Ein hybrides Musikfest: ION-Festivalleiter Moritz Puschke im Interview

25. JUNI 2021 - 4. JULI 2021, NüRNBERG

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Es kommt ja nicht allzu oft vor, dass relevante Kulturschaffende freiwillig ihren Lebensmittelpunkt von Berlin nach Nürnberg verlegen. Dazu braucht es gute Gründe. Dass Nürnberg einfach schöner ist, war nicht entscheidend für Moritz Puschke, Geschäftsführender Intendant der ION. Er sucht das Netzwerk und den Austausch, beides schwierig aus der Ferne.

CURT: Lieber Moritz, seit 2019 gestaltest du das Programm des Musikfests ION, jetzt ziehst du mit deiner Familie nach Nürnberg. Wie kommt es zu diesem Schritt?
MORITZ PUSCHKE: Ich habe noch nie südlich von Hessen (Limburg) gelebt, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Außerdem werde ich dieses Jahr 50, meine Frau hat bereits letztes Jahr eine tolle Stelle als Musiklehrerin in Nürnberg angetreten und unsere große Tochter hat gerade ihr Abi in Berlin gemacht. Vier gute Gründe, oder?
Aber zuallererst spüre ich seit dem Beginn meiner Tätigkeit für das Musikfest ION im Jahr 2018, dass hier in Nürnberg etwas entstehen kann: Großes Potenzial, spannende Menschen - Offenheit, Lust und Spaß. Mit dem Stiftungsrat der ION war ich immer wieder im Gespräch über die gemeinsame Gestaltung der Zukunft. Da kommt mir großes Vertrauen entgegen. Und dann haben wir uns als Familie entschieden, den Schritt zu wagen und dieses Jahr nach Nürnberg zu ziehen.

Warum ist die ION ein Festival für Musikfreunde aller Genres und jeden Alters?
Das Musikfest ION wird dieses Jahr 70: damals in den Trümmern der Stadt gegründet – friedensstiftend, international und völkerverbindend. Das war total innovativ, zeitgemäß und aufregend. Hier wurde ausprobiert, gewagt, experimentiert. Diesen Nürnberger Geist möchte ich in der Gegenwart mit meiner Idee von Musikkultur verbinden.
Ich will beides: Einerseits holen wir international bekannte Acts der Szene, die wahnsinnig gerne nach Nürnberg kommen – auch, weil das Musikfest ION einfach ein guter Gastgeber und verlässlicher Partner ist. Anderseits interessieren mich junge Ensembles, die sich immer wieder neu auf den Kirchenraum einlassen oder Künstler*innen, die Genregrenzen hinter sich lassen und mit ihrer Musik einfach berühren wollen. Letztes Jahr hatten wir z.B. Markus Becker und Masaa im Festival, die dieses Jahr beide für den Deutschen Jazzpreis nominiert sind. Oder Elena Steri mit ihren berührenden Songs, die sie das erste Mal in einer Kirche (St. Egidien) ausprobiert hat. Dieses Jahr gibt es bei uns die Organ Explosion aus München, die einige vielleicht schon von NUEJAZZ kennen. Die spielen erstmals in einer Kirche! Oder ich freue mich auf Sjaella, ein Frauenensemble aus Leipzig, das stilistisch ungeheuer vielfältig und genreübergreifend arbeitet. An dieser kleinen Auflistung merkt man vielleicht schon, dass Musica Sacra, wie wir sie verstehen, eine große Offenheit und Vielfalt beinhaltet.
Die deutsche Einteilung in U und E, in Klassik und Pop gefällt mir überhaupt nicht. Wie gesagt: Mich interessiert, ob Musik die Menschen berührt, sie zum Nachdenken anregt, sie begeistert, sie tröstet und Resonanzräume eröffnet.

Die Orgel ist das Instrument des Jahres 2021. Was macht dieses Instrument so besonders?
Du bist alleine mit und an diesem Instrument, oft weit weg vom Publikum, brauchst beide Hände und Füße, kannst ein ganzes Orchester imitieren, sphärische und meditative Klänge erzeugen, machst aber den Ton nicht selber. Dafür sind die Pfeifen, Zungen, die Mechanik, die Elektronik und die Technik verantwortlich. Außerdem bleibt der Ton immer liegen – anders als bei allen anderen Instrumenten. Das stellt dich vor enorme Herausforderungen beim Spielen!

Beim Musikfest ION geht es auch um alle anderen Instrumente. Und um Vocals. Wie breit ist das Spektrum der Künstler und der Darbietungen?
Das Musikfest ist eine Plattform für geistliche Musik. Es geht um große Themen, die unser Leben prägen: Spiritualität, Einkehr, Freiheit, Mut, Trost und Zuversicht. Wer sich darauf einlässt und Lust hat, ob als Künstler*in oder Zuhörer*in, ist herzlich willkommen. Da gibt es keine Grenzen!

