Theobald O.J. Fuchs: Beim Gedankenzieher
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Ich hatte einen Termin. Besser gesagt: Es war schon der dritte Termin, die ersten beiden hatte ich ausgemacht und ein paar Tage vorher wieder abgesagt. Ich gehöre aber zu den Leuten, die nur Termine, die sie nicht abgesagt haben, einhalten. Also ging ich hin, setzte mich in den Behandlungsstuhl und hörte mir die Belehrung an, die eine sehr freundliche, aber entschiedene Arzthelferin vor mir errichtete.
Dass ich vollkommen nüchtern denken würde, sollte ich bestätigen, und dass ich nach der Behandlung ein paar Stunden lang keine eigenen Ideen haben dürfte. Ich sah in den Räumen der ganzen Praxis von den Gesichtern nur die Augen, der untere Teil war von der Maske verborgen, der obere Teil von einer dunkelgrünen OP-Haube. Dutzende Gedanken-ärzte und -ärztinnen und hilfreiche Geister bevölkerten die Flure und Gedankenbehandlungszimmer. Meine eigene Haube, die ich beim Betreten der Praxis aufgesetzt bekommen hatte, musste ich natürlich abnehmen, sonst wäre der Eingriff nicht möglich.
Ich sagte, dass ich alles verstanden hätte und dass ich jetzt gerne noch ein Selfie von mir machen würde, zur Erinnerung, wie ich in dem Behandlungsstuhl liegend aussah, mit einem weißen Tuch über mein Gesicht gebreitet, dem elektrischen Kabel, das an meine Stirn geklebt war, und dem grünen Tablett mit dem Operationsbesteck, das griffbereit lag.
Nein, das wäre leider nicht möglich, ich solle besser ihr, der Assistentin das Handy geben, damit ich nicht in Versuchung käme, witzige Fotos zu machen. Und nein: Auch den Gefallen könne sie mir nicht machen, alles sei schon vorbereitet und desinfiziert, keine einzige freie Idee befinde sich mehr im Raum – sie könne da unmöglich für mich ein witziges Selfie von mir machen.
Auftritt Gedankenärztin. Auch sie kaum zu erkennen. Das einzige Merkmal, das sie von der Gedankenassistentin unterschied, war, dass sie etwas kleiner und zierlicher zu sein schien. Klar, dachte ich, man brauchte ja auch keine besonders große Kraft, um Gedanken zu ziehen. Die richtige Technik ist bekanntlich alles. Und natürlich eine ordentliche Betäubung aus der dicksten Spritze, die ich je gesehen hatte.
»Machen Sie Ihren Geist jetzt mal ganz locker ... wir kriegen das schon hin.«
Sie begann, unterstützt von der Assistentin, an einem kantigen Gedanken zu wackeln. Dieser eine Gedanke hatte seit Monaten – wenn nicht Jahren! – Probleme gemacht, er war morbide, abgenutzt und unberechenbar geworden – kurz: fällig. Es war für alle Beteiligten, insbesondere für mich selbst, besser, wenn ich ihn entfernen ließ.
Sie zog und rüttelte an dem Gedankenklotz. Ich spürte zwar keinen Schmerz, aber nahm doch die gewaltigen Kräfte wahr, mit denen gerade an meinem geistigen Gebäude gerüttelt würde. Langsam schwoll das Krachen und Rucken in meinem Kopf an, es klang wie Schritte eines grimmigen Waldbauern auf harschem Schnee.
»Na, da wehrt sich einer aber gewaltig«, lachte die Gedankenärztin nach geschätzt einer halben Stunde, als tolle sie in diesem Moment mit ihrem Golden Retriever und einer getrockneten Rindergurgel im Gras auf der Hundewiese. »Also gut, wenn es nicht anders geht ...«, sprach sie im Raumquadranten halb rechts oberhalb von mir. Der Raum über mir war eine lichtlose Höhle, meine Arme waren mit Kabeln an den Sessellehnen fixiert. Ich wollte unbedingt ein Selfie machen.
»Kann ich ...«, stammelte ich, »Foto? SmartPhone … in meiner Tasche ...«
»Nein, leider nicht. Sie wissen doch: Das ist unhygienisch, da kommen sofort schädliche Gedanken auf, die sich in der frischen Lücke einnisten. Ganz böse!«
Ich hörte, wie der Motor einer kleinen Säge auf Touren kam, dann erhob sich ein schrilles Kreischen, der Geruch nach qualmender Flex und verbrannten Hufen erfüllte den Raum. Ein letztes schmatzendes Ruckeln, danach war alles anders.
»Soderle«, sagte die Gedankenärztin, »der hatte sich nur etwas verklemmt, aber jetzt ist er raus.«
Zeitenwende.
»Ginge nicht wenigstens jetzt ein Selfie?«, bettelte ich. »Von dem zerlegten Gedanken nur? Damit ich mir das Ding später einmal ansehen kann?«
»Nein, geht leider wirklich nicht. Das wäre so was von kontraproduktiv, absolut schlecht. Nope.«
»Aber ohne Bild ist es mir unmöglich, daran zu glauben, dass die Operation wirklich stattgefunden hat. Ich muss doch annehmen, dass dies alles niemals geschehen ist.«
»Das ist ein seltsamer Gedanke! Den schlagen Sie sich am besten gleich wieder aus dem Kopf.«
Das tat ich dann auch – widerwillig, aber ich tat‘s. Auch wenn ich ohne Beweise die Praxis verließ – Hauptsache, ich musste nicht so bald wieder hier her kommen müssen. Was wirklich geschehen war, würde ich mir später in einer ruhigen Minute einfach ausdenken. Und davon dann ein Selfie machen: wie es sich gehört.
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Theobald O. J. Fuchs
Was treibt er so im Oktober und November 2022?
Am 29.10. gibt´s eine Lesung: „Der zweite Krautwickel“ in Sulzbach-Rosenberg, Gasthaus Landkutsche um 19.30 Uhr.
Und ebenso im am 12.11. im Galeriehaus Hof.
Nix wie hin!
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