Eine neue Größenordnung: Das theatreale Megaprojekt Extrem laut und unglaublich nah
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In den Nullerjahren gab es eine Zeit, da sah man ständig dieses Buch mit der Hand auf dem Cover und dem Titel weiß auf schwarz auf der Hand: Extrem laut und unglaublich nah von Jonathan Safran Foer war ein literarischer Megaerfolg. Die Geschichte handelt vom 11-jährigen Oskar Schell, der bei den Anschlägen vom 11. September 2001 seinen Vater verliert. 20 Jahre nach 911 bringt eine breite Nürnberger Kulturalianz Extrem laut und unglaublich nah theatral in die Straßen Nürnbergs. Am 26. September feiert das Stück Premiere, am 01. September beginnt der Vorverkauf. Wir haben mit der Projektleiterin Christine Haas gesprochen.
CURT: Ihr zeigt Extrem laut und unglaublich nah im öffentlichen Raum zwischen Bahnhof und Bärenschanze. Die Geschichte spielt ja eigentlich in New York. Verlegt ihr sie nach Nürnberg oder wird Nürnberg zu New York? Oder ist einfach eine neue Geschichte entstanden?
CHRISTINE HAAS: Die Geschichte ist natürlich sehr in New York verhaftet. In der Produktion legen wir die beiden Städte übereinander. Die Erfahrung der Umgebung ist bei einem Theaterstück, das nicht auf einer klassischen Guckkastenbühne stattfindet, ja immer Mitspielerin. Klar bewegen wir uns durch Nürnberg, aber wenn man sich drauf einlässt, kann es mit ein bisschen Fantasie New York werden. Schließlich ist „So tun als ob“ auch der Kern des Theaters.
Das Projekt hat ganz schön viele Beteiligte, also das Staatstheater, das Gostner Hoftheater, das Theater Salz+Pfeffer, Leonardo … Plus die Einzelpersonen. Kannst du erklären, wer sich da um was kümmert. Und wie schwierig ist es, so ein Projekt mit so vielen Menschen bzw. Institutionen organisatorisch auf die Reihe zu kriegen?
Ich kümmere mich als (freischaffende) Projektleitung und Dramaturgin um die Gesamtkonstruktion, bin mit allen in Kontakt. Organisatorisch ist das eine ziemliche Herausforderung, schließlich haben die verschiedenen Einrichtungen ganz verschiedene Produktionsweisen und Rhythmen. So war es also wichtig, von Anfang an ein Gerüst zu schaffen, in dem sich alle möglichst frei bewegen können, sich ausprobieren und Dinge entwickeln können. Es hat also im Vorfeld jede Institution einen klaren Handlungsrahmen bekommen, in dem sie aber künstlerisch frei ist. Dabei behalte ich im Auge, dass die wichtigen Fakten etc. erzählt werden. Teilweise ist das dann so eine Art Schiebepuzzle: „Die können an der Stelle erst weitermachen, wenn sie von denen dieses und jenes bekommen, also muss ich das und das organisieren …“ Ist auf jeden Fall nicht langweilig. Und im September bauen wir das Ganze jetzt zu einem großen Theaterabend zusammen, das wird noch aufregend.
Wie kam die Zusammenarbeit denn überhaupt zustande, wer hat den Stein ins Rollen gebracht?
Die Idee entstand im ersten Lockdown, ich hab mich mit Wally Schmidt vom Theater Salz+Pfeffer drüber unterhalten, was man denn so gerne mal machen würde. Ich finde Austausch und Kollaboration sehr bereichernd. Da ich auch dem Gostner Hoftheater und dem Staatstheater verbunden bin, entstand schnell die Idee, doch mal was zusammen zu machen. Wir haben uns dann im September 2020 mit Laurent Gröflin vom Gostner Hoftheater und Anja Sparberg vom Staatstheater Nürnberg getroffen und gemeinsam überlegt, wie so eine Zusammenarbeit aussehen könnte. Schnell waren wir uns einig, dass wir eine Geschichte gemeinsam erzählen wollen, und es war klar, dass das Publikum also von Haus zu Haus zieht. Ich wollte schon länger gerne mal mit dem LEONARDO – Zentrum für Kreativität und Innovation zusammenarbeiten, und die Gelegenheit sah ich jetzt. Also hab ich sie angeschrieben und mich sehr gefreut, als sie gleich Lust hatten, einzusteigen. Dann waren verschiedene Sequenzen und Rollen noch offen, vor allem in den Audioguides. Also hab ich überlegt, wen man anfragen könnte. Und so ist dann Stück für Stück die Gesamtbesetzung entstanden, insgesamt sind es rund 60 Menschen. Ich mag daran sehr, dass so viele unterschiedliche Kräfte aufeinandertreffen. Langjährige Profis arbeiten mit Neueinsteiger*innen und Laien, was Theater angeht, aber auf ihre Weise sind sie alle Expert*innen für einen bestimmten Teilbereich. Und dann haben wir auch große Bandbreite im Alter, die jüngste Beteiligte ist 16, die älteste 74. Die Synergien, die dabei entstehen, sind total toll und bringen neue Blickwinkel, das macht mir viel Spaß.