Letztes Jahr konnte die ION nur digital stattfinden, diesmal wird es ein hybrides Festival. Was kann man sich darunter vorstellen?
Dieses Jahr spielen wir coronabedingt vor kleinem Publikum in den Kirchen und Open Air und sind darüber glücklich. Gleichzeitig haben wir schon seit einigen Jahren eine immer stärker wachsende Community im Netz, die unsere Übertragungen, oftmals realisiert durch den Bayerischen Rundfunk, verfolgt. Im letzten Jahr haben wir jeden Abend in Bild und Ton übertragen, zum Teil sehr tagesaktuell und improvisiert und es haben über 150.000 Menschen aus aller Welt eingeschaltet und sich vielfach bedankt und positiv zurückgemeldet. Und diese neuen Follower wollen wir natürlich bei uns behalten, am liebsten hätte ich sie alle in Nürnberg vor Ort, aber das geht dieses Jahr nicht, so dass wir nahezu sämtliche Konzerte erneut übertragen werden und viel Know-how und auch Geld in zeitgemäße und den Inhalten angemessene Ton- und Bild-Regie investieren. So kann man dann am Bildschirm viel näher dran sein, kann Details erblicken, die im großen Raum verloren gehen. Dafür fehlt daheim dieses unbeschreibliche Raumgefühl. Am besten erst ins Konzert und dann ein paar Tage später in unserer Mediathek noch einmal genießen!

Kirchen sind für viele Menschen quasi Off-Spaces. Dabei sind es großartige Venues für Konzerte, oft architektonische Highlights. Was erwartet den Gast beim Erleben dieser Räume?
Die Kirchen in Nürnberg sind fantastisch. Auratische Räume mit Jahrhunderten gelebter Geschichte, Klängen und Diskurs. Nicht off, sondern in!
Ich frage mich oft, welche Klänge, Texte und Weisheiten in diesen Wänden stecken und wünsche mir, dass sie darüber erzählen könnten. Ein wenig versuchen wir das natürlich mit unseren Konzerten. Ich bin total überzeugt, dass bestimmte Erfahrungen mit Musik nur in Kirchen zu machen sind. Deswegen versuche ich schon, das Musikfest ION so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen – gerade auch die, die nicht im Christentum verwurzelt sind – diese Räume und deren Kraft für sich entdecken.

Wir alle haben 2020 viel dazugelernt, neue Format gelernt, neue Möglichkeiten entdeckt. Was hast du, was hat die ION entdeckt? Was hat sich entwickelt, wird vielleicht sogar beibehalten?
Wir haben in kürzester Zeit unglaublich viel über Videotechnik, Übertragungswege, Cross-Postings etc. gelernt. Zum Teil aus der Not heraus, aber wichtig und elementar!
Wir können nicht davon ausgehen, dass alle zu uns in die Konzerte kommen, sondern müssen uns immer wieder fragen, wie wir die Musik zu den Menschen bringen – in die Communities von nah und fern, möglichst barrierefrei, einladend mit direkter Ansprache. Heimkehren – so wie unser diesjähriges Motto. Eine Art geistiges Lagerfeuer, vor Ort und im Stream! Ich empfinde das neu Gelernte als große Bereicherung, die uns und unsere Konzertformate auf jeden Fall auch in den nächsten Jahren prägen wird.

Die Zeiten haben uns gelehrt, dass Vernetzung, persönliche Bindung, Empathie immer wichtiger werden. Was bedeutet das für dich als Festivalleiter in Bezug zu deinen Künstlern?
Mich hat der so genannte Klassik-Markt immer schon genervt, zum Teil fand ich ihn mit seinen Hochglanz-Reisekatalogen und exorbitanten Honoraren regelrecht abstoßend. In Nürnberg haben wir eine große Chance mit dem Musikfest: Durch die Kooperation mit den Kirchen können wir den Künstlerinnen und Künstlern die Räume länger und intensiver für Proben und Konzerte zur Verfügung stellen, als das im sonstigen Mietgeschäft möglich ist.
Das stillt eine große Sehnsucht bei den Künstler*innen, da sie so Programme in Ruhe vor Ort für das Musikfest ION exklusiv entwickeln können. Dadurch bleiben die Ensembles länger hier, lernen Stadt und Leute kennen und bauen neue Bindungen auf. Das werden wir ab nächstem Jahr noch verstärken und mit den Künstler*innen gemeinsam überlegen, was außerhalb der reinen Darbietung am Abend noch möglich ist. In Workshops, Meisterkursen und Schulprojekten vor, auf und hinter der Bühne zu wirken und möglichst viele Zuhörende zu Musikmachenden zu coachen, das wäre doch großartig!

