Theater: WIEDER VERZINSUNG BEIM VERTRAUENSVORSCHUSS?

DIENSTAG, 1. DEZEMBER 2020, NüRNBERG

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Wie Nürnberg 2020 beinahe doch noch einen Theater-Rekord aufgestellt hätte und was man daraus folgern kann
– Fragment einer Bilanz zwischen Comeback-Stress und Hoffnungs-Optimierung – Kommentar von Dieter Stoll

Die Ente bleibt draußen, der Vorhang bleibt geschlossen, die Abende und die Gesichter werden länger. Wieder nichts mit dem Comeback-Versuch.

ABER: Beinahe wäre es im Dezember, wo traditionell geballte Bilanzen die Winzigkeiten der Realität jahresendlich gnadenvoll überstrahlen, zum ultimativen Nürnberger Theaterrekord gekommen. Mindestens zehn Premieren für kaum mehr als drei Wochen drängelten auf der inoffiziellen Startposition wie an einem Staudamm. Das Fließband der Ambitionen – Metapher, sei uns gnädig! – drehte in Höchstgeschwindigkeit leerlaufend durch. Fürs Finale 2020 wurde in der von Abseitsfallen umstellten Künstlerszene die Hoffnung auf kurzfristige Beherrschbarkeit allmächtiger Viren fast so hochgehalten wie der Glaube an die Durchschlagskraft von Offenen Briefen an Politiker. Nach Monaten zwischen Hektik und Stillstand mit viel Stop (ab März und November) und ein wenig Go (im September und Oktober) bei ständig abnehmender Publikumszulassung schäumte die ungenutzte Energie auf der lokalen Staatstheater-Insel am Ende des unglücklich verlaufenen Bühnenjahres einem, naja, womöglich furiosen Schlusspunkt entgegen. Wer genau hinschaute, konnte an winzigen Spielplan-Bewegungen auf der offiziellen Ankündigungs-Website die nervenzerrende Absicht zum Hochleistungsaufschwung erkennen. Und dann wieder nix! Es wär (vermutlich) so schön gewesen …

Erst sollte der „Vetter aus Dingsda“ als bekanntlich armer Wandergesell das daheim wundgesessene Publikum mit dem Versprechen von viel weißer Salbe für jede seelische Druckstelle zur Wiederbelebung der guten Laune versammeln – unterm „strahlenden Mond, der am Himmelszelt wohnt“. Dann hätte Joana Mallwitz Superstar, Frankens erste Generalin mit Kompetenzbewaffnung für siegesgewisse Charme-Offensiven, im Opernhaus zu weiteren ihrer plauderfreudigen Kultexpeditionen gerufen, diesmal hin zu den Beethoven-Sinfonien 5 und 6, also der größtmöglich entspannten Annäherung in Richtung Schicksalsschlag und Naturgewalt. Ein gut abgehangener Musiktheater-Sampler von Vivaldi & Zeitgenossen mit dem Titel „Bajazet (Il Tamerlano)“ war, nach all den verflixt gesundgeschrumpften 60-bis-90-Minütern immerhin stolz dreieinhalbstündig formatiert, als Trostpreis für die unbefristet ausgesperrte „große Oper“ angesetzt. Ballettdirektor Goyo Montero schließlich stand mit seiner Compagnie im zweiten Premieren-Anlauf bereit für tief im Pelz juckende Studien „Über den Wolf“ frei nach Prokofjews Märchenhörspielkonzert, das von den Philharmonikern längst als Soundkonserve eingespielt war.

SCHAUERROMANTIK BIS DER ARZT IMPFT UND EIN TAPFERES „AEROSOLE MIO“
Das ganze Schauspiel-Ensemble wollte in aufgeschlüsselten Miniatur-Aktionen das „Museum der Möglichkeiten“ ausrufen, im großen Haus hatten Spartenchef Jan Philipp Gloger und Stammautor Philipp Löhle mit „Isola“ eine weitere Uraufführung dieser bislang so bemerkenswerten Konstellation abrufbereit gemacht: Horror in Schauerromantik diesmal, mit Corona-Anspielungen bis der Arzt impft. In den Kammerspielen warteten Chris Thorpes „Bestätigung“ und Martin Crimps „Im Haus“ als durchgeprobte Auftritte für Solo und Duo. Ein Mann im Selbstversuch des Linksliberalen beim Disput mit einem Holocaustleugner, ein Paar in Beziehungsstress auf dem ehelichen Nährboden für Ängste. Nicht zu vergessen die Auswertung der Modellbau-Satire in Wort und Kulisse, „Take the Villa and Run!“ des Berliner Regiestars René Pollesch, die Ende Oktober an zwei Abenden die überregionalen Kritiker unter den insgesamt hundert abgezählten Zuschauern entzückte, aber eine dritte Vorstellung aus bekannten Gründen bislang nicht mehr schaffte. Und der ganze, nach scheinbar unabweisbarer Virologik verstummte Opernchor sollte, Risiko-Extraklasse, im eigenen Kollektivprojekt „Blick nicht zurück“ aus überquellendem Fundus und voller Kehle das denkbar tapferste Aerosole mio anstimmen. Ach ja …!

