Theobald O.J. Fuchs: Mitgelebt und mitgelitten

FREITAG, 18. DEZEMBER 2020

#Kulturmagazin, #Printmagazin, #Stadtgeschehen, #Stadtmagazin, #Theobald O.J. Fuchs

»Pro Tag fünfzig Euro, ab einer Woche 10% Rabatt«, sagte die freundliche Frau hinter dem grün-gelb-gestreiften Tresen der Agentur. Ich rechnete schnell im Kopf nach. Ein teures Vergnügen, das war es. TripAdvisor hatte dies nicht verhohlen. Aber es sei jeden einzelnen Cent wert, war da gestanden. Ein Geheimtipp – noch.
»Nun gut«, sagte ich. »Zeigen Sie mir doch einfach, wen Sie im Sortiment haben.«

»Na, vielleicht hätte ich da etwas passendes für Sie: Einen jungen Mann in der Denisstraße, 28 Jahre, sieht Ihnen ziemlich ähnlich, wie ich finde.« Sie starrte auf den Bildschirm ihres Computers. »Er ist, Moment bitte... hier habe ich‘s... Influencer, Sprayer, Personal Coach, Polyaktivist, Surf-Lehrer, Motivational Speaker, Kurator, gelernter Pferdemetzger, in der hiesigen Hipster-Blase zu Hause...«
»Entschuldigen Sie bitte, ich wäre eigentlich an etwas Außergewöhnlichem interessiert. Diesen 08/15-life-style-Mix kenne ich schon zur Genüge.«

Sie taxierte meine Klamotten, checkte meine Frisur. »Viel mehr Party, richtig?« fragte sie lächelnd. Offensichtlich bildete sie sich etwas ein auf ihre Menschenkenntnis. »Für Sie habe ich jemanden, der passt perfekt: den Chefredakteur eines unabhängigen Stadtmagazins. Im Prinzip zwar ein Anzeigenblättchen, versucht sich aber intellektuell zu geben, kokettiert mit Kultur, ohne jeden Unterschied, worum es überhaupt geht. Der Chef des Ladens ist ein wilder Typ, ein echter Exzentriker. Sieht obendrein total gut aus. Das wird Ihnen Spaß machen.«

In selben Moment, als ich die PIN meiner EC-Karte ins Lesegerät getippt und damit für acht Tage das Leben dieses Typen gemietet hatte, erschütterte ein Donnerschlag die Zentrale für Lebensvermietung (ZfL). Die Dame löste sich in einen farbigen Strudel auf, der Computer öffnete seinen Bildschirm und fletschte zwei Reihen spitzer, scharfer, kleiner Zähne. Im nächsten Augenblick riss mir der Hirngummi, ein ganzer Stapel Gedanken kam ins Rollen, verschiedene Wände bekamen Risse, die Beleuchtung flackerte, die Tür eines Kühlschranks sprang auf, gefrorene Frösche polterten auf den Boden. Dann wurde alles wieder still. Sanftes Licht, wie Sonnenaufgang im Juni, flatterte an meiner privaten Auslage vorbei, es roch im Saal nach Wind, der stundenlang über wilde Minze geweht war, ohne den Weg zum Meer zu finden, das doch direkt hinter ihm lag und träge grunzte.

Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis sich mein Blick endgültig klärte. Es war wie eine Biographie, bloß eben kein Buch. Es war wie im Film »Being John Malkovich«, bloß ohne John Malkovich, sondern mit einem zweitklassigen Chefredakteur an dessen Stelle. Ich war kein berühmter Schauspieler in New York, sondern ein Party-Löwe im so geschimpften Nürnberger Szeneviertel Gostenhof. Ich war Reinhard »The Animal« Lamprecht auf dem Höhepunkt seiner Feierkraft.
Lampe hatte absolut gar nichts zu tun, seine Frau hatte ihn schon lange hinausgeworfen. Er lebte in den Tag hinein, wenn man diese Form des Existierens »leben« nennen mochte, er zog um die Ecken wie ein Hannibal ohne Elefanten, er schubste Häuser um und ließ sogar den Ameisenbär steppen. Auf welcher Party, in welcher Kneipe – wo auch immer ich auftauchte: über mir explodierte jede Minute eine fliegende Kuh.

