Gelände im Umbruch: Die Kongresshalle

MONTAG, 5. JUNI 2023

#Architektur, #Gelände im Umbruch, #Interview, #Kongresshalle, #Reichsparteitagsgelände

Marian Wild im Interview mit Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner

Nach Betrachtung des Zeppelinareals geht‘s diesmal gedanklich zur Kongresshalle. Die hufeisenförmige Versammlungshalle wurde in der NS-Zeit nicht fertiggestellt und blieb als Bauruine stehen, in die Günther Domenig 2001 sein Dokumentationszentrum als „Speer in den Speer“ rammte. Ein Teil des gewaltigen Innenraums soll bald für das Opernhausinterim genutzt werden. Im zweiten Interview dringe ich mit Hajo Wagner tiefer in die vielen Fragen der Kongresshalle und des Geländes ein.

Lieber Hajo, neben der Zeppelintribüne ist die Kongresshalle das markanteste und größte Bauwerk des Geländes. Der noch oft zu hörende Name der Stadtgesellschaft „Kolosseum“ bezieht sich auf ihren monumentalen Neoklassizismus, der formal ja stark an die römische Antike angelehnt ist, er ist aber stilistisch unpräzise, weil das römische Kolosseum oval mit zwei Brennpunkten, die Kongresshalle aber ein Hufeisen mit einem Brennpunkt ist. Es ist der feine Unterschied zwischen Arena und Theater. Welche Assoziation hast du persönlich mit dem Gebäude, wenn du an deine Zukunft denkst?
Als ich im Januar 2018 nach Nürnberg kam, um die Kulturhauptstadtbewerbung zu managen, bin ich gleich in der ersten Woche raus aufs ehemalige Reichsparteitagsgelände. Es war kalt, und es hat geregnet. Ich sah diese Anhäufung schlechter und dazu noch baufälliger Architektur und dachte nur: Damit will ich nichts zu tun haben! Meine Bewertung der architektonischen Qualitäten hat sich seither nicht verändert, meine Einstellung dazu aber grundlegend. Die behauptete Monumentalität – Rachel Salamander sprach einmal von der Provokation der Architektur – führt uns direkt hinein in die Un-Ästhetik des Nationalsozialismus. Und der gilt es, insbesondere angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen mit aller Macht zu begegnen. Die Entwicklung des Kulturareals Kongresshalle ist daher nicht bloß eine Frage der Künste und Kulturen, sondern in gleichem Maße auch eine der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung. Beides miteinander verschränkt, wird die Kongresshalle ein Ort der Künste und Kulturen mit nationaler und internationaler Ausstrahlung. Daran denke ich, wenn ich das Projekt Kongresshalle in die Zukunft projiziere, und dann wird mir auch bewusst, dass es noch ein gutes Stück Arbeit ist, dahin zu gelangen.

