Literaturpreisträgerin Lisa Neher im Interview

FREITAG, 18. DEZEMBER 2020

#Kulturmagazin, #Literatur, #Preis für junge fränkische Literatur, #Printmagazin, #Stadtgeschehen

Noch bis 31. Januar. könnt und solltet ihr, so ihr unter 30 seid, eure Texte für den 33. Fränkischen Preis für junge Literatur einreichen (ausgerichtet von den Nürnberger Literaturläden). 1.500 Euro gibt es insgesamt zu gewinnen, die auf die Preisträger*innen aufgeteilt werden. Gleich doppelt freuen durfte sich in diesem Jahr Lisa Neher, die Erstplatzierte der Jury und Gewinnerin des Publikumspreises. Sie wurde hier von unserem Andreas Thamm befragt, der sich übrigens auf Platz 2 schrieb.

Lisa, worum geht’s in deinem Text, mit dem du den Wettbewerb in diesem Jahr gewonnen hast?
LISA: In meinem Text „Venus“ geht es um die Kassiererin Nadja, die während der Arbeit von ihrem All-inclusive-Urlaub im vergangenen Jahr träumt. Während sie die Waren über das Kassenband zieht, kommentiert sie eitel, präzise und stumm das Verhalten der Supermarktkund*innen. Es geht um Konsum und Vergänglichkeit und darum, wie unsere Gesellschaft um allen Preis leugnen möchte, dass die Zeit läuft – zum einen in Bezug auf das Altern, oder härter gesagt „den Verfall“, zum anderen hinsichtlich jeglicher saisonaler Rhythmen, die im Discounter immer unsichtbarer zu werden scheinen. Alles muss immer verfügbar sein. „Venus“ ist die zweite von sieben Kurzgeschichten in der Sammlung „Rückgrat der Nacht“, die auf poetische Weise die Planeten in unserem Sonnensystem erklären sollen, in einer literarischen Übersetzung sozusagen. Die Stories vermitteln uns ein Gefühl für den jeweiligen Himmelskörper: wie sind die Gegebenheiten dort? Warm, kalt, zerstörerisch, sanft, flüchtig, still? Die Venus ist definitiv der schlimmste Ort in unserem Teil der Milchstraße. Es gibt sauren Regen, auf den lavaüberzogenen Bergen und Vulkanen schneit es sogar Metall. Unter der dicken Wolkendecke, die sie ummantelt, staut sich die Hitze mehr und mehr – auf der Erde nennen wir das „Treibhauseffekt“. Die Venus ist das, wovor Greta uns immer gewarnt hat.

Welche Situationen oder Anlässe sind es, die du schreibend verarbeiten möchtest?
Diese Frage ist für mich schwer zu beantworten. Ich glaube, mein Impuls zu schreiben ist erstmal mehr die Liebe zum Handwerk und zur Sprache, als ein konkretes Mitteilungsbedürfnis. Und erst wenn ich mittendrin stecke, merke ich, wie Gedanken und Fluss entstehen. Deshalb lautet die einzig richtige Antwort auf diese Frage auch, dass ich wirklich viel, viel öfter schreiben sollte, auch ohne auf irgendein Endprodukt zu zielen. Ich war noch nie der Tagebuch-Typ, aber denke, dass es mir sowohl zur Verarbeitung, als auch zum Speichern von Beobachtungen und Gefühlen sehr dienlich wäre. Am liebsten hätte ich sowas wie ein Schreibritual. Jeden Morgen nach dem Aufstehen zum Beispiel, das würde auch die Angst vor dem weißen Blatt ausradieren. An der leide ich nämlich schrecklich. Aber für ein ganz eigenes Ritual muss ich mir erst noch ein bisschen Disziplin einkaufen.

Und was ist für dich der Gewinn am Schreiben?
Wenn ich schreibe, setze ich mich mit einer konkreten Erfahrung auseinander, die ich irgendwo gesammelt oder aufgeschnappt habe. Das muss nicht unbedingt meine eigene sein. Ich hebe sie auf, drehe sie in meinen Fingern herum und betrachte sie genau, aus allen Perspektiven, frage mich, wie sie sich anfühlt und wie das vielleicht für Passanten aussehen könnte, die mich dabei beobachten. Schreiben heißt Empathie. Für Menschen und Momente. Es bedeutet auch Reflexion, Kontexte verstehen. Den eigenen in der Gesellschaft und andersrum. Lesen übrigens auch, finde ich! Der Gewinn sind die Erkenntnisse, die man bei beidem hat.