TRÄUME UNTER TRÜMMERN – NICHT NUR AM THEATER
Es hätte zum kleinen, steilen Aufschwungsignal nach plumpsenden Abstürzen bei den kommunalen Träumen von der städtischen Europa-Zertifizierung und dem Wohlklang versprechenden Konzertsaal reichen können am Ende des verflixten Nürnberger Kulturjahres 2020. Nun bleiben Ausgrabungsarbeiten, die Spurenelemente visionärer Perspektiven liegen unter den Trümmern der geradezu klassisch unabweisbaren höheren Gewalt. Bis auf weiteres. Die optimistische Dezemberplanung des Staatstheaters wirkt auch nach ihrer zwangsläufigen Vertagung wie ein trotziger Versuch gegen Anzeichen von institutioneller Apathie. Nötig ist er. Dass die Stadtspitze im gleichen Zeitraum mit der Ruckzuck-Kappung langjährig diskutierter Bauplanungen noch schneller zugeschlagen hat als kurz zuvor bei der amtlichen, durch keinerlei Covid-19-Bestimmungen angetriebenen Auslöschung der spontanen Regenbogen-Kunstaktion am Reichsparteitagsgelände, hier wie dort ohne die Chance vorheriger öffentlicher Debatten, mag pragmatisch nachvollziehbar sein, aber die Verzinsung beim Vertrauensvorschuss im Umgang zwischen Politik und Kultur rutscht damit tief in die Minusbereiche.

LEUCHTTURM IM NOTLICHT PRODUZIERT NUR PHANTOMBILDER
Das Staatstheater Nürnberg, das als Leuchtturm im Notlicht momentan allenfalls für Phantombilder taugt, muss sich, sobald es die „Verhältnisse“ erlauben, sowieso als Herzkammer des regionalen Kulturlebens neu erfinden. Niemand weiß, welche Spätfolgen der brutale Einschnitt mit den ganz ausgefallenen oder für gesiebte Zuschauerhäufchen gespielten Vorstellungen haben wird. Ob das Publikum dann ausgehungert oder abgekoppelt ist, ob die ohnehin (und nicht immer ganz zu Unrecht) von Teilen der Öffentlichkeit für elitär gehaltene Bühnenkunst noch tiefer in der Minderheitenecke kuschelt oder gegenläufig die fürs Selbstverständnis kaum weniger gefährliche Flucht ins offene Spielfeld der Gefälligkeiten sucht.

BILANZ-TORSO: EIN JAHR, DAS NUR AUS SECHZEHN WOCHEN BESTEHT
Der skeptische Blick auf die kargen Erinnerungen dieses eigentlich nur aus 16 verteilten Spielwochen bestehenden Jahrgangs, der für das Team um Intendant Jens-Daniel Herzog und Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger die dritte Saison und die damit erwartbare Stabilisierung einer schon respektablen Perspektive bringen sollte, aber eben nicht durfte, lässt trotzdem Hoffnungen zu. Mit denen muss man offensiv umgehen. Herzog, der für die Kulturfabrik am Richard-Wagner-Platz deutlich mehr ist als der erfolgreiche Mallwitz-Lockvogel, führt das Opernhaus trittfest durch den anhaltenden Sturm. Zwar sind in seiner spezifischen Sparte die Erinnerungen an Massenets „Manon“ trotz der auch von Bayreuth umworbenen Regie-Wunschkandidatin Tatjana Gürbaca schnell verblasst und die frei nach Monty Python geschubste Knallchargen-Parade für Sullivans britischen „Piraten“-Jux kann man bei gutem Willen für originell halten. Doch der souverän seufzerfreie Wechsel von der geplanten Strauss-Monstrosität „Frau ohne Schatten“ zum feingliedrigen Monteverdi-Projekt „L´Orfeo“ samt der Mallwitz-Entdeckung des Boogie-Woogie im munter durchgekneteten Alt-Klang spricht für sich und für die ungebrochene Vitalität von Musiktheater.

Gloger an der Spitze des ebenfalls gerne musikalisch trumpfenden Sprechtheaters schlägt mit Hilfe erstklassiger, sogar in Verirrungen interessant bleibender Regiegäste wie Andreas Kriegenburg, die für Nürnberg vor wenigen Jahren unerreichbar schienen, stabile Pflöcke ein zwischen „Antigone“-Antike und „Andi Europäer“-Gegenwartsdramatik samt Pollesch-Sonderfall. Er schuf unter diesem Dach ein weites Feld für Projekt-Ausläufer wie Boris Nikitins BigBrother-Attacke „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ und Wenzel Winzers eloquent recherchierte Lokalstudie „Sex Arbeit“. Das interessanteste Vorhaben, Schnitzlers berüchtigtes Erotik-Ringelspiel „Reigen“ konkurrierend aus männlicher und weiblicher Sicht zu inszenieren (Anne Lenk, Jan Philipp Gloger) blieb im Quarantäne-Opfergang stecken und wird dort hoffentlich nicht vergessen.