Der Innenhof der Kongresshalle ist unaufgeräumt und verfallen, das scheint mir auch für das inhaltliche Konzept des Dokuzentrums nicht unwichtig. Man läuft durch seinen spitzen Baukörper hindurch und beendet den Laufweg auf dem schräg nach oben herausragenden Balkon, von dem aus man die im Inneren unfertige Propagandakulisse des NS-Baus unmittelbar erleben kann. Wird diese Entlarvung nach den geplanten Umbauten noch in derselben Form erlebbar sein?
Vergangenes Jahr waren zahlreiche international tätige Künstler*innen zu Gast in Nürnberg, um ihre Beiträge zu den „Musik-Installationen“ zu präsentieren. Ein Kollege aus Polen stand im sog. Innenhof der Kongresshalle und war entsetzt. Sein Kommentar zum Zustand: „Chaotische Verwahrlosung“. Der Pragmatismus der Stadt Nürnberg im Umgang mit dem Innenhof war in den vergangenen Jahrzehnten für jemanden, der von außen draufschaut, schon sehr eigenwillig. Andererseits wurde und wird der Innenhof, der ja keiner ist bzw. nicht als solcher geplant war, ständig argumentativ aufgeladen. Ein Teilnehmer des Auswahlgremiums für den Standort des Ergänzungsbaus für das Staatstheater bezeichnete das, was wir sehen, als „kariöse Ziegelsteinmauer“. Recht hat er. Ich sehe da keine Propagandakulisse, die es zu entlarven gälte. Die Dimensionen werden doch nur dann klar, wenn man die idealtypischen Animationen des Innenraums durch die Nationalsozialisten neben den heutigen unfertigen Zustand legt. Eine viel größere Herausforderung sollte doch die fertiggestellte Außenfassade sein, die Stein gewordene Propaganda ist. Aber nein: Daneben kann problemlos zweimal im Jahr das Volksfest stattfinden und niemand stört sich daran.
Aber um auf Deine Frage zurückzukommen: Die Fassade des Innenhofs ist nicht der Spiegel nur einer einzigen Zeitschicht. Die Bauarbeiten an der Kongresshalle wurden mit Kriegsbeginn 1939 eingestellt. Dann wurden in den Folgejahren Zumauerungen vorgenommen, um das Gebäude wettertechnisch zu sichern. Diese Maßnahmen setzten sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs fort, und in dem Film „Brutalität in Stein“ von Alexander Kluge aus dem Jahre 1960 können wir sehen, dass sich im Obergeschoss noch Öffnungen befinden, die später ebenfalls zugemauert wurden. Ablesbar an der Fassade ist insofern eine mehr als 30-jährige Baugeschichte. Mit den neuen Nutzungen der Kongresshalle werden nun Zumauerungen wieder geöffnet – allerdings nur solche, die auch ursprünglich als Türen geplant waren. Mindestens zwei Sektoren der Fassade sollen im derzeitigen Zustand erhalten bleiben: Es sind jene, die sich direkt an den südlichen Kopfbau mit den Nürnberger Symphonikern anschließen. Wenn Du also nach der Wiedereröffnung des Dokumentationszentrums den „Speer“ betrittst, fällt Dein Blick auf eine komplett vermauerte Fassade – so wie sie heute auch ist.

In der Kongresshalle sind perspektivisch Ermöglichungsräume für Künstler*innen geplant, die in der Stadt ja auch dringend gebraucht werden. Wie sind diese Räume konkret geplant, wann werden sie fertig und für wen werden sie interessant und zugänglich sein?
Bereits während der Kulturhauptstadtbewerbung entstand die Idee, in der Kongresshalle Räume für Künstler*innen zu installieren. Diese Idee hat sich verfestigt und wurde vom Kulturausschuss der Stadt Nürnberg auch mit großer Mehrheit in die Umsetzung gegeben. Der inhaltliche Fokus hat sich allerdings geweitet. Wir planen aktuell neben Ateliers für die visuellen Künste auch Bandprobenräume, Räume für die Literatur und die performativen Künste. Dazu kommen Ausstellungs- und Präsentationsräume für die Künste aller Sparten.
Da es sich bei der Kongresshalle um „ein“ Gebäude handelt, in das unterschiedliche Nutzungen einziehen werden, kann die Baumaßnahme auch nur als Einheit durchgeführt werden. Die Eröffnung der Räume für die Künste ist mit der Eröffnung der Spielstätte für Musiktheater und Tanz des Staatstheaters verbunden – und umgekehrt. Die Verbindung besteht jedoch nicht nur in bautechnischen Abstimmungen, sondern auch im zukünftigen Zusammenwirken des Musiktheaters und der Ermöglichungsräume. Aktueller Plan: Eröffnung 2027.
Für wen die Räume von Interesse sind, kann ich nicht sagen – das hängt von der Künstlerin / dem Künstler ab. Einige sagen: „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, in der Kongresshalle zu arbeiten.“; andere sagen genau das Gegenteil. Und für wen sind die Räume zugänglich? Professionell arbeitende Einzelkünstler*innen sind angesprochen, aber natürlich auch Initiativen und Kollektive. Das Betreiberkonzept, das aktuell erarbeitet wird, entscheidet schließlich über die Vergabe der Räume. Vorstellbar wäre z.B. eine Jury, die nach klar kommunizierten Kriterien die Auswahl vornimmt.

