Fuchs, du hast die Ganserer interviewed!

FREITAG, 7. MAI 2021, NüRNBERG

#Grüne, #Interview, #Landtag, #Politik, #Tessa Ganserer, #Theobald O.J. Fuchs

Einmal im Jahr ist es soweit: Ich bekomme einen Rappel und zimmere ein Interview in den CURT. Unvergessen mein Gespräch mit Roland Kaiser im Jahr 2018. Und nun schon zum dritten Mal. [Einschub: was war eigentlich 2019? Und gab es 2020 überhaupt? Gedankennotiz: später klären. Oder irgendwann.] Jedenfalls ist 2021 Tessa Ganserer an der Reihe.

Natürlich keine Überraschung für Leute, die wissen, dass ich mit Leuten, die Tiernamen tragen, grundsätzlich hervorragend auskomme. Keine Ahnung warum. Tessa, die schon seit 2013 für die Grünen im Bayerischen Landtag sitzt, kann sich vorstellen, im Herbst ein Bundestagsmandat zu gewinnen. Richtig gelesen: Bundestag. Natürlich, wenn alles klappt mit den üblichen Listen, Stimmen und der Wahl an sich usw. Definitiv ist das ein Thema, über das wir ein sehr interessantes Gespräch führen können. Daher tun wir es einfach.
Wir treffen uns am Karfreitag, an einem geheimen Ort in Gostenhof, selbstverständlich mit strengsten Corona-Schutzmaßnahmen und lediglich einem kleinen Gläschen Bier zum Abschluss. Oder waren es zwei? Egal, hier der Klartext:

THEO: Wie sähen deine Pläne aus, wenn du in den Bundestag gewählt würdest?
TESSA: Mal abgesehen davon, wie es nach Corona weitergeht, sind natürlich die ökologischen Themen wie Klimaschutz ganz entscheidend. Aber auch die Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Für mich ist es die große politische Motivation, mich im Bundestag für eine vielfältige und offene und tolerante Gesellschaft einzusetzen.
[An dieser Stelle entscheide ich spontan, von Anfang an auf logische Zusammenhänge bei meinen Fragen zu verzichten]

Was mich zu der Frage bringt: Wie grün sind die Grünen? Du hast definitiv grüne Anliegen, oder?  
Die ökologischen Themen waren es, die mich dazu bewegt haben, bei den Grünen einzutreten. Ich durfte eine Legislaturperiode lang für die Grünen Verkehrspolitik machen sowie Wald- und Forstwirtschaft im Landtag vertreten. Das mache ich wahnsinnig gerne. Seit meinem Coming-out ist es mir als transsexuelle Person auch wichtig, mich für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und transgeschlechtlichen Menschen einzusetzen.

Für dich persönlich ist das natürlich ein Herzensthema – ich habe mir hier aufgeschrieben: Herzensprojekte ... ääääh ... [Tessa versteht die Frage, an deren Formulierung ich offenbar scheitere]
Listenaufstellung ist in zwei Wochen. Die Umfragen prognostizieren uns einen deutlichen Zuwachs, und ich gehe stark davon aus, dass ich einen sicheren Listenplatz bekomme und im September in den Bundestag einziehen werde.

Du bist optimistisch – bist du grundsätzlich Optimistin?
Ich bin grundsätzlich eine pessimistische Optimistin.

Das heißt, du stellst fest, das Glas ist halb leer, und schenkst nach?
So ungefähr. Ich stelle fest, es ist halb leer, und sage mir, es könnte ja noch schlimmer sein. Oder ich schenke nach, weil ich sage, mit dem Zustand will ich mich nicht zufrieden geben.