Ich nahm am Sonntagmorgen an einem Seifenkistenrennen teil, brach mir fast den Hals und gewann. Ich rockte eine Kegelbahn, indem ich die Kugel durch die Rückwand des Gebäudes schleuderte und trotzdem alle Neune schob. Ich nahm Drogen zu mir als wären es Erdnussflips, schlief in keiner Nacht, sondern saß sturzbetrunken hinter dem Steuer eines pinkfarbenen 1984er Opels (»ausgeborgt«) und düste damit durch die schlafenden Dörfer der fränkischen Provinz. Nur meine Gastperson wusste, weshalb. Ich entkam um Haaresbreite mehreren – natürlich von mir selbst verursachten – Katastrophen, denn ich war unkaputtbar, wusste alles, kannte jede und jeden und war Stammgast in tausend Kneipen. Ich bandelte mit den schönsten Frauen und Männern der Region an, zeugte mehrere Kinder, entkam zig Male wütenden Wirten und Polizisten und gewann eine wichtige Auszeichnung für den schwierigsten Gast im europäischen Nachtleben.
Die einzigen Momente der Entspannung erlebte ich, wenn ich mit Lampes Hund eine Runde um den Block drehte. Eine relative Entspannung, wohlgemerkt. Denn Weber, der winzige schwarz-weiß-gescheckte einäugige Schoßhund des Veranstaltungsmagazintycoons war eine wahre Bestie in Bestiengestalt. So wie sein menschlicher Kompagnon die Party-Szene in der gesamten Stadt aufmischte, so beherrschte Weber die Bürgersteige. Die unschönen Begegnungen, die wir dabei hatten, spotten jeder Beschreibung. Zahllose zerfetzte, merkwürdig verklebte Hosenbeine blieben nach jedem Spaziergang auf dem Pflaster liegen.

Vier Tage hielt ich es aus in der gemieteten Existenz. Dann ertrug ich den grenzenlosen Spaß nicht länger. Zum Glück traf ich in der Zentrale für Lebensvermietung dieselbe freundliche Frau wie neulich an, als ich mich in Lampes Leben eingemietet hatte.
»Hallo, da sind Sie ja«, begrüßte sie mich. »Sie haben ganz schön lange durchgehalten. Ihnen ist klar, dass Ihr restliches Guthaben verfällt, wenn Sie jetzt aussteigen?«
»Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«
»Selbstverständlich!«, jauchzte sie. »Kunden, die diese oder ähnliche Personen gemietet  haben, entscheiden sich oft für das schnelle Vorspulen. Fast forward – aber ohne jede Garantie, dass es besser wird...«
Und so erlebte ich noch drei ruhige Tage im Leben des gealterten Lampe, der sich in einen schlimmen Spießer verwandelt hatte. Den CURT an seine Nachfolger zu übergeben, war ihm spielend leicht gefallen, da er immer schon darauf geachtet hatte, quasi komplett verzichtbar zu sein.

Dreißig Jahre später hatte er nichts Besseres zu tun, als bei seinem Schwiegersohn im Garten herumzulungern, um zu schauen, ob die Type, die seine – meine – Tochter geschwängert hatte, den Rasen ordentlich mäht. Sonst hat er nichts mehr zu sagen – das Haus gehörte dem Schwiegersohn, immerhin hatte die Tochter durchgesetzt, dass Lampe ein Zimmerchen unter dem Dach herunterwohnen durfte. Weber und dessen fünf Nachfolger standen ausgestopft im Regal, eine letzte Erinnerung an Lampes wilde Zeiten. Abends kiffte er heimlich vom Dope des Schwiegersohns, da die Familie gerade auf Kreuzfahrt war und er aufs Haus aufpassen durfte. Langweilig – anders lässt es sich nicht sagen: Lampe war langweilig geworden. Nach der nervenaufreibenden ersten Etappe empfand ich das als wahnsinnig angenehm.

Bis am dritten Tag die Nachricht eintraf, dass er in der Lotterie gewonnen hatte, und er natürlich eine Riesenparty schmeißen wollte, solange die Familie noch im Urlaub war. Für mich das unmissverständliche Signal, den Trip zu beenden.
Unter dem Strich: Ein unvergessliches Erlebnis, zwei von fünf Sternen und ja, wirklich – ich kann den Lampe echt weiterempfehlen!

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Theobald O. J. Fuchs:
Man mag es kaum glauben, er schüttet Bier nicht nur seine Kehle hinunter, sondern schreibt auch darüber und ist mit neun Geschichten in einem Bierbrevier beteiligt, gerade ofenfrisch auf dem Tisch.
 




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