Wie lief der Produktionsprozess ab. Stand das Stück an sich von Anfang oder hattet ihr eine gemeinsame Entwicklungsphase?
In unserer ersten Besprechung haben wir überlegt, welche Stoffe in Frage kommen. Wir waren uns einig, dass es was mit Reisen, unterwegs sein zu tun haben sollte, haben verschiedene Titel in den Raum gestellt. Dann schlug Laurent „Extrem laut und unglaublich nah“ vor, was ja passend ist, weil die Anschläge vom 11. September sich dieses Jahr zum 20. Mal jähren. Ich hab den Roman dann gelesen und war sofort begeistert, ich konnte mir das sehr gut vorstellen. Also haben wir uns die Aufführungsrechte besorgt und ich habe den Roman dramatisiert und eingeteilt, wer welchen Teil umsetzt. Und dann haben alle in ihrem eigenen Rhythmus zu arbeiten angefangen. Die Studierenden, die die App entwickeln, haben schon sehr früh begonnen, die Proben der Theater alles etwas später. Und dazwischen sorge ich dafür, dass der Austausch läuft, alle die Informationen bekommen, die sie brauchen, um weiter arbeiten zu können.
Warum genau dieses Stück in dieser Zeit?
„Extrem laut und unglaublich nah“ passt gerade natürlich gut, weil es den 11. September aufgreift. Der Vater unseres Protagonisten Oskar ist bei den Anschlägen auf das World Trade Center ums Leben gekommen. Oskar versucht nun, mit diesem Verlust fertig zu werden. Für mich passt das auch gut zu unserer Zeit, weil Oskar etwas passiert ist, das für ihn zu groß ist, um es zu begreifen. So ähnlich geht es mir (und vielen anderen) mit der Pandemie auch. Einerseits sind wir alle gemeinsam mit einem großen, unübersichtlichen Ereignis konfrontiert, das wir uns vorher so nicht hätten vorstellen können. Andererseits sind die Auswirkungen und wie wir damit umgehen sehr individuell. Oskars Geschichte ist auch eine Geschichte voller Hoffnung. Im Laufe des Romans lernt er, mit dem Verlust umzugehen. Es ist klar, dass es nie wieder so sein wird wie zuvor, aber dass es irgendwie weitergeht. Und das finde ich persönlich gerade sehr ermutigend.
Was ist das Besondere an dem Endprodukt, das am 26. September Premiere feiert und wen wollt ihr damit erreichen?
Zum einen denke ich, dass es so eine Zusammenarbeit in dieser Größenordnung und ästhetischen Vielfalt in Nürnberg noch nicht gab. Es ist Sprechtheater, Figurentheater, Tanz, Filmsequenzen, Hörspielanteile – das Publikum wird also mit allerhand künstlerischen Formen konfrontiert, da gibt es dann auch auf jeden Fall Neues zu erleben. Das Stück wird also eine Blickerweiterung, auch hinsichtlich der Orte, an denen es spielt. Man wird neue Orte entdecken oder vielleicht auch altbekannte ganz anders wahrnehmen. Natürlich ist es auch ein Lebenszeichen nach anderthalb Jahren Pandemie: Die Kunst ist noch da, und euch ist vielleicht gar nicht bewusst, wie sehr sie euch gefehlt hat. Erreichen wollen wir also möglichst viele Menschen, was dadurch, dass vieles draußen spielt, hoffentlich auch gelingt.
Alle Infos und Termine über das synergetische Megaprojekt des Jahres auf:
www.laut-nah.de
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