Theobald O.J. Fuchs: Einkauf sakral
#Hinten raus, #Kolumne, #Naturkost, #Theo Fuchs, #Theobald O.J. Fuchs
Als Jugendlicher hatte ich ein A.K.E. Das ist die Abkürzung, mit der Fachleute ein außerkörperliches Erlebnis bezeichnen. Das A.K.E. kam plötzlich über mich, ohne Einfluss von Drogen. Es war auch kein Alkohol am Start, nicht einmal Kaffee. Nur die äußerste Konzentration auf ein Computerspiel und zu wenig Schlaf lösten bei mir eine Art Bewusstseinsspaltung aus, so dass ich plötzlich an der Zimmerdecke schwebte und mich selbst unten sitzen und auf die Tastatur trommeln sah.
Ich muss dazusagen, dass ich das Spiel selbst programmiert hatte und zur Bedienung ausschließlich die Cursor-Links- und Cursor-Rechts-Tasten benutzt wurden. Damals musste man sich noch alle Spiele selbst programmieren, was dazu führte, dass man abwechselnd immer schneller tippte, um das Spiel zu verbessern, und immer hektischer spielte, weil man am besten wusste, wie das Spiel funktionierte. Irgendein schlecht designtes Männchen jagte irgendwelchen noch schlechter designten Monstern und wirklich miserabel designtem Obst hinterher, obwohl man die Regeln selbst festgelegt hatte und klar war, wie die Sache ausging. Ein Irrsinn. Kein Wunder, dass man da mal kurz in einen Ausnahmezustand geraten konnte.
Mir wurde schnell klar, dass ich zwar meinen Körper verlassen hatte, aber dieser Zustand nicht ewig dauern würde. Irgendwann würde ich aufstehen, zum Beispiel zum Pinkeln oder zum Purzelbaumschlagen, dann würde ich zurück müssen. Bis dahin schwebte ich mühelos um die Ecke zur Treppe nach oben, betrachtete ein paar Regale mit Dosen und Gläsern, sah mich kurz im Flug um, ob mein Körper noch dort saß, wo ich ihn kurz abgesetzt hatte, und da war es auch schon so weit: mein Geist kehrte zurück in seine leibliche Hülle. Alles war wieder eins, ich stand auf und schlug einen Purzelbaum. Nichts wirklich Spektakuläres also. Ich nahm diesen Effekt aufmerksam zur Kenntnis und ordnete ihn unter den Erfahrungen ein, für die ich in der Zukunft eine Erklärung finden würde.
Danach passierte lange Zeit nichts mehr. Nichts Übersinnliches, meine ich. Ich bin auch alles andere als ein spiritueller Typ. Mit Religionen braucht man mir erst gar nicht zu kommen, aber auch jede esoterische Überhöhung des menschlichen Bewusstseins – als wären Geist und Selbstwahrnehmung etwas, was nicht auf die biochemischen Prozesse im Gehirn zurückginge – ist mir fremd. Da ist für mich auch kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Menschen und Tieren, das Bewusstsein beruht auf den mehr oder weniger komplexen neuronalen Netzen im Gehirn. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass wir mit Sinnesorganen ausgestattet sind, die uns den Teil der Welt zeigen, der uns etwas angeht. Ich würde mich als komplett stoisch, agnostisch und unempfindlich gegenüber jeglicher Mystik bezeichnen. Spirituell betrachtet bin ich wohl ein tumber Holzklotz.
Vor ein paar Jahren dann besuchte ich nach anfänglichem Widerstreben einen Naturkost-Supermarkt. Ich war vollständig wach und da es noch nicht Mittagszeit war, vollkommen nüchtern. Also kein Alkohol, meine ich.
Das Erweckungserlebnis stellte sich erst am Kühlregal ein. Zuvor wirkte aber schon die sakrale Atmosphäre dieses Ortes auf mich. Die gedämpften Geräusche, die guten, nachhaltigen, gesunden, fairen Produkte, die sich in den Regalen reihten wie Heiligenfiguren. Ich verspürte den Drang, mich zu bekreuzigen, ich lauschte ehrfürchtig den Gesprächen, die im Flüsterton geführt werden, beobachtete hypnotisiert die Tempeldienerinnen in ihren naturfarbenen Schürzen, die lautlos und andächtig in gesunden Schuhen umherwandelten, so wie auch ein großer Teil der Kundschaft. Alle glaubten hier inbrünstig an die selbe Lehre: die von der guten und gesunden Nahrung – wenn sich das nicht wie ein Kirchenbesuch anfühlte, dachte ich, dann gar nix.