Ganz kurz drei Sachen, die du in vier Jahren im Bundestag schaffen möchtest. Wo du sagst: Hei, wenn ich das schaffe, dann habe ich etwas erreicht.
Ganz konkret geht es um die Abschaffung des entwürdigenden Transsexuellengesetzes. Das ist längst überfällig, viele europäische Länder sind da Deutschland weit voraus. Zweitens die ökologische Verkehrswende. Wir müssen Mobilität für alle ermöglichen, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Im Klimaschutz werden wir die Ziele nicht erreichen, wenn wir im Verkehr nicht wirklich etwas verbessern, und zwar so, dass sich die Menschen Mobilität auch leisten können. Drittens: Soziale Gerechtigkeit, ein Ziel, das in sich einer Legislatur nicht erreichen lässt. Aber zumindest eine deutliche Hebung des gesetzlichen Mindestlohns, damit Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, im Alter noch in Würde von ihrer Rente leben können. Und eine Reduktion von prekären Arbeitsbedingungen. Momentan sind es zu viele Menschen, die nur befristete Arbeitsverträge haben oder im Niedriglohnbereich arbeiten.

Wirst du in der Öffentlichkeit oder von deinen Kolleg*innen im Parlament hauptsächlich als Expertin für Gender-Themen gesehen, als jemand, die da selber ein Anliegen hat – oder ist es im Alltag inzwischen »normal«?
Ich denke, dass ich mir in meinen Themen Verkehrspolitik und Wald & Forst – ich habe ja Forstwirtschaft studiert – Ansehen erarbeitet habe. Die Kolleg*innen von anderen Parteien wissen, dass ich fachliche Expertise mitbringe. Es ist unweigerlich so, wenn man Zuständigkeiten wechselt, dass man seine neuen Zuständigkeiten mit der gleichen Akribie und Intensität bearbeitet. Nun ist Queer-Politik eine meiner großen Aufgaben.

Es gibt ja den Eindruck, dass sich Menschen nur deswegen ins Parlament wählen lassen, weil sie ein ganz bestimmtes Anliegen haben.
So sehe ich mich definitiv nicht. Jede Partei hat ein bestimmtes Profil, konkrete Ziele, die sie verfolgt. Sie wird dann von den Wähler*innen deswegen gewählt, weil sie diese Themen am glaubwürdigsten vertreten und am intensivsten daran arbeiten.

Wirst du inzwischen mit so etwas wie Mansplaining konfrontiert? Also, dass Männer sagen, du bist eine Frau, du kennst dich nicht aus?
In der Deutlichkeit im Parlament nicht. Ich glaube, dass ist meiner besonderen Rolle geschuldet, dass natürlich die Kolleg*innen, die in der letzten Legislaturperiode dabei waren, mich noch als Mann wahrgenommen haben und das irgendwo in ihrem Bewusstsein mitschwingt. Was definitiv der Fall ist, dass ich seit meinem Coming-out im Alltag wie jede andere Frau regelmäßig verbale sexuelle Belästigung erlebe.

Eine unvermeidbare neue Erfahrung, auf die jede Frau natürlich gerne verzichten würde.
Ja. Wenn ich irgendwo entlanglaufe an der Straße, dass Typen aus dem Auto anzügliche Bemerkungen herausbrüllen. Dass mir Typen auf der Straße hinterherlaufen und mich belästigen bis hin zum Angrapschen. Ich habe bisher Glück gehabt, dass ich keine blaue Flecken oder Schlimmeres davon getragen habe. Das machen bei weitem nicht alle Männer, aber jede Frau erlebt diese übergriffige sexuelle Belästigung und das nahezu tagtäglich. In so vielen Bereichen macht man die Erfahrung. Als Mann kannst du herumlaufen wie du möchtest. Du kannst eine ganze Woche den gleichen Anzug tragen, das gleiche Hemd, und kein Journalist wird darüber berichten. Du kannst mit einem Senffleck auf dem Hemd ans Rednerpult treten, ohne dass dich jemand darauf anspricht.
[Unqualifizierte Zwischenbemerkung T. Fuchs: Weißwurstsenf?]
Aber wenn ich als Frau leger daherkomme, heißt es, warum ich jetzt keine gepflegten Nägel habe. Komme ich umgekehrt bewusst und betont feminin gekleidet, findet das Eingang in die Erwähnung. Frauen haben generell das Problem, dass sie auf ihre Äußerlichkeit, auf ihre Emotionalität reduziert werden. Das wird eingesetzt, um von ihren politischen Äußerungen, von ihrer Meinung abzulenken.

