nach Berlin – die ersten 202 Kilometer
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Früher machten wir das regelmäßig. Fünf Stunden quer durch die DDR, vier Jungs im Auto nach Berlin. Den Kleinwagen von einer der Mütter geliehen, fürs Benzin die Spargroschen zusammengelegt, Dosenbier als Wegzehrung und Punkmusik aus den Lautsprechern. Bis auf den Fahrer hatten am Ende alle einen anständige Seier im Giebel sitzen, wenn kurz vor dem Übergang Dreilinden nach Westberlin der sowjetische Panzer auf seinem Betonsockel in Sicht kam. Fünf Stunden Fahrt auf einer Autobahn, die Interzonenautobahn hieß und an der es Raststätten gab, wo in seltsamen Läden Westprodukte verkauft wurden. Die Waren stammten angeblich aus Westpaketen, die von der Staatssicherheit abgefangen und geplündert worden waren.
Außerdem bot die DDR dort einen gastronomischen Service namens Mitropa-Gaststätte an. Schreckliche Wirtschaften, die so attraktiv wie sowjetische Popmusik oder sibirische Schokolade waren. Ein einziges Mal probierten wir es mit einem Kaffee. Der Kellner war nicht einverstanden mit der Bezahlung in D-Mark. Er wollte das Restgeld nur in Ostmark wechseln, für die wir wiederum jedoch keine Verwendung hatten, so dass wir ratlos mit den 28 Ostpfennig aus Alublech dasaßen, die wir als Rückgeld für unsere eine Westmarkmünze bekamen. Für drei Tassen Kaffee wohlgemerkt. Der schmeckte wie Braunkohleteer mit einem Schuss Hundeschweiß.
Der erste Teil der Strecke von Hormersdrof bis kurz hinter Hof war langweilig. Oberfranken war damals Zonenrandgebiet, es gab keinerlei Verkehr, die Einwohner saßen hinter sieben bewaldeten Hügeln in sieben finsteren Tälern und schnitzen für Fördergelder Holzschuhe. Wir rauchten ununterbrochen und pumpten das Export-Pils aus den Weißblechkanistern ab. Davon hatten wir drei oder vier ganze Paletten im Kofferraum, denn einer der Mitfahrer stammte aus einer Brauerei. Vor der Abfahrt hatten wir auf dem Hof des Fabrikgeländes angehalten, unser Freund hatte einen Arbeiter herbeigewunken und ihn angewiesen, mit dem Gabelstapler einen Block Bier in den Kofferraum zu zentrieren. Erst dann konnte es ernsthaft losgehen.
Auf einer der Fahrten, bei der wir solchermaßen opulent versorgt worden waren, gerieten wir systemkonform hinter Leipzig in einen real existierenden Stau. Wir kurbelten die Fenster herunter, obwohl die vielen Trabis um uns herum mit ihrem Zwei-Takter-Gemisch stanken wie – nun ja, wie ein paar Hundert kaputte Rasenmähermotoren. Blaue Rauchwolken standen in der Luft über den Autokolonnen, aber die Luft im Wagen war mittlerweile noch schlechter. Wir drehten den Stereo-Kassettenrekorder voll auf und sangen die Hits der Neuen Deutschen Welle mit. »Sonderzug nach Pankow«, »Skandal im Sperrbezirk«, »Hurra, hurra die Schule brennt« – solcherlei Quatsch.
Die meisten Ossis lachten und winkten uns zu, und ein paar ganz besonders vorwitzige kurbelten auch die Scheiben runter und fragten, ob sie die Dosen haben könnten. Ja klar, sagten wir, wir haben den ganzen Kofferraum voll damit. Sie lehnten höflich ab und erklärten, sie hätten gerne die leeren Dosen, denn trinken dürften sie sowieso nicht im Auto. Die leeren Dosen allerdings seien unter Sammlern ein Vermögen wert. Jedenfalls ein Vermögen in Form von Naturalien – vom Laster gefallene und wie durch ein Wunder heil gebliebene Dachziegel, riesige Gaszylinder mit sowjetischem Raumduftspray, Jeansjacken mit Mickey-Mouse-Aufsticker aus Westberlin, eine Drei-Mast-Plaste-Jacht in Swinemünde und so weiter.
