Kulturpfarrer Thomas Zeitler: Ich will in einer progressiven Kirche arbeiten

7. JUNI 2023 - 11. JUNI 2023, NüRNBERG

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Ganz ehrlich: Mit Kirche haben die meisten lost souls dieser Redaktion wenig am Hut und mit Pfarrern kennen wir uns nicht so gut aus. Nur dass die zaubern und Gitarre spielen können, so viel wissen wir gerade noch. Dass aber Thomas Zeitler ein cooler Hund ist, ist uns spätestens bewusst, seit er unsere curt LOCKED OUT-Ausstellung in "seiner" Egidienkirche zugelassen hat – mit gottgegebener Lässigkeit. Schon vorher ist Thomas uns als ehrbarer Klimaaktivist und eben Kulturpfarrer von Nürnbergs Kulturkirche sehr positiv aufgefallen. Klar, dass er nun auch beim Evangelischen Kirchentag ordentlich mitmischt.

CURT: Thomas, du bist Pfarrer für Kunst und Kultur an der Kulturkirche St. Egidien. Wie sieht dein persönliches Engagement beim Kirchentag aus, was treibst du da so?
THOMAS ZEITLER: Ich stehe quasi mit zwei Beinen im Kirchentagsgeschehen! Zum einen bin ich als Egidier Pfarrer Teil der Projektleitung „Kulturkirche als Erfahrungsraum“. Da haben wir ein – wie ich finde – super Programm entwickelt, das unsere gemeinsame Ausstellung mit lokalen Künstler*innen aus den Bereichen Tanz, Theater, Jazz, Pop und Literatur in Dialog bringt. LOCKED OUT hoch zwei, sozusagen. Da bin ich konkret bei einer abendlichen "Blauen Stunde" um 21h dabei, die meditative Musik und Texte zum Tagesausklang in den Kirchenraum bringt.
Und über mein Engagement in der Klimabewegung und bei Extinction Rebellion bin ich bei einigen Aktionen und Debatten im Umweltbereich dabei, z.B. bei einer Gehmeditation, wo wir als farbige Klimastreifen durch die Stadt ziehen. Oder bei einem Workshop zu der Frage, wieviel Apokalypse, also Endzeitfeeling, in der Klimabewegung drinsteckt und wie damit politisch und seelsorglich umzugehen ist.

Der Kirchentag ist viel mehr als ein christliches Event. Was hat er zu bieten – und auf welchen Ebenen? Und: Ist der Kirchentag überhaupt noch zeitgemäß?
Der Kirchentag verstand und versteht sich gerne als "Zeitansage". Also als ein Ort, an dem die wichtigen aktuellen und gesellschaftlichen Themen debattiert werden. Und wenn möglich anders als in den üblichen Talkshow-Formaten. So werden in diesem Jahr neben dem Klimathema natürlich die Fragen von Frieden und Remilitarisierung einen großen Raum einnehmen. Aber auch weiterhin die Herausforderung, wie wir Migration und Inklusion gut begleiten können und zugleich rechten und nationalistischen Stimmen entgegentreten!
Dazu kommen viele hochkarätige Expert*innen und auch Verantwortliche aus Politik, Wirtschaft und Kultur zu den Podien. Das hat zwar immer etwas von einer typisch protestantischen Rede- und Diskurskultur. Aber genau die wird weiter gebraucht für eine wache und demokratische Meinungsbildung von unten.

Dass Nürnberg Gastgeberstadt des Kirchentags ist – um im Jargon zu bleiben – für die Stadt eher Fluch oder einfach nur Segen?
Wenn gleich für fünf Tage zehntausende von Besucher*innen in eine Stadt einfallen, dann ist das Stress und Chance zugleich! Wenn sich das Klischee erfüllt, werden zumindest die U-Bahnen zur Messe und nach Fürth verstopft sein mit fröhlich-entrückten Christenmenschen, behängt mit bunten Kirchentagsschals, angeblich auch mal den neuesten Sacro-Pop-Kirchentagsschlager trällernd … Das könnte selbst geduldigste Franken ein wenig auf den – nicht so kirchlichen – Geist gehen. Das Gleiche gilt für die Plätze der Altstadt, wo überall öffentliche Bühnen aufgebaut sein werden. Aber da finden dann auch einige recht hochkarätige Konzerte statt, von Klassik bis Pop. Aber wie beim Bardentreffen auch: Die Leute, die kommen, bringen Feierlaune mit, Neugier auf die Stadt und darauf, was auch jenseits des Programms zu entdecken ist. Das können auch phantastische, ungeplante Begegnungen werden. Und Verdienstmöglichkeiten für die Gastro- und Kulturszene gibt´s auch.

Wieviel Erfahrung hast du selbst bisher mit dem Kirchentag?
Als Student war der Kirchentag für mich sehr wichtig mit seinen eher "subkulturellen" Angeboten, also z.B. dem autonomen Zentrum für schwule, lesbische und queere Menschen in der Kirche. Das war sehr ermutigend, eine offene und progressive Kirche zu erleben, in der ich auch gerne arbeiten will. Da habe ich dann in Orga-Teams mitgearbeitet. In Nürnberg wird dieses "Regenbogenzentrum", wie es jetzt heißt, im Gemeinschaftshaus Langwasser untergebracht sein.
Später war ich beruflich verantwortlich für Infostände auf dem "Markt der Möglichkeiten", einer bunten Schau von Gruppen, Initiativen und kirchlichen Einrichtungen in den Messehallen, die ja Hauptveranstaltungsort sind. Da ich viele Jahre in der Studierenden- und Hochschularbeit war, konnte man sich da z.B. über kirchliche Studienförderung und Stipendien beraten lassen.