Es gibt die üblichen Vorwürfe von der linken Blase, dass sie sich nur mit Identitätspolitik beschäftige, die nur eine Minderheit interessiere, obwohl es viel wichtigere Themen gibt.
Ich mag den Begriff »Identitätspolitik« nicht und wehre mich entschieden gegen dieses Framing. Hier wird bewusst versucht, den Anschein zu erwecken, dass es hier ein paar Individualisten darum geht, ihren Kopf durchsetzen. Was aber eigentlich stattfindet, ist, dass Menschen sich für ihre Rechte einsetzen, dass wir uns gegen strukturelle und gruppenbezogene Diskriminierung wehren. Das soll mit diesem Framing abgewertet werden.

Wirst du manchmal noch als Mann angesprochen?
Nein. Sogar die Abgeordneten der AfD verhalten sich mir gegenüber im persönlichen Umgang scheiß freundlich. Das hält einige Abgeordnete – bei einigen ist das dokumentiert – nicht davon ab, in den sozialen Medien generell über Minderheiten, insbesondere auch über Trans*Personen zu lästern und deren berechtigte Forderungen nach Akzeptanz zu negieren. Für mich ist das typisch AfD – sobald sie in ihrer Blase sind, verbreiten sie Hass und Hetze. Ich finde diese Doppelzüngigkeit besonders verwerflich. Es ist bewusste Stimmungsmache, um Menschen erst in Angst zu versetzen und sie dann dort abzuholen. Ich finde das einfach nur traurig.

[Wieder ein irrer Gedankensprung des Interviewers]
Sind wir in Europa auf dem richtigen Weg?
Die EU muss definitiv etwas machen. Sie ist kein einheitlicher monolithischer Block, sondern ein Zusammenschluss von Nationalstaaten, die in vielen Bereichen unterschiedlich weit sind und in unterschiedliche Richtungen gehen. Wenn man sich die Entwicklung in Polen und Ungarn ansieht, dann braucht es eine starke EU. Die Menschenrechtslage in Polen und Ungarn wird immer schlimmer, indem die Regierungen dort ganz offen gegen Minderheiten hetzen, ihnen grundlegende Menschenrechte absprechen. Ich glaube, die Betroffenen in diesen Ländern haben die einzige Hoffnung, dass sie Unterstützung von demokratischen Kräften aus dem Ausland bzw. von übergeordneter Ebene also der EU bekommen.

Du bist pro EU?
Wir haben der EU, denke ich, so viel zu verdanken. Ich glaube, es ist ein grundsätzliches menschliches Problem, dass wir manche Annehmlichkeiten irgendwann als Selbstverständlichkeit sehen. Ich will nicht davon reden, dass es allen Menschen gut geht. Wir haben einen Haufen soziale Schieflagen, auch in Deutschland und EU-weit generell. Aber dass meine Generation ohne Hunger und ohne Krieg groß geworden ist – ich mit 40 Jahren weiß nicht, was Krieg bedeutet, das ist eine Errungenschaft, die haben wir definitiv der EU mit zu verdanken. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass wir frei reisen können in Europa, dass wir Freizügigkeit haben.

