Hansi Bruckmeier: Skateboardfahren ist Therapie

DONNERSTAG, 1. OKTOBER 2020, NüRNBERG

#Blinder Skater, #Interview, #Printmagazin, #Rollbrett, #Skateboarding, #Skaten, #Stadtgeschehen, #Stadtmagazin

Auf den ersten Blick ist der junge Mann mit dem schwarzen Shirt und den in die Stirn hängenden Haaren einer von vielen, die an einem sonnigen Spätsommertag am Kornmarkt mit dem Skateboard hin und her und dann da hoch und ... was die nicht alles machen ... Spätestens aber wenn der Blick für einen Moment auf diesem Hansi verharrt, fällt der weiße Stock auf, mit dem er fahrend vor sich nach Hindernissen tastet – denn Johannes Bruckmeier sieht fast nichts. Skateboard fahren und nicht nur fahren, sondern auch noch gut, kann er trotzdem. Oder erst recht.

Hansi, ich möchte zuerst deine Beeinträchtigung verstehen. Du hast einen Sehrest. Kannst du kurz erklären, was das bedeutet?
Ich habe einen Tunnelblick, der dem Durchmesser einer Klopapierrolle entspricht. Oben, unten, links, rechts sehe ich nichts. Wenn ich dich jetzt anschaue, sehe ich dein linkes Auge. Auf eine Entfernung bis 15 Zentimetern sehe ich scharf, danach unscharf. Wenn es zu hell oder dunkel ist, sehe ich nichts. Wenn ich zu schnell bin, habe ich Kontrastschwierigkeiten. Das heißt, bei schnellen Trickabfolgen sehe ich quasi gar nicht, was auf mich zukommt. Wenn die Farben zu ähnlich sind, was in vielen Skateparks ein großes Problem ist, erkenne ich auch nicht richtig … 


Und das ist eine angeborene Krankheit?
Genau, das ist die Retinitis Pigmentosa. Die beiden blinden Pro-Skater Justin Bishop und Dan Mancina habe das auch. Eigentlich führt sie zur totalen Erblindung. Da ich mit sechs Jahren in Kuba operiert wurde, ist der Verlauf erstmal gestoppt. 

Wie kam es, dass du angefangen hast zu skaten?
Mein Bruder war ziemlich groß dabei, hat mehrere Contests gewonnen, ein paar Filme herausgebracht und auch im Skateshop gearbeitet. Das heißt, Skaten ist, seit ich auf der Welt bin, präsent. Ich bin eines der Jahrtausenderwende-Kids, von denen Dank Tony Hawk jeder ein Skateboard zu Hause hatte. Wirklich angefangen habe ich erst vor drei Jahren, davor bin ich nur rumgerollert. Ich  bin auf ein Internat gegangen, wo ich nicht skaten durfte. So etwas wie Leichtathletik wäre kein Problem gewesen, aber erzähl das mal einer Versicherung, wenn ich mich beim Skaten verletze! Aus dieser Position kann ich es schon verstehen.
Vor drei Jahren war ich dann in der Examenszeit. Meine Exfreundin hatte Schluss gemacht und ich hatte nicht groß Lust auf Liebeskummer. Da ich mich zu der Zeit sehr mit Punkrock angefreundet habe, hatte ich eh Bock auf Skateboarding. Also Zack!, in den TX Store rein, Board geholt, vom Chef Sven den Blick geerntet: Was will der jetzt da? So fing das an. 

Wie sehr war das für dich mit Angst und Überwindung verbunden?
Gar nicht. Rumgerollert bin ich ja schon seit ich vier Jahre alt bin. Damit wieder anzufangen, war nicht mit Angst verbunden. Dann aber irgendwo drüber zu springen, das hat schon Überwindung gekostet. Oder mein erster Drop-in, den ich vor vier Wochen gemacht habe. Das ist etwas anderes, das ist ungewohnt. Aber rollen war nie ein Problem, was soll passieren? Fahre ich halt irgendwo gegen, mein Gott. 

Als du mit dem Skaten wieder angefangen hast, was waren so die ersten Erfolgserlebnisse?
Mein erster Trick war ein Slappy Noseslide, was ziemlich cool für mich war. Der größte Erfolg war nach neun Stunden Arbeit der Boardslide, damals noch ohne Stock. 