Du hast im ersten Interview die Ruinenwerttheorie angesprochen, nach der ein langsamer Verfall der Bauten von den NS-Bauherren als perspektivisches Ziel geplant gewesen sei. Diese Vision, überspitzt gesagt, eines „modernen Angkor Wat“, erwähnte Albert Speer in den 1960er Jahren in seiner Autobiografie, die er nach seiner Verurteilung bei den Nürnberger Prozessen komplett im Gefängnis geschrieben hat. Zu der Zeit waren wegen der billigen Bausubstanz und die Abrissarbeiten bereits einige auch recht peinliche Bauschäden am Gelände sichtbar. Hältst du es für denkbar, dass Speer sich mit dieser Theorie nur für die billige Bausubstanz rechtfertigen wollte? 
Das ist eine schwierige Frage und daher auch nicht leicht zu beantworten. Einerseits hat Speer diese „Theorie“ quasi posthum in seinen Erinnerungen formuliert; zur Zeit des Nationalsozialismus war davon nie die Rede. Wir können also davon ausgehen, dass diese „Theorie“ Teil der Selbststilisierung Speers war bzw. Teil der Strategien, seine Verantwortung für Krieg und Massenmord zu verdunkeln bzw. ganz abzustreiten. Andererseits bin ich mir nicht so sicher, ob wir es bei Zeppelintribüne und Kongresshalle tatsächlich mit billiger Bausubstanz zu tun haben. Die Kongresshalle ist ein ziemlich gut gebauter Rohbau; der Innenhof ist marode, weil er nicht als der Witterung ausgesetzter Bereich gedacht war. Die Zeppelintribüne ist in einem sehr schlechten Zustand, weil die Sprengung der Pfeilergalerie 1967 das Gebäude massiv geschädigt hat. Der ungehinderte Wassereintritt der letzten 56 Jahre ist Grund für den aktuellen baulichen Zustand. Schließlich ist Speer davon ausgegangen, dass seine „Theorie“ sowieso erst in 1.000 Jahren greift. Immerhin ist er also von einer gewissen „Halbwertzeit“ seiner Bauten ausgegangen (Ironie aus). Es war also wohl insgesamt der Versuch, sich rückblickend als „großer“ Architekt zu platzieren, dessen Bauten sich in das Pantheon der Architekturgeschichte einreihen sollten.

Winfried Baumann hat 2002 einen bildhauerischen Entwurf zum Umgang mit dem Gelände erarbeitet: Bis auf die Kongresshalle alles abreißen und die Trümmer über die Halle werfen, als Schlittenhügel, so sein Ansatz. Die Steine des Geländes inklusive Großer Straße reichen dafür aber nicht aus, neben anderer Hindernisse bei der Umsetzung. Hinter dem Entwurf steht auch die Idee, dass die menschenfeindlichen Bauten des Geländes nicht mehr überhöht, inszeniert oder „aufgeräumt“ werden dürfen. Mehrere Künstler*innen haben sich im Lauf der Zeit mit dieser Thematik befasst, wie blickst du auf diese Ansätze?
Jeder kritisch-reflektierende und nicht-affirmative Umgang mit den Architekturrelikten des Nationalsozialismus ist richtig. Und Kunst kann an dieser Stelle viel leisten, weil sie die Sinne öffnet und zugleich den Verstand schärft. Baumanns Idee ist, jenseits der Tatsache, dass sie nicht realisierbar ist, großartig – sie überantwortet die Architektur im übertragenen Sinne dem Schutt der Geschichte und führt sie einem gänzlich profanen Zweck zu. Andere künstlerische Zugriffe auf das Gelände sind möglich. Jan St. Werner etwa hat den US-amerikanischen Soundkünstler Louis Chude-Sokei als Kurator eingeladen, um das Gelände einer akustischen Erforschung zu unterziehen. Diese Positionen wurden auch letztes Jahr vom Stab Ehemaliges Reichsparteitagsgelände in Form einer vielfältigen Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In bleibender Erinnerung ist mir ein Projekt von Hito Steyerl in Linz geblieben: Sie hat das in der NS-Zeit errichtete sogenannte „Brückenkopfgebäude“ am Linzer Hauptplatz installativ überschrieben, indem sie Teile des Fassadenputzes abtragen ließ, so dass ein Wegenetz entstanden ist, das jene Straßen abbildet, auf denen die österreichischen Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden. Ein klares Statement am zentralen stadträumlichen Ort. Die Stadtgesellschaft war „not amused“, aber es ist genau jener Stachel, den ich mir von einer künstlerischen Position wünsche. 
Aber bitte nicht missverstehen: Selbstverständlich ist es nicht zwingend, dass auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ausschließlich Kunst produziert und gezeigt werden dürfte, die sich mit der Geschichte des Geländes auseinandersetzt. Wir können und dürfen den Künstler*innen nicht vorschreiben, was sie wie tun. Das wäre am Ende Zensur! Und nichts spricht dagegen, in der Oper Richard Wagners „Rienzi“, Eugen d’Alberts „Tiefland“ oder Franz Lehars „Lustige Witwe“ aufzuführen – alles Lieblingswerke von Adolf Hitler.