Eine Kritik aus autokratischen Ecken lautet oft, dass man sich in anderen Staaten nicht einmischen soll. Nicht nur in Ungarn oder Polen, es geht auch zum Beispiel um die Situation von LGBTQI-Personen in Russland oder China. Sollen wir uns da zurückhalten, weil es innere Angelegenheiten der anderen Staaten sind, oder haben wir eine Verantwortung für andere Länder?
Natürlich haben wir Verantwortung. Menschenrechte gelten universell für alle Menschen auf der ganzen Welt. Da haben wir als Mitgliedsstaat in der EU auch Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Menschenrechte zunächst in der EU umgesetzt werden. Dann hat die EU dafür zu sorgen, dass in den Mitgliedsstaaten diese Rechte gelten. Die EU ist nicht nur ein Wirtschaftsraum.

In Baden-Württemberg gibt’s wieder eine schwarz-grüne Regierung, ein katholischer Grüner ist Ministerpräsident, die deutsche Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen. Wie stehst du grundsätzlich zu religiösen Gruppierungen? Zum Beispiel zur katholischen Kirche?
Ich habe höchsten Respekt vor gläubigen Menschen. Egal welcher Religion sie angehören. Ich finde, es gibt viele grundlegende Werte, die eigentlich auch humanistische Werte sind und die Religionsgemeinschaften miteinander teilen. Ich glaube, dass vielen Menschen ihre Religion auch deswegen wahnsinnig viel gibt. Ich selbst bin nicht gläubig, ich bin katholisch getauft und erzogen worden, habe aber vor Jahrzehnten der katholischen Kirche den Rücken gekehrt. Ich finde, wenn wir beim Thema queere Menschen, LSBTI bleiben, die Haltung von Rom, dass gleichgeschlechtliche Partner nicht gesegnet werden sollen, nicht hinnehmbar. Das ist so etwas von aus der Welt gefallen, dass die Leitung dieser Glaubensgemeinschaft in Rom so eine Position vertritt. Aber ich sehe die Gegenbewegung in Deutschland. Dass sich ganz viele Geistliche und auch hohe geistliche Würdenträger ganz offen gegen Rom stellen.

Apropos Rom. Unser Ministerpräsident Markus betreibt mittlerweile eine Art Green Washing. Kennst du Söder persönlich? Seid ihr per du? Trefft ihr euch im Landtag?
Wir waren bisher nicht per du, man läuft sich auf den Fluren über den Weg, es gab auch einige Momente, in denen wir uns persönlich ausgetauscht haben. Aber mit dem Ministerpräsidenten habe ich bisher verdammt wenig persönliche Begegnungen gehabt. Das ist auch seiner Rolle geschuldet, dass ein Ministerpräsident in der Regel nicht die ganze Zeit im Plenarsaal sein kann …

Was hältst du vom Vorwurf des Green Washing?
Markus Söder ist ein gnadenloser Selbstdarsteller. Ja, ist er. Er hat das drauf, manchmal genial. Vor einem Jahr: Corona-Hamsterkäufe. Ich weiß nicht, wie er das so schnell organisiert hat. Er fährt in eine Lagerhalle und lässt sich vor Bergen von Toilettenpapier fotografieren. Und sagt so: Keine Panik, es ist alles da. Er hat es drauf, Bildsprache zu bedienen. Das gehört zum Geschäft der Politik dazu, dass man nicht nur Romane schreibt oder ellenlange wissenschaftliche Abhandlungen, sondern dass man auch mit einfachen Worten oder Bildern erklärt, was man politisch machen möchte. Er ist definitiv ein Mensch, der ganz schnell und entschlossen handelt und Entscheidungen trifft. Aber ich glaube, mit der ernsthaften Umsetzung hat er es dann überhaupt nicht.