Was gibt dir dieser Sport? Was ist für das Besondere daran?
Das es für schon mal gar kein Sport ist. Für mich ist es Kunst. Im Sport gibt es Gewinner und Verlierer, gut und schlecht. Wenn du dich hier umschaust: Jeder hat seinen eigenen Style, keiner trägt Sportklamotten. Keiner sagt zum anderen, du bist schlecht. Jeder macht sein Ding. Auch bei Contests sagt man zwar, es gibt einen Gewinner, aber Verlierer gibt es nicht. Man reist viel, man kreiert etwas Neues, man schneidet Filme, man macht Kunst. Dazu kommt ein schönes Lebensgefühl. Sag mir eine Sportart, in der der Profi mit den Amateuren zusammen Sport macht. Ein Thomas Müller würde höchstens mit Bambinis spielen, wenn Kameras dabei sind. Chris Pfanner ist ab und an im STG Skatepark im Burggraben. Und Tony Hawk skatet immer noch mit Beginnern – und der ist Milliardär! 

Wenn ich deine Videos ansehe, dann gibt es Sachen, die machst du mit dem Blindenstock, andere ohne. Wovon hängt das ab?
Mit der persönlichen Entwicklung. Ich mache heute viel mehr mit Stock. Als ich angefangen habe, ging er mir auf die Nerven, er war im Weg. Ich wusste nicht, wie ich ihn einsetzen soll. Das Problem war, dass ich dadurch sehr langsam gefahren bin, und damit kann man nichts erreichen. Ich wollte mehr Boardslides und Noseslides können, also mit dem Brett irgendwo draufspringen und schlittern. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wann mein Hindernis zu Ende ist. Das geht mit Stock einfacher. Ich kann die Gegend besser abchecken und erkennen, was auf mich zukommt. Mittlerweile gehört der Stock zu meinem Skateboarding einfach mit dazu. Das Andere ist: Ich fahre mit dem Board zur Arbeit und auch zum Einkaufen, da brauche ich den Stock. Er ist eine große Hilfe geworden, weil ich gelernt habe, ihn einzusetzen. Leider zerbricht er öfter …

Wie oft?
Das ist jetzt der dritte Stock in einem Monat – das ist aber schon ein hoher Schnitt. Normalerweise hält der bei mir zwei bis drei Monate. Was immer noch ein ziemlich hoher Verschleiß ist. Die Teile halten eigentlich ein Leben lang, die sind hart, die tun weh, wenn du sie gegen‘s Schienbein kriegst. Auf freien Flächen, wo ich mich auskenne, skate ich noch ohne Stock, das ist ein freieres Gefühl. Der Stock ist ja auch ein Erkennungszeichen.

Wie oft wirst du angesprochen?
Manchmal gar nicht, aber das ist die Seltenheit. Besonders auffällig ist, wenn ein Kameramann oder Fotograf dabei sind, dann kommen alle Leute dazu. In Nürnberg ist es etwas gedämpfter, da hat es sich rumgesprochen. In anderen Städten schauen Leute manchmal total dumm. Zwei Mal wurde ich auch schon angefeindet, die meisten finden es aber cool und beeindruckend. 

Wie gehst du im Normalfall damit um, wenn du angesprochen wirst? Hast du eine Strategie entwickelt?
Es ist tatsächlich ein Problem, weil ich nicht arrogant wirken möchte, aber in der Regel winke ich einfach ab. Ich höre häufig Sätze wie: Krass, dass du das machst. Ich weiß aber, es geht mehr. Ich kenne die beiden Proskater, die können mehr. Also, eine gute Strategie, außer zu sagen, „passt schon“, habe ich leider noch nicht. 

Es gibt ein YouTube-Video von dir, in dem du die Menschen bittest, damit aufzuhören, zu sagen, es tue ihnen leid, dass du fast blind bist ...
Mitleid ist etwas Hässliches. Es hilft keinem. Was hilft es mir, dass es dir leid tut, dass ich eine Behinderung habe? Mitgefühl ist etwas anderes. Mitgefühl sagt, okay, ich verstehe, dass das ein Problem ist, ich kann das nachvollziehen. Mitleid suggeriert, das jemand in seiner Situation gefangen ist. Ja, ich habe etwas mit den Augen, aber ich habe zwei gesunde Beine und zwei gesunde Hände. „Tut mir leid“ ist ja die Bitte, dass ich dir verzeihe. Warum soll ich dir verzeihen, dass ich behindert bin? Das macht einfach keinen Sinn. Also sag einfach: Okay, cool, dass du das machst. Und dann chill! Es heißt, meine Behinderung schränkt mich ein. Aber die Frage ist ja immer: Inwieweit lässt man sich einschränken und wie findet man neue Möglichkeiten?

Du wirst von verschiedenen Partnern gesponsert. Welche sind das und wie kam es dazu?
Zuerst kam Lighthouse Wax, die machen Skate-Wachs. Alex, der die Firma gehört, kam im Rahmen der Fränkischen Meisterschaft auf mich zu und hat mir ein Sponsoring angeboten. Sie findet cool, was ich mache, also kann ich ihr schreiben, wenn ich