Kleine Ausflüge vom Egersdörfer und dem Herrn Jordan

FREITAG, 14. OKTOBER 2022, HERSBRUCK

#Egers, #Kolumne, #Matthias Egersdörfer, #Michael Jordan

Bahnhof FÜRTH

Auf der blauen Himmelsleinwand über dem sandsteinernen Bahnhofsgebäude wurde ein Pinsel mit weißer Tünche immer wieder über die ganze Fläche abgestreift, um die Farbe aus den Borsten zu bekommen. Daneben im grauen Hochhausklotz glotzten die hundert schmalen Fensteraugen in müder Verschlagenheit. Auf den Bahnsteigen hingen blau gerahmte Displays in der Luft und zeigten den Reisenden die nächsten und übernächsten Anschlüsse hin zu anderen Bahnsteigen. Ein Mädchen mit weißen Steinchen im Ohr bewegte die kreidebleichen Turnschuhe mit ihren munter wiegenden Füßen und sprach und lachte mit einer Person an einem anderen Ort. Sanft griff sie in eine lange Strähne und zwirbelte das blonde Haar. Der Mann daneben löste seine Maske vom Ohr und trank vorsichtig aus der Mineralwasserflasche. Ein anderer hielt sich fast klammernd am Riemen der Tasche.

Eine Bahn fuhr heran. Seine Beine liefen zu den sich öffnenden Türen. Er verschwand. Die Türen schlossen sich. Die Bahn fuhr davon. Eine Frau mit gradem schwarzen Scheitel ließ eine Tasche unter dem Hintern nach vorne und hinten baumeln. Sie trug noch einen Beutel über der Brust und einen Rucksack am Rücken, als wolle sie sich von allen Seiten beschweren, um der Gefahr zu entgehen davonzufliegen wie der fliegende Robert. Dann pfiff hinten eine braune Lok, die sogleich geschäftig vorbeirollte, als habe sie im Lotto gewonnen. Dem geduldigen Postgebäude zur linken war ein Lederdach aufgesetzt worden. Wie braune Kappen auf den Köpfen von Knechten die im Viereck, Schulter an Schulter stumpf mit gestrecktem Rücken nebeneinender harren, stand es da und wartete auf Befehle. Direkt davor hatte man schwarze und gelbe Tonnen in einen engmaschigen Zwinger gesperrt. Die Quer- und Längsverstrebungen eines grünen Metallmasten überkreuzten sich im Blick darauf. Mit einer daran befestigten grauen Stangenkonstruktion wurde die elektrische Oberleitung recht aufwendig in die Luft gehalten. Weiße parallele Streifen flankierten im Sonnenlicht die Bahnsteigkante. Der Kabarettist stieg in die nächste Bahn nach Hersbruck ein und setzte sich zum Grafiker, der schon  im Waggon saß.


Gasthaus und Metzgerei Michelmühle, 
Hersbruck, rechts der Pegnitz


Im Außenbereich direkt vor der Tür der Gaststätte war ein Tisch reserviert worden. Die Kuratorin, der Geograph, Grafiker und Kabarettist setzten sich auf die holzgerippten Stühle zu zwei Seiten des Tischs. Darüber hielten schwarze Holzbalken die verwitterte, schmutzige Plastikfolie über der Dachkonstruktion. Eine Fototapete an der Hausseite zeigte den nicht weit entfernten Michelsberg im grünen Baumbestand unterm zwischenzeitlich ausgebleichtem Himmel. Der Geograph sagte den Beteiligten der Exkursion, er habe vier mal das Tagesgericht „Rippchen mit Kloß“ vorbestellt. Freilich könne sich aber jeder auch für ein anderes Gericht aus der Speisekarte entscheiden. Ein junger Mann in kurzen Hosen kam an den Tisch und erkundigte sich nach den Getränkewünschen.