Hast du konkrete Vorbilder? Aus deiner Jugend oder vielleicht jemand, den du später im politischen Geschehen kennengelernt hast, jemand, von dem du sagst, die finde ich gut, so würde ich auch gerne?
Hm, schwierig. Du hast es ja mit Markus Söder gesehen, dass ich auch von politischen Gegnern durchaus ihre Fähigkeiten, ihre Leistungen, ihre Positionen anerkenne. Ich weiß es nicht, ich habe zeitlebens nicht irgendwelche Idole gehabt, die ich bedingungslos angehimmelt habe – ich habe keinen Franz Josef Strauß aufgehängt! [großes Gelächter] Ich habe auch keinen Joschka Fischer angebetet. Das war ein super Politiker, aber kein Idol. Das liegt wohl daran, dass ich Autoritäten immer wieder kritisch hinterfrage.

Liegt das daran, dass es bis vor kurzem in der deutschen Politik nicht wirklich ein Thema war, ob jemand transident ist. Es hat sich viel getan, inzwischen ist es völlig akzeptiert, ob jemand schwul ist: Spahn, der ehemalige Außenminister Westerwelle von der FDP, sogar bei der AfD eine Alice Weidel …
 … ja, Wowereit, der gesagt hat, er ist schwul und das ist gut so, das hat der Republik so gut getan, dass das ein Spitzenpolitiker sagt. Aber beim Thema Trans habe ich nie solche Idole gehabt. In Film und Fernsehen, als ich aufgewachsen bin, da sind geschlechts-nonkonforme Menschen als Witzfiguren dargestellt worden, Männer in Frauenkleidung. Aber auch Charlys Tante wäre ja okay, wenn das nicht das einzige Stereotyp wäre, das einzige Bild. Es ist heute noch so in den Medien. Ich vermisse zum Beispiel Fernsehfilme, in denen sich eine transsexuelle Professorin outet. Oder den schwulen Polizist, der mit einem Trans*mann auf Streife geht, und zwar so nebenbei und nicht als Witzfiguren oder irgendwelche gescheiterte Existenzen, die im Rotlicht ihr Auskommen suchen, psychisch krank sind und am Ende ermordet werden. Ich wünsche mir Selbstverständlichkeit an Stelle irgendwelcher Tragödien. Diese Bilder vermisse ich.

Welche Musik hast du in deiner Jugend angehört?
Ich hab Punkmusik aufgesaugt wie die Muttermilch, Ska, Hardcore, alter, klassischer Rock, Electro.

Ist es das, was von der Masse noch am ehesten wahrgenommen wird: Die androgynen Stars des Glam Rock oder einer wie Freddie Mercury, der von allen geliebt wird und trotzdem erst sehr spät sein Coming-out wagte?
Lou Reed – Take a walk on the wild side. Der Text, der über transsexuelle Frauen im New York der 60er handelt.

Ist das gut oder schlecht? Es ist ja nicht normal, Rockstar zu sein. Kann die Gesamtgesellschaft eher einen Rockstar akzeptieren, der mit seiner Geschlechterrolle spielt oder etwas ausdrückt, das nicht binär ist – aber nicht als Nachbar oder als Politiker*in?
Ich glaube, da ist die Gesellschaft heute weiter. Das waren die ersten Bilder, die wir gesehen haben. Unter dem Nationalsozialismus wurden transgeschlechtliche Menschen verfolgt, und bis in die 80er-Jahre wurden sie rechtlich nicht anerkannt. Sie wurden an den Rand der Gesellschaft verdrängt, galten beim Arbeitsamt als nicht vermittelbar und haben deswegen kein Arbeitslosengeld bekommen. Sie sind so ins Rotlicht und sonst wohin abgedrängt worden. Sichtbar waren dann irgendwelche Paradiesvögel, Künstler*innen im Musik-, Theaterbetrieb, weiß der Geier wo. Dann gab es eine Zeit, in der transsexuelle Personen angefangen haben, Selbsthilfegruppen zu gründen, sich öffentlich für ihre Rechte einzusetzen. Sie wurden dann aber sehr schnell unsichtbar. In einer anderen Unsichtbarkeit, indem sie ihre Transition abschlossen und danach nichts mehr mit ihrer Transsexualität zu tun haben wollten. Wenn jemand ein gutes Passing erreicht, so dass man ihm seine Transsexualität – ob Transmann oder Transfrau – nicht an der Nasenspitze ansieht, lebt es sich für manche einfacher, indem sie die Vergangenheit komplett ablegen. Die Transbewegung hat sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahren noch einmal weiter emanzipiert, indem Trans*personen zu ihrer transsexuellen Vergangenheit stehen und auch öffentlich sichtbar sind. Transsexuell zu sein ist eine Eigenschaft, wie Linkshänderin, Kaffeetrinkerin, Frühaufsteherin, Niederbayerin, Legasthenikerin. Diese Eigenschaft alleine definiert mich ja nicht, aber sie führt dazu, dass ich in dieser Gesellschaft in so vielen Bereichen anecke und Probleme bekomme. Nicht nur ich, sondern alle anderen, die diese Eigenschaft mit mir teilen.

