Radelnder Reporter Seuß: Mir fehlt der Aufbruch der Stadtgesellschaft
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Jo Seuß war lange Zeit Redakteur der Nürnberger Nachrichten, lebt tatsächlich aber in Fürth. Den Weg zur Redaktion bewältigte er die letzten Jahre bei Wind und Wetter mit dem Rad. Nicht aus Mangel an Alternativen, sondern aus Bock und Überzeugung. Jetzt erscheint „Reintreten“, Jo Seuß‘ Sammelband mit Texten über das Radfahren – mal persönlich, mal politisch, immer interessant. Perfekter Anlass, um mit ihm über dieses Thema zu reden, das auch uns am Herzen liegt. Und euch, wie wir wissen.
CURT: Jo, In deinem Text in deiner Radfahrgeschichten-Sammlung „Reintreten!“ lernt man, dass du schon seit Ende der 60er-Jahre durch Nürnberg radelst (oder anfangs eher aus Nürnberg heraus). Wann würdest du sagen, hast du richtig Feuer für das Thema gefangen. Und warum?
JO: Das Fahrrad war bei mir nie weg vom Fenster oder im Keller dahingerostet. Doch erst der Umzug nach Fürth im April 2003 und das zunehmende Beschäftigen mit den Themen Radverkehr für die NN haben mich angefixt und so ab 2006 verstärkt zum Nachdenken über mein eigenes Mobilitätsverhalten gebracht. Den Worten über Nachhaltigkeit und umweltbewusstes Verhalten mussten Taten folgen. Also haben wir im Sommer 2007 das Zweitauto verkauft und ich bin für meinen Arbeitsweg zuerst zur Probe und dann dauerhaft aufs Fahrrad umgestiegen
Ist das Radfahren in den letzten 30 Jahren politisch geworden?
In Holland oder Dänemark war Mobilität seit den 80er-Jahren ein Politikum, dort ist unglaublich viel passiert, um das Radfahren gerade für Kinder sicherer zu machen. Im Autobauer- und -fahrerland Deutschland gab es nur ein paar Vorreiterstädte wie Münster, aber ansonsten kamen die Belange der Radler unter die Räder der Auto-Lobby. Auch im Nürnberger Verkehrsausschuss dominierten ganz lange die Verfechter der „Grünen Welle“ für den motorisierten Individualverkehr. Erst als nach 2014 die jüngere Stadtratsgeneration vordrängte, veränderte sich langsam etwas, so kam 2016 die Probephase der Hauptmarktquerung. Insgesamt fehlt mir aber weiter ein richtiger Aufbruch in unserer Stadtgesellschaft. Das spiegelt sich in den leider weitgehend schlecht gemachten Fahrradstraßen wider. Hier könnte sich Nürnberg ein Beispiel an Fürth nehmen.
Was hat die Stadtentwicklung in Nürnberg denn konkret versäumt? Was hätte getan werden können?
Wer einmal in Kopenhagen war, der sieht, was in Nürnberg fehlt: durchgehende, breite Radwege, auf denen man sich sicher fühlt, wo man nicht mit Fußgängern in Konflikte gerät und schneller vorankommt als mit dem Auto. Nürnberg hat einfach viel zu wenig Geld in die nötige Infrastruktur für den Radverkehr investiert. Wer keinen Radverkehr sät, wird keinen ernten. Da muss man eben mal eine komfortable Brücke durchs Rednitztal bauen, wie im Fürther Westen geschehen. Und das Miteinander von Nahverkehr und Fahrrad könnte gefördert werden, indem die Mitnahme kostenlos ist und passende Waggons dafür zur Verfügung stehen.
Dringend wären gut gemachte Fahrradstraßen und Radschnellwege, auf denen man nicht ständig von roten Ampeln gebremst wird. Die entscheidende Frage aber ist: Wollen die Verantwortlichen in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch wir Menschen eine echte Verkehrswende? Die aktuelle Energiekrise und der Klimawandel sind sehr gute Gründe für Veränderungen zu Gunsten des Radverkehrs.
Wie beobachtest und beurteilst du die jüngsten stadtplanerischen Entwicklungen – Stichwort Radentscheid, Mobilitätspakt?
Der Radentscheid war grundsätzlich ein eindrucksvoller Erfolg. Der mit der Stadt vereinbarte Mobilitätspakt klingt gut, er muss aber auch umgesetzt werden. Ich bin gespannt, wann in der Bayreuther Straße der Radweglückenschluss vom Stadtpark bis zum Rathenauplatz kommt, für den eine Spur für den Autoverkehr geopfert werden soll. Er ist beschlossen wie so viele Verbesserungen, die in der Warteschleife sind. Papier ist geduldig.
Wie würde die Stadt aussehen, wenn es nur nach Jo Seuß ginge?
Man könnte Kopenhagen als Blaupause über Nürnberg legen, das würde heißen: Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer bekommen innerhalb der Stadt gleich viel Platz, was in der Übergangszeit zu Proteststürmen der Hardcore-Autofahrerfraktion führen würde. Aber wenn die Politik standhaft bleibt und es gut macht, werden viele Leute umsteigen. Die hohen Spritkosten könnten so einen Veränderungsprozess beschleunigen. Und wegweisend wäre eine Abwrackprämie für Menschen, die ihr Auto abmelden und keinen Neuwagen kaufen, sondern auf Fahrrad und Carsharingmodelle umsteigen. In Kopenhagen lässt sich übrigens gut feststellen: Wenn die Hälfte der Menschen radelt, ist es viel ruhiger und alle, die wirklich aufs Auto angewiesen sind, kommen auch gut voran.
Du bist zuletzt täglich und ganzjährig zehn Kilometer aus Fürth zur Arbeit in die NN-Redaktion geradelt. Was hat sich dadurch für dich persönlich verändert?
Der Weg zur Arbeit war so vor allem durchs Pegnitztal eine wunderbare Schleuse, mit frischer Luft, Bewegung und alle Sinne auf Empfang, auch für Veränderungen in der Stadt. Heimwärts habe ich es genossen, ohne Stau durchs Grüne zu rollen. Da fiel unterwegs der Arbeitstag ab, ein schönes Gefühl.
Besonders wichtig: Was ist dein Tipp gegen den inneren Schweinehund, der sagt, im Auto wäre es aber wärmer, schneller, bequemer?
Der innere Schweinehund ist leider hartnäckig, obwohl es im Auto ja auch mal heiß ist und es lähmend langsam vorangeht, ganz zu schweigen von der Parkplatzsucherei. Vielleicht hilft am besten eine kleine Belohnung – wie beim Aufhören mit dem Rauchen: Täglich mindestens fünf Euro in ein Sparschwein fürs Radfahren – da sammelt sich bald eine ordentliche Summe an.
Was ist deine liebste Genusstour in unserer Region?
Die schönsten Wege für Genussradler*innen, die nicht so viele Höhenmeter meistern wollen, verlaufen am Wasser. Der Fünf-Flüsse-Radweg bietet viele schöne attraktive Strecken. Und wer es künstlerisch mag, kann sich den 132 Kilometer langen Bethang-Weg an den Außengrenzen von Nürnberg, Fürth und Erlangen vornehmen, der überwiegend fahrradtauglich ist.
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Jo Seuß (Hrsg.): „Reintreten!“
Texte über das Fahrradfahren ist in seinem Verlag Elfzueins erschienen und im gut sortierten Buchhandel, in einigen Fahrradläden und bei Veranstaltungen des ADFC (Kidical Mass, am 15. Mai) erhältlich. Oder beim Autor selbst via E-Mail:
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Preis: 20,- / plus Versand 3,80
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