Andächtig schlich ich an den Kisten mit keimenden Kartoffeln vorbei, an den Jutebeuteln mit biologisch dynamischen Nüssen, an den Thai-Pasten der Firma Zwergenwiese (Name nicht ausgedacht!), am Regal mit fair gefischten Sardinen und Tintenfischen, am Bier, das während des Brauvorgangs selbst gegen den schlechten Einfluss von Außerirdischen geschützt worden war, an den Dosen mit Lupinen- und Getreide-Kaffee bis zum Kühlregal.
Dort geschah es. Nicht beim dänischen Blauschimmelkäse, auch nicht wegen der bei Mondschein gemolkenen Milch von glücklichen Ziegen – es passierte, als ich ein kleines, rundes Laibchen Camembert in die Hand nahm. Zweihundert Gramm Käse in grün bedrucktes Recyclingpapier gewickelt, kein Markenlogo, keine bunten Bildchen. Nur das Wort »Käse« und ein paar Zahlen über grüne Wiesen und glückliche Kühe. Und dann sah ich den kleinen Aufkleber, wie ein Preisschild aus dem letzten Jahrtausend, von einem langen schmalen Band abgewickelt, mit der Hand Stück für Stück aufgeklebt: darauf stand das Haltbarkeitsdatum.
In diesem Moment schlug der Blitz ein und schleuderte mich um fast 50 Jahre zurück in meine Kindheit. In das winzige Kuhdorf, in dem meine Familie damals lebte, in den Tante Emma-Laden, der von einem aus meiner Sicht uralten Mann betrieben wurde, welcher eine dicke Brille auf der Nase sowie einen dicken Bleistift hinter dem Ohr trug und stets einen weißen Kittel anhatte. Und der natürlich längst nicht mehr existiert. Man muss heute ja nur 14 Kilometer zum nächsten GroßKaufKauf im Gewerbegebiet fahren, wo wirklich alles schön in Plastik eingeschweißt ist, auch Gurken und jeder einzelne Apfel.
Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Kühlregal reglos stand, vielleicht waren es nur ein paar Minuten, vielleicht auch eine Stunde. Niemand störte mich, die anderen Kund*innen nahmen Rücksicht und machten mit ihren Birkenstocks einen lautlosen kleinen Bogen um mich herum. Niemand anderes schien sich für Käse zu interessieren – nur ein Zufall? Oder doch Fügung?
Ich verharrte jedenfalls mit dem Camembert in meiner Hand, während meine komplette Kindheit wie eine recht gut gemachte Netflix-Serie vor meinem inneren Auge vorbeizog. Geburt, Sandkasten, Fahrradfahrenlernen, Schule, Schlittenfahren, 1000-Jahr-Feier, Schwimmbad, Sommerferien, Kirchweih, Oma, Opa, der Wald, die Wiesen, der Fluss – und der kleine Laden unten an der Hauptstraße, bei dem es in dem riesigen, laut brummenden und immer tropfenden Kühlregal auch diese kleinen grauen Käsestückchen im holzigen Einwickelpapier zu kaufen gab. Mit händisch beschrifteten Aufklebern, auf denen zum Beispiel »--,60 Pf« stand. Ohne Vorwarnung war ich ins binge watching meiner eigenen Lebenserinnerungen geraten. Pure Magie!
Seitdem gehe ich regelmäßig dorthin, immer in der Hoffnung auf ein weiteres übersinnliches Erlebnis. Bislang hat sich zwar nichts wieder getan, aber ich habe mich inzwischen an die Produkte gewöhnt, die Schokoladen sind umwerfend gut, die Bratwürste passabel, die veganen Aufstriche mindestens drei Größenordnungen schmackhafter als ihr Ruf, der Fair-Trade-Espresso ist spitze, die Käsetheke absolut prima und die Kartoffeln taugen sogar als Saatgut.
Der größte Nutzen allerdings, den mir meine Pilgerbesuche in den heiligen Hallen der Biokost brachte: ich bin gegenüber Inflationsängsten völlig immun, denn hohe Preise haben ihren Schrecken verloren. Der gesamtheitliche Stoff hier ist jeden verdammten Cent wert.
- – –
Theobald O. J. Fuchs
Was treibt er so im August und September? – Es war Theo nicht möglich, dazu etwas Konkretes zu sagen. Er wird wohl nach Frankreich reisen, mehrfach in München sein. Und in der Wildnis Kunst schaffen. Und dabei stets kolossal gut aussehen! Sonst nix.
#Hinten raus, #Kolumne, #Naturkost, #Theo Fuchs, #Theobald O.J. Fuchs