Worauf ich hinaus will: Ob du jetzt selbst nicht so etwas wie ein Vorbild bist? Und ob du in den Parlamenten und Ausschüssen, wo du politisch unterwegs bist, auf Leute triffst, die in der gleichen Lebenssituation stecken wie du früher?  
Ich denke, dass ich dazu einen Beitrag leiste, definitiv. Ich habe so unendlich viel Zuschriften bekommen, wirklich aus der ganzen Welt. Ich weiß, dass ich für viele Leute ein positives Role Model darstelle, die Leute ermutige. Es geht ja nicht nur um die Abschaffung von demütigenden Gesetzen, sondern auch um gesellschaftliche Akzeptanz, die man vorleben und einwerben muss. Der Umgang mit mir im Bayerischen Landtag, dass sich eine CSU-Landtagspräsidentin hinstellt und deutlich macht, dass ich respektvoll behandelt werden muss und Diskriminierung in dem hohen Haus nicht geduldet wird, war ein Signal, das der ganzen Gesellschaft gut getan hat.

Du bist also eine gesellschaftliche Pionierin?
Und hoffentlich bald nicht mehr die Einzige. Es kandidieren für den Bundestag eine ganze Reihe transgeschlechtlicher Personen. Wenn wir davon ausgehen, dass ein halbes bis ein Prozent der Bevölkerung trans sind, dann bräuchten wir für eine repräsentative Vertretung etwa vier bis acht transgeschlechtliche Abgeordnete im deutschen Bundestag … es geht dabei darum, dass es endlich normal wird. Auch in zunehmenden Maße in den unteren Reihen. In Berlin tritt eine Transfrau für die Grünen für das Berliner Abgeordnetenhaus an, in Bremen sitzt eine transsexuelle Frau für die Linke in der bremischen Bürgerschaft. Sogar bei der CDU in Hessen ist eine transsexuelle Frau zur Kommunalwahl angetreten.

Eine letzte Frage: Hast du einen Serientipp für unsere Leser*innen in Corona-Zeiten?
Ja, eine Doku auf Netflix. »Disclosure« – eine Dokumentation über die Darstellung von transgeschlechtlichen Menschen in Film und Fernsehen, ein Punkt, den ich ja grad angesprochen hatte. Sehr sehenswert!

Vielen Dank für das interessante und offene Gespräch!

___
Tessa Ganserer

wurde 1977 in Zwiesel geboren und auf den Namen Markus getauft. Sie ist Diplom-Forstingenieurin und seit 1998 Mitglied von Bündnis  90/Die Grünen. 2013 zog sie für ihren Stimmkreis Nürnberg-Nord erstmals in den Bayerischen Landtag ein. 2008 bis 2018 saß sie im Bezirksvorstand der Grünen Mittelfranken, sie ist queerpolitische Sprecherin der Grünen Landtagsfraktion. Ende 2018 outete Tessa sich als transgeschlechtlich – sie ist damit die erste als trans geoutete deutsche Abgeordnete.

 




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