Die Kuratorin, der Geograph und der Kabarettist bestellten Bier. Der Grafiker entschied sich für ein Spezi. Aus seiner Gürteltasche entnahm der Ober einen Block und notierte die Wünsche und fragte dann die Biertrinker direkt: „Im Henkel oder Pokal?“ Auf Nachfragen beim Geographen wurde erläutert, dass mit dem „Henkel“ ein Bierkrug gemeint war und mit dem „Pokal“ ein gläsernes Bierglas, auch bekannt unter der Bezeichnung „Willibecher“. Als die Bedienung wieder verschwunden war, holte der Grafiker sogleich seinen Block aus der Tasche und begann wortlos zu zeichnen. Der Kabarettist schrieb da schon stumm in sein aufgeschlagenes Notizbuch. Der Geograph und die Kuratorin unterhielten sich währenddessen. Hinter einem Jägerzaun floß lautlos und blaugrau ein kleines Flüsschen vorbei. Der Grafiker hatte sich erkundigt, welches Gewässer er da vor sich habe. Der Geograph hatte Auskunft gegeben, dass es die Pegnitz sei, die hier fließe. Der Grafiker meinte, da könne er sich ja von hier aus direkt auf den Wellen zurück nach Erlangen treiben lassen. Denn dort befand sich dessen Hauptwohnsitz. Der Geograph bestätigte, dass diese Annahme richtig sei. Vier zusammengeklappte rote Sonnenschirme standen ohne Zweck zwischen den Tischen. Am Tisch neben den vier Exkursionsbeteiligten saß ein junger Mann und aß von einem großen Teller Stadtwurst mit Musik. Sein linkes Hosenbein war mit einem Totenkopf verziert. Auf dessen Seite des Tischs saßen drei weitere Herren. Graue Haare. Blaugrünes Gittermuster auf dem Hemd. Ein blaugrün kariertes Oberteil trug der andere. In Beige mit dunklen orangen Streifen war der dritte gewandet.

Gegenüber die Damen. Rosa Westchen, hellgrüne Hose, florale Muster in braun. Rosa Farbverläufe auf kurzärmligen T-Shirt. Braun und weiß geblümt. Biere, Pils, dunkles Weizen. Teller mit Klößen und Fleischscheiben in Sauce, Schnitzel und Rippchen. Neben dem einen Ende der Fototapete öffnete sich ein schmaler Durchgang zu einem kleinen Hof. Dort tauchte jetzt ein Mann mit umgebundener Schürze auf, schaute kurz auf die Gäste an den Tischen und verschwand wieder so schnell wie er aufgetaucht war. Die drei Biere und das alkoholfreie Mixgetränk wurden serviert. Auf Nachfrage gaben alle Beteiligten an, dass sie sich für das Tagesgericht entschieden hätten. Hinterm Rücken wucherten Schlingpflanzen und Farn durch den dunklen, hölzernen Sichtschutz. Wenn die Wolken es zuließen, malte die Sonne rautenförmige Zaunschatten auf den rötlich gepflasterten Boden. Wasser-Sonnen-Reflexionen flimmerten dort. Zwischen den Holzstreben schillerten silbrig-glitzernde Spinnweben. Am anderen Ufer wiegten sich die grünen Zweige der zarten Bäumchen sachte im Wind. Zum Teil waren die Blätter schon gelb von der Hitze der letzten Wochen. Auf dem Bierdeckel rannte ein Hirsch mit erhobenem Haupt auf einem schmalen Steg zwischen zwei runden Türmen hinauf.