Du hast deine Storysammlung „Rückgrat der Nacht“ bereits erwähnt, die im vergangenen Jahr erschien. Wie geht’s schreibend für dich weiter, arbeitest du momentan an etwas?
Ich glaube, dass es in kreativen Prozessen immer Phasen des Füllens und Phasen der Ausschüttung gibt und nach dem „Rückgrat der Nacht“ war ich sehr lange sehr leer. Es hat über ein Jahr gedauert, in dem ich Bücher ausschließlich „konsumiert“ habe, aber jetzt merke ich, wie der Tank sich füllt und die Inspiration langsam zurück kommt. Ich schreibe wieder kleine Texte und habe sowas wie einen literarischen Briefwechsel mit einer Freundin. Das motiviert mich gerade sehr. Mal sehen, was da kommen wird.

Du arbeitest als Buchhändlerin, daher: nenne bitte drei Bücher, die unsere Leser*innen sich unbedingt besorgen sollen – in der kleinen, schönen Buchhandlung ums Eck natürlich.
Wer mir immer hilft, meinen Tank aufzufüllen, ist Patti Smith mit „Just Kids“. Dieses Buch ist wie ein Reminder, mit wachem Herzen und wachem Blick durch die Welt zu gehen. Ihre Sprache ist intensiv und poetisch und beschreibt wunderbar die 70er Jahre in der New Yorker Kunstszene. Dann natürlich Sibylle Berg mit „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“. Diese Frau beeindruckt mich nicht nur mit ihrer klugen Schlagfertigkeit, sondern vor allem auch mit ihrem unglaublichen Einfühlungsvermögen, das so abgebrüht ehrlich ist. Außerdem hat sie eine derart eigenwillige Ausdrucksweise, die mir hilft, Literatur auf erleichternde Art weniger ernst zu nehmen, denn das vermeintliche „Richtig und Falsch“ oder das „Gut und Schlecht“ von Sprache im klassischen Stil kann ja oft auch hemmen oder unnahbar wirken. Sie erinnert mich daran, dass ich machen kann, worauf ich Lust habe und dass Schreiben vor allem auch eine freie Kunst ist.
Und weil ich machen kann, was ich will, werde ich statt drei Büchern vier nennen: „Wie später ihre Kinder“, einer meiner aktuellen Favoriten aus Frankreich. Bei Nicholas Mathieu fesselt mich ebenfalls die Menschenkenntnis in seinen Texten und seine subtile Art, gesellschaftspolitische Themen aufs Blatt zu bringen mit gekonnten Sätzen, in denen jedes Zeichen richtig sitzt. Und wenn es ein Buch gibt, das dieses Jahr nochmal extra an Wichtigkeit und Wahrheit gewonnen hat – BLM-Proteste, Präsidentschaftswahl in Amerika – dann ist es „Americanah“ von Chimamanda Ngozi Adichie, ein Roman wie ein kluger, warmer und starker Anstoß zu einem feministischen, antirassistischen Menschsein.

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Lisa Neher
wurde 1994 in Lindenberg im Allgäu geboren, wo sie 19 Jahre lang mit viel Zeit für Bücher und Musik im Nirgendwo aufwuchs, bis es sie nach Nürnberg verschlug. Dort studierte sie von 2014 bis 2019 Design mit Schwerpunkt auf Verbale Kommunikation und Typografie an der TH Georg Simon Ohm. Neben dem Studium war sie Teil der unabhängigen Lesereihe „ROY“, zunächst auf der Bühne, von 2018 bis 2019 auch als eine der Hauptorganisator*innen.
Im Februar 2019 kuratierte sie die Fotoausstellung „Baby du bist so heiß, ich will dein Badewasser saufen“ zusammen mit der Fotografin Elisabeth Thoma im Edel Extra, ausgestellt waren auch ihre Texte. Im Juli 2019 erschien ihre Kurzgeschichtensammlung „Rückgrat der Nacht“, woraufhin sie im Frühjahr 2020 für eine der Stories mit dem mitelfränkischen Preis für junge Literatur ausgezeichnet wurde.
Lisa arbeitet als Buchhändlerin, freie Autorin und Grafikerin.

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33. Fränkischer Preis für junge Literatur.
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Alle Infos unter: www.kultur-nord.org
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