Duell mit Nebengeräuschen - Antigone im Staatstheater
#Antigone, #Dieter Stoll, #Kritik, #Premiere, #Staatstheater Nürnberg, #Theater
Die junge Idealistin namens Antigone will nichts sonst, als das Recht, den toten Bruder würdig zu bestatten. Der robuste Machthaber Kreon, der das amtlich verwehrt, zufällig ihr Onkel, verbietet dieses Ritual mit dem Hinweis auf selbst erlassene, aber keineswegs unbegründete Gesetze. Das Volk hat unter den Folgen einer Epidemie gelitten, sucht Schuldige, brüllt nach Rache. Das undefinierte Gemeinwohl könnte gefährdet sein, die Freiheit des Einzelnen aber auch. Wer hat das Recht, wer die Moral zur Seite, und wo bleibt die Vernunft? „Dass Unvernunft das größte Übel ist“, wird zwei Stunden später zum Finale ausdrücklich nochmal in die Debatte geworfen.
Der von Sophokles fixierte Grundsatz-Konflikt ist längst vorher kaum noch lösbar, sobald – und das geht hier verflucht schnell – Individualität und Staatsräson auf Gegenpositionen festgetackert sind. Ihn grade jetzt wieder auf den Spielplan zu setzen, hat laut Regisseur Andreas Kriegenburg „natürlich mit der Pandemie zu tun“ (Interview im Programmheft). Er zuckt zurück beim Gedanken, die alten Griechen als Argumentationshilfe für Mundschutz-Debatten anzuzapfen. Nein, Antigone ist auch nicht Greta und Kreon nicht Trump. Anders als bei seiner an gleicher Stelle mit gleicher Hauptdarstellerin Pauline Kästner locker aktualisierten Ibsen-„Nora“ vom Vorjahr, wollte er die Rutschpartie in die Gegenwart ausdrücklich vermeiden. Er mag es diesmal absolut „klassisch“, zeitlos sowieso, bloß nicht trivial annähernd, für „heutige Fragen“ dennoch offen. Bei so vielen gegenläufigen Ansprüchen im Kunst-Rahmen der selbst entworfenen Bühne (ein durchlässiges Raum-Objekt im schwebenden Plattenbau aus etwa fünfzig großen Holzflächen) bringt die Konzentration auf die Ausschläge der beiden Gegenfiguren dem Chor, zu dem sich die anderen Solisten immer wieder gruppieren, steile Ergänzungsdramatik. Kriegenburg inszeniert ein Duell mit Nebengeräuschen. Das Volk umkreist die Kontrahenten im Live-Sound von Ächzen und Raunen, klopft rhythmisch Kieselsteine, krümmt den Rücken für stampfende Rituale und kann sich kaum zurückhalten vor Tatendrang. Es ist ständig elektrisiert wie auf dem Sprung – wohin er auch führen mag.
Zunächst werden Gedanken geordnet, vor allem die der Zuschauer. Im extra für die Aufführung entstandenen Prolog weisen viele aneinander reibende Stimmen und die dazwischenfahrende „furchtbare Stille“ auf die Kombination von Anlauf und Stoßrichtung dieser Interpretation hin. Das Kollektiv der Erinnerungen entwirft aus dem gelagerten Denken von fast 2500 Jahren das Phantom einer schemenhaft aktuellen Welt, in der „die ganze Gesellschaft um ihre Sprache ringt“. Nicht unbedingt die Sprache des Sophokles, deren hoher Ton aus dem Mund der Schauspieler eindrucksvoll fremd, wenn nicht gar abweisend bleibt, es nach dem allzu streng durchgesetzten Willen des Regisseurs auch bleiben sollte. Doch der Appell zur Kommunikation, zum Denken und Sprechen in schlüssiger Reihenfolge als „letzte Chance, nicht verrückt zu werden“, durchrüttelt die Tragödie bis zum bitteren Ende. Da ist Antigone auf düster illuminierter Bühne schon regelrecht verloschen, während zwischen dem fadenscheinig geläuterten Herrscher und seinem Volk quer über die ganze Szene ein breiter Graben aufbricht. „Die Zukunft ist kein Mann“ hallt es da unvermittelt optimistisch aus der Kulisse. Spät eintreffendes Echo auf den lange vorher losgelassenen Patriarchen-Spruch, als Machthaber Kreon jedes Einlenken ablehnte: „Ich wär kein Mann mehr, sie wär der Mann“.
Das vorausgegangene Duell, das ist eine besondere Qualität der Inszenierung, mobilisierte die Gegensätze der zwei Charaktere. Diese Antigone (Pauline Kästner vertieft sich geradezu autosuggestiv in ausgekostete Nuancen von Schmerz, verwächst mit diesem Tonfall allerdings zu sehr) bleibt immer bei sich selbst, ob sie in ihrer kleinen Sandburg den Traum der neuen Welt zwischen den Fingern rieseln lässt oder im Streit mit der Staatsmacht das Leben aufs Spiel setzt. Kreon hingegen (der souverän mit Emotionen balancierende Michael Hochstrasser kennt die Rolle sogar von der letzten Nürnberger Produktion, Georg Schmiedleitners auch beachtlicher Inszenierung) ist eine so tief gespaltene Persönlichkeit, dass er in zwei Szenen mit seinem Soldatenmantel für Momente die ganze Rolle abgibt. Eindrucksvoll besonders, wenn Adeline Schebesch – eben noch im Chor hysterisch aufbrausend wie Marge Simpson – mit Text und Textil die weiche Seite des Tyrannen übernimmt und danach diese höhere Gewalt wieder zurück pendelt als wäre nichts gewesen.
Von oben duscht das Designer-Licht die Figuren und Sand rieselt wie aus Körnerportionen der Geschichte auf die Köpfe herab. Sandfarben wie die Bühne sind auch die Kostüme von Andrea Schaad, gediegene Kostbarkeiten mit Flohmarkt-Charme. Und ganz frei von Sand im Getriebe ist der Umgang mit ausgestelltem Pathos auch nicht. Unangestrengt wirkt die strikte Ernsthaftigkeit nur bedingt, aber wenigstens ein unglücklicher Zufall verhalf der Premiere zu einem Lächeln. Wegen Erkrankung eines Darstellers musste Raphael Rubino kurzfristig die Rolle des Teiresias übernehmen. Er tat es den Umständen entsprechend wunderbar – und ist nun vermutlich bundesweit der erste „blinde Seher“ mit Spickzettel.
Zuerst erschienen auf nachtkritik.de
Antigone
von Sophokles
Deutsch von Heinz Oliver Karbus
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schaad, Licht: Frank Laubenheimer, Dramaturgie: Sascha Kölzow
Mit Pauline Kästner, Anna Klimovitskaya, Lisa Mies, Adeline Schebesch, Raphael Rubino, Michael Hochstrasser, Amadeus Köhli, Maximilian Pulst
Weitere Vorstellungen: 16.10., 17.10., 24.10., 25.10., 3.11., 6.11., 7.11., 10.11., 17.11., 19.11., 27.11.
#Antigone, #Dieter Stoll, #Kritik, #Premiere, #Staatstheater Nürnberg, #Theater