Schon der Grenzübertritt war ungeheuer spannend. Würden sie einen auch dieses Mal wieder reinlassen? Oder würde man verhaftet werden, weil man beim letzten Transit – ohne es selbst zu bemerken – eine staatsgefährdende Straftat begangen hatte? Würden wir ohne jedes weiteres Lebenszeichen verschwinden und am Dienstag nach Ostern einfach nicht mehr in der ersten Stunde Latein auftauchen? Schon das achtlos weggeworfene Einwickelpapier eines amerikanischen Kaugummiproduktes war angeblich schon dem einen oder anderen unvorsichtigen Touristen zum Verhängnis geworden!
Wir waren alle innerhalb von ein paar Monaten 18 geworden und hatten niegelnagelneue Personalausweise in den Taschen stecken. Graue Büchlein im Postkartenformat, in die mit zwei Nieten das jeweilige Passfoto getackert war. Sich gegenseitig die Passfotos zu zeigen war einer der größten Späße, die wir damals kannten. Dieses unermesslich wertvolle Dokument musste man einem Volkspolizisten aushändigen. Der würde damit davonspazieren, ohne dabei in irgendeiner Weise zu signalisieren, ob und wann man die kostbaren Büchlein jemals wieder ausgehändigt bekommen würde. Niemand hinterfragte die Kontrolle, alles beruhte auf dem Prinzip der reinen Hoffnung. Der VoPo wäre demnach gar nicht darauf angewiesen gewesen, uns mit einem mörderisch strengen Blick anzuglotzen, auf den sogar unsere Lateinlehrer neidisch gewesen wären. Die Kalaschnikow, die an einem Riemen über seiner Schulter hing, hätte zudem eh schon alleine ausgereicht, um selbst die vorwitzigsten Dorfpunks einzuschüchtern.
Bis auf einen. Als wir einmal wieder an der Grenzkontrolle zwischen Rudolphstein (Bayern) und Hirschberg (Thüringen) in der Schlange vor der Abfertigung standen, kam ein Grenzer in seinen unfassbar miserabel sitzenden, grauen Synthetikhosen herbeigeschlendert und klopfte ans Fenster der Fahrerseite.
»Schalten sie den Motor ab!«, lautete der barsche Befehl.
Wir waren mit der Sesamstraße und der Sendung mit der Maus aufgewachsen. »Warum?«, entgegnete ihm daher unser Fahrer.
»Weil man im Stand unnütz Benzin verbraucht!«, kam es in genervtem Sächsisch zurück.
Die Antwort des Fahrers war dann durchaus das ehrliche Zeugnis einer antiautoritären Erziehung, wenngleich in dieser Situation selbstverständlich nicht zielführend: »Das macht doch nichts, ich kann doch so viel Benzin verbrauchen, wie ich will. Ich tanke einfach wieder voll ...«
Die Durchsuchung des Wagens dauerte, nachdem der VoPo kurz »rechts ranfahren!« gebellt hatte, etwas mehr als zwei Stunden. Ohne einen einzigen Schluck Bier! Dabei noch nicht eingerechnet die gründliche Leibesvisitation, der wir uns jeder unterziehen mussten. Und die in perfider Weise an die Untersuchung erinnerte, der wir uns beinahe alle in jenem Alter beim Kreiswehrersatzamt unterziehen mussten. Als weitere Lehre, die wir bei der Einreise in den real existierenden Sozialismus mitbekamen, machten uns die Grenzbeamten mit der verblüffenden Vielfalt an Verstecken für Geld, Drogen und Waffen bekannt, mit der einerseits ein Automobil, andererseits ein menschlicher Körper ausgestattet war ...
Übrigens: der Einsatz von Sturmgewehren als Disziplinierungsmittel im Lateinunterricht war damals schon außer Mode gekommen.
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Theobald O. J. Fuchs
liest bei den Texttagen! Da ist er dabei, mit Kurzkrimilesung und Fränkisch-Böhmischer Bierleitung. In etwa so.
Abitreffen war übrigens voll gut, lässt er ausrichten.
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