Werden für den Kirchentag noch Helfer*innen gesucht?
Tatsächlich sucht der Kirchentag noch händeringend nach Quartier-Betreuer*innen, die in den Schulen, wo Gäste in Massenquartieren untergebracht sind, Frühstück zubereiten und ausgeben oder Nachtwache schieben. Dafür gibt es eine Dauerkarte für alle Veranstaltungen for free!

Es wird hoher Besuch erwartet – bis hin zum Kanzler. Wie groß und wichtig ist der Kirchentag?
Ja, da ist großer Auftrieb! Allein aus der Politik erwähnenswert: Der Bundespräsident kommt zur Eröffnung und hält am Donnerstag sogar eine Bibelarbeit! Dazu Friedrich Merz, Hubertus Heil, Manuela Schwesig, Ricarda Lang, Winfried Kretschmann, Petra Pau etc. Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts sind da, aber z.B. auch der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank oder Joe Kaeser oder Eckard von Hirschhausen. Promi-Hopping ist also möglich. Dazu hochrangige Vertreter*innen aus der weltweiten Ökumene, von anderen Religionen. Aber auch viele junge Menschen, die was verändern wollen an Kirche, Politik und Gesellschaft. Dafür stehen vielleicht am besten Luisa Neubauer von den Fridays4Future oder Carla Hinrichs von der Letzten Generation. Und tatsächlich: Olaf Scholz.
Ob vom Kirchentag noch wirksame politische Impulse ausgehen, wie das zu Zeiten der Friedensbewegung in den 80er-Jahren war, mag man bezweifeln. Dazu rutschen die Kirchen doch inzwischen zu sehr in eine Minderheitenposition. Aber dass so viele "Influencer" auf dem Kirchentag den Kontakt und Austausch mit den Bürger*innen suchen, ist schon ein Zeichen, dass wir (noch) nicht ganz in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sind.

Wird der Kirchentag einen positiven, nachhaltigen Effekt auf die Stadt, auf uns, auf die Gesellschaft geben? Oder hätte man das Geld/ die Arbeit sinnvoller investieren können?
Für die Stadt ist es vielleicht einfach "noch ein Großevent mehr", das sie gut zur Imagebildung nutzen kann. Umkrempeln wird sich dadurch erst einmal nichts. Und selbst die örtlichen Gemeinden erleben den Kirchentag oft als ein UFO, das für kurze Zeit einfliegt und dann plötzlich wieder verschwunden ist. Deshalb bin ich so froh, dass mit der Ausstellung LOCKED OUT etwas Besonderes gelungen ist: nämlich den Nürnberger Kulturschaffenden eine bundesweite Sichtbarkeit zu geben und zugleich um St. Egidien einen wundervollen Vernetzungsprozess gehabt zu haben, der hoffentlich noch lange trägt und weitere kreative Crossover-Projekte hervorbringen wird. Da gilt mein ausdrücklicher Dank auch euch – CURT – und Marian Wild als Strippenzieher.
Und was der Kirchentag noch immer auf seine ganz einzigartige Weise vermag, ist Menschen zu vernetzen und Lust zu machen, sich einzumischen. Einfach, weil so viele offene, engagierte und optimistische Leute beisammen sind, die einander stärken und anstecken können. In welchem Thema oder Engagementfeld, das muss dann jede*r selbst finden in der Fülle der 2000 Veranstaltungen.

Ich würde den Gästen von Außerhalb den Besuch von LOCKED OUT empfehlen – und das Bierfest natürlich. Was wären deine Tipps, außer das Lesen von curt?
Tatsächlich sollten alle mal im CURT stöbern, was es außerhalb des offiziellen Kirchentagsprogramms noch so zu entdecken gibt in Nürnberg! Und ich weise immer gerne noch auf eine Kundgebung der Friedensbewegung hin, die am Samstag, 10.06., um 13 Uhr auf dem Rosa-Luxemburg-Platz stattfindet und auch außerhalb des Kirchentages organisiert wurde. Da lebt für mich ganz stark der Spirit eines wachen und kritischen Christentums, für das ich den Kirchentag so unverzichtbar finde!

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Deutscher evangelischer Kirchentag Nürnberg 2023
– buntes Glaubens-, Kultur- & Musikfestival und Plattform für kritische Debatten vom 7.–11. Juni 2023 in Nbg.
Alle Infos wie Karten, Mithilfe und Programm:

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Thomas Zeitler ist seit 2018 Pfarrer für Kunst- und Kulturarbeit an St. Egidien in der Nürnberger Altstadt, Hochschulpfarrer in der Evang. Studierendengemeinde und war zuvor lange Jahre Theologe in der Basisgemeinde Lorenzer Laden, die als "Kirche von unten" Engagement und Spiritualität für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung lebt.




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