Die Kultur, die Künstler haben maximal gelitten. Du sitzt im Deutschen Musikrat und kennst die Sorgen und Nöte. Was muss man jetzt besser machen?
Auch nach anderthalb Jahren Pandemie ist die Bürokratie und das oftmals fehlende Vertrauen in die Künstler*innen und Ver-anstalter*innen das größte Problem, dazu der föderale Flickenteppich. Die Freischaffenden brauchen ein Grundeinkommen auf Basis ihres Durchschnittsverdiensts der letzten Jahre und die Veranstalter*innen müssen in die Lage versetzt werden, unabhängig vom (pandemiebedingt niedrigeren) Ticket-Verkaufserlös innovative und spannende Programme auf die Bühne zu bringen und die Musiker adäquat zu bezahlen.
Und die Förderungen müssen vor Ort direkt ausgezahlt und bewilligt werden. Komplizierte neue Förderprogramme, die, meistens in Berlin, in dachverbandliche Hände und Strukturen gelegt werden, sind nicht hilfreich, sondern schaffen neue Bürokratie-Monster und Personalstellen in der Verwaltung, die niemand braucht.

Moritz Puschke in Nürnberg. Was erwartest du von Nürnbergs Kulturlandschaft? Wie stellst du dir dein Wirken hier vor?
Ich empfinde Nürnbergs Kulturlandschaft als ungeheuer innovativ und vielfältig. Durch die Kulturhauptstadt-Bewerbung sind viele Potenziale freigesetzt worden. Jetzt geht es darum, Nürnberg als Musikmetropole im Herzen von Europa und mitten in Deutschland weiter auszubauen und zu etablieren. Das geht nur mit Hilfe und Unterstützung der Stadt, des Freistaats und mit Bundesmitteln. Hier habe ich große Lust, mich zu engagieren und vielleicht auch ein wenig zu helfen. Den Wandel zu einer nachhaltigen und ressourcenschonenden Lebensform müssen wir als Festivals featuren und mit den besten Ideen motivierend begleiten. Mit dem Label „Nürnberg nachhaltig“ ist die Stadt schon auf einem guten Wege und wir wollen als Musikfest ION aktiv mitwirken. Aber dazu demnächst mal mehr …
Nach 13 Jahren Berlin wird’s jetzt beschaulich. Die Wege in Nürnberg sind kürzer, die Szenen überschaubarer … Ich freue mich total auf die spontanen Begegnungen, auf das Bierchen am Abend, auf viele Konzerte mit neuen Acts und auf den Stadionbesuch, wenn mein geliebter SV Werder Bremen zum Zweitligaduell beim Club antritt und hoffentlich beide Mannschaften nächstes Jahr wieder erstklassig sind.
Wir ziehen mitten in die Stadt, unsere Töchter werden dafür sorgen, dass uns nicht langweilig wird und wir zumindest von den angesagten Locations erfahren. Die langen Wege in Berlin haben uns manchmal echt angestrengt, die „Möchtegern“-Coolness, gepaart mit der doch meistens schlecht gelaunten Berliner Schnauze werde ich auch nicht wirklich vermissen … Trotzdem habe ich diese verrückte Stadt liebgewonnen und möchte die Zeit nicht missen!

Was meintest du neulich mit „curt ist auch wie ein Festival“?
Ich habe den Eindruck, dass ihr genau wie wir versucht, immer wieder aufs Neue herauszufinden, was die Leute bewegt, beeinflusst, berührt und begeistert. Das auf der Basis von Themen, die sich ständig verändern und die es immer wieder neu zu beleuchten und zu hinterfragen gilt. Dazu habt ihr wie wir einen Redaktionsschluss, d.h. ihr müsst pünktlich „auf die Bühne“, könnt euer Publikum nicht warten lassen und versucht, mit jeder Ausgabe ein kleines Feuerwerk abzufackeln und die Menschen mit eurem Tun direkt zu erreichen. Das ist genau wie beim Festivalmachen und so habe ich dich und euch in den letzten Jahren kennen- und schätzen gelernt.

Ein wunderbares Bild, sehr nett und treffend beschrieben. Um so besser passt unsere Koop ION – curt. Wir freuen uns auf ganz neue Musikerlebnisse in den Off-Spaces in unserer Musikmetropole!

70. Musikfest ION
Vom 25. Juni – 04. Juli 2021 in den Kirchen St. Egidien, St. Martha, St. Lorenz, St. Sebald und Open Air im Klosterhof des Germanischen Nationalmuseums. curt ist Medienpartner.


 




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