Der junge Mann servierte vier weiße Tellerchen mit gemischtem Salat. Einige Zeit später kam das Hauptgericht. Zum Schluss hin sollte dann die Kuratorin über zu wenig Sauce bei den Rippchen und dem Kloß klagen. Der Grafiker und der Kabarettist reichten dieser ihre Teller mit den flüssigen Restbeständen. Es wurde in der Gruppe über die sprachlichen Unterschiede in der österreichischen und deutschen Sprache gesprochen. Der Geograph arbeitete nämlich in Leoben in der Steiermark. In Österreich wird der Salat abgemacht während er in Deutschland angemacht wird. Sessel sagen die einen und meinen damit den Stuhl. Wobei die anderen wiederum den Stuhl nur als Ausscheidung kennen. Staniolpapier sagt man dort, während auf der anderen Seite Alu gesagt wird. In selbiges ließ sich die Kuratorin den Rest ihres Rippchens zum Mitnehmen verpacken. Der Geograph trank noch einen Schnitt und der Kabarettist gab an, dass er besser auch ein Spezi bestellt hätte, weil er jetzt müde sei und sich eine Trägheit in seinem Inneren ausbreite. Eine Wespe flog über den leeren Tisch und erforschte, ob dort noch etwas Essbares zu finden wäre.

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Matthias Egersdörfer
27.10. Egersdörfer und Fast zu Fürth: „Fürchte Dich nicht“ im  Kunstverein Nürnberg
23.11. Christiane Schleindel und Egi zeigen komische Kurzfilme im Filmhaus Nürnberg


Michael Jordan  
Galerie Ex-Pfeiffer, Hauptstr. 52, Erlangen. 
Mail: Diese E-Mail Adresse ist gegen Spam Bots geschützt, du musst Javascript aktivieren, damit du sie sehen kannst / Insta: @galerieexpfeiffer 


Der Egersdörfer schaut gern langsam. Michael Jordan ist Zeichner und Druckgrafiker und wohnt in Erlangen. Gelegentlich machen sie gemeinsame Ausflüge, dann zeichnet der Jordan den Teil der Welt, den er von seinem Platz aus sehen kann. Der Egers schreibt, was er erblickt. In einer Allee haben sie schon Zeit verbracht. Und ein Walderlebniszentrum besucht, auch einen Weinberg. Und noch mehr.


Der diesmalige und der kommende Text erscheinen in 
dem Buch „Die Region - Eine Begriffserkundung“, 
in Kürze bei transcript in open access.




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AKADEMIE DER BILDENDEN KüNSTE. Text Matthias Egersdörfer

Der Moll war ein sehr langsamer Mensch. Er fuhr zum Beispiel mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit Fahrrad. Wäre er auch nur eine Kleinigkeit langsamer gefahren, wäre er schlichtweg umgefallen. Sah man den Philipp zum Beispiel von der Weite aus auf seinem alten Holland-Rad, musste man annehmen, dass er völlig reglos darauf saß und sich nicht bewegte. Auf der anderen Seite verfügte der Moll über eine blitzschnelle Auffassungsgabe. Jahrelang waren wir gemeinsam zum Christlichen Verein Junger Menschen hinmarschiert und hatten mit schier unermesslichem Übermut die Bibel bis knapp zum Irrsinn zerdeutet, hernach in herzlicher Zugewandheit mit den anderen Christenknaben bis zum Ohrenglühen gerauft und auch ansonsten keinen evangelischen Blödsinn ausgelassen. Dann, von einem Tag auf den anderen, war der Philipp nicht mehr hingegangen. Hat wortlos die Kündigung eingereicht. In Ewigkeit. Amen. Aus die Maus. Ich habe es am Anfang nicht begriffen. Es hat einige Zeit gebraucht. Das holdselige Himmelreich hatte seine Grenzen, von engstirnigen Glaubensbeamten errichtet. Da konnte man sich sauber daran derrennen. Und zum Müffeln hat es allenthalben auch schon angefangen gehabt. Junge Männer waren dazu gekommen, die sich für etwas besseres hielten, und vorbei war es mit unserem klassenlosen Bubenclub. Der Moll hatte einen Riecher. Dann hat er sich verzupft. Ohne Getu. Ohne Spektakel und großes Reden. Ich habe länger dazu gebraucht, das zu begreifen.
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