Die zur Bauzeit im Entwurf geplante Überdachung der Kongresshalle war damals wegen der Spannweite des Tragwerks technisch wohl gar nicht umsetzbar, wie auch einige andere Baudetails an den nicht realisierten Bauten. Teile der damaligen Pläne waren also reine architektonische Fiktionen, die immer noch manchen Leuten die Köpfe verdrehen; im Internet findet man unter anderem die digitalen Rekonstruktionen der NS-Bauten auch auf zweifelhaften Webseiten. Wie kriegt man solche Mythen und Bilder erinnerungstechnisch in den Griff?
Zunächst: Wir haben die Baupläne für die Stahlkonstruktion des Daches der Kongresshalle statisch und funktional prüfen lassen. Das Dach hätte gebaut werden können und hätte seine Funktion erfüllt. Im Übrigen sollten in der Kongresshalle die neuesten technischen Versorgungsmodule eingebaut werden … alles auf dem aktuellsten Stand der Technik. Eine Idee wie das Deutsche Stadion hätte baulich vielleicht funktioniert, aber sicherlich nicht funktional: Die Sportler*innen wären zu unsichtbarer Größe geschrumpft. Natürlich waren die Pläne für München, Berlin und Linz komplett irrational – architektonische Fiktion, wie Du zu Recht sagst. Die Planungen waren jedoch zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Propaganda, bestimmten deren Ikonographie. Deshalb existieren von zahlreichen Gebäuden Modelle und idealtypische Ansichten, obwohl die Arbeiten nie über den Planungsstand hinauskamen. Dass diese Bilder unser kollektives Bildgedächtnis geprägt haben und auch weiterhin prägen werden – dazu zählen auch die Propaganda-Filme von Leni Riefenstahl –, lässt sich nicht umgehen. Und ein Verbot steigert die Attraktivität. Der einzige Weg aus diesem Dilemma ist die Kontextualisierung und der Kommentar, die historisch-politische Aufklärungs- und Bildungsarbeit.

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In der Ausgabe August/September geht’s weiter:
Marian Wild und Hajo Wagner im dritten Interview zum Reichsparteitagsgelände.

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PROF. Dr. Hans-Joachim Wagner 
ist studierter Musikwissenschaftler, Philologe und Kunsthistoriker. Nach Tätigkeiten an den Opernhäusern in Koblenz und Köln war er Musikreferent im Kulturamt der Stadt Köln und bis 2017 Fachbereichsleiter für Musik, Theater und Tanz bei der Kunststiftung NRW.
Wagner leitete in Nürnberg von Januar 2018 bis August 2021 das Büro für die Kulturhauptstadtbewerbung 2025. 
Seit dem 01.08.2021 hat er die Leitung der Stabsstelle Ehemaliges Reichsparteitagsgelände inne.




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