FÜRS ERKENNBAR NEUE „NÜRNBERGER ENSEMBLE“ BRAUCHT ES NOCH ZEIT
Was nicht so einfach ist, wie es in der ersten Saison der eingewechselten Chefs aussah, ist die Bildung eines neuen „Nürnberger Ensembles“, das als solches in der öffentlichen Wahrnehmung stattfindet. Da bleibt, beispielsweise im Schauspiel, hinter dem Staunen über die künstlerische Stabilität von Langzeitprotagonist Michael Hochstrassers zweitem Sophokles-Kreon am gleichen Haus und der Freude am Rentnerinnen-Solo (Berufsbild: Friseurin/Prostituierte) der einst als „Vaginamonologe“-Retterin gefeierten Adeline Schebesch in „Sex Arbeit“ auch ein wenig die Enttäuschung darüber, dass die als Star unter den „Neuen“ wahrgenommene Pauline Kästner die Energien ihrer fulminanten Ibsen-Nora eindeutig nicht in eine vergleichbar verblüffende Antigone weiterleiten konnte. Bei den Sängern wird der Aufstieg von Tenor Martin Platz und die unabhängig von der Größe ihrer Partien wirkungssichere Präsenz der Sopranistin Andromahi Raptis bestaunt. Stimmen für Verdi und Wagner haben Kurzarbeit.

Am Opernhaus wird ansonsten auf mehreren Ebenen spekuliert: Wankt inzwischen etwa trotz gegenteiliger Beteuerungen auch die Generalsanierung des angeblich seit Jahren von Schließung wegen technischer Gefährdung bedrohten Gebäudes, dem das Ausweichquartier abhanden kam? Beim letzten Umbau schwärmte die Sparte bis nach Fürth und Erlangen aus und improvisierte im Vortragssaal des Germanischen Nationalmuseums und auf dem Konzertpodest der Meistersingerhalle. Der Gedanke, die Oper könnte, wie neulich das Schauspiel nicht ganz leidensfrei, im Saal am Colosseum landen, ist gruselig. Und was meint die international umworbene Generalmusikdirektorin, der vor Ort alle geradezu pathetisch zu Füßen liegen, wenn sie mantraartig jedes Interview mit der Aussage schmückt, sie habe über eine Vertragsverlängerung in Nürnberg „noch nicht entschieden“. Sollte das wahr sein, wäre es ja eine überraschend gute Nachricht.

ANLAUF IM STILLSTAND UND BEGLEITSCHUTZ FÜR BESTANDSSICHERUNG
In Berlin machen sich kritische Beobachter grade darüber lustig, dass dort die Kulturpolitik in Zeiten geschlossener Häuser überall langfristige Verträge mit Intendanten abschließt. Aber wann, wenn nicht jetzt, sollte Zukunft gewagt werden. Auch für Nürnberg und dem patenschaftlich dominierenden Freistaat geht es beim größten Mehrspartentheater Bayerns um die Verlängerung des Anlaufs mitten im gefühlten Stillstand. Herzog, Gloger, Montero und die wunderbare Unentschiedene sollten der Stadt mehr von ihren Entwicklungssprüngen gönnen können. Perspektive ohne Knick wäre schon mal Fortschritt. Der Stadtratsschwur auf die „Bestandssicherung“, teuer erkauft durch die abgedrängten Konzerthausversprechen, darf mit dem Begleitschutz von anhaltendem  Misstrauen rechnen: Sobald (wenn´s denn sein muss: erst im Frühjahr 2021) das Staatstheater wieder auf Betriebstemperatur köchelt, müssen auch Gostner Hoftheater und Theater Pfütze, Theater Mummpitz und Burgtheater, Theater Salz + Pfeffer und Tafelhalle aus der Krise befreit sein.

Gar kein Zweifel: Nürnbergs Kultur braucht sie alle.



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In den Bildern: Pius Maria Cüppers, Nürnbergs Kammerschauspieler mit der größten Reichweite in „Komödie mit Banküberfall“ und „The Legend of Georgia McBride“ am Schauspiel des Staatstheaters) hat auch Auftritte am Opernhaus, in Dehnberg, in der Tafelhalle und demnächst im Fürther Theater. Fotos: Konrad Fersterer / Staatstheater Nürnberg


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DIETER STOLL: Theaterkritiker und langjähriger Ressortleiter „Kultur“ bei der AZ.
Als Dieter Stoll nach 35 Jahren als Kulturressortleiter der Abendzeitung und Theaterkritiker für alle Sparten in den Ruhestand ging, gab es die AZ noch. Seither schreibt er z.B. für Die Deutsche Bühne und ddb-online (Köln) sowie für nachtkritik.de (Berlin), sowie monatlich im Straßenkreuzer seinen Theatertipp. Aber am meisten dürfen wir uns über Dieter Stoll freuen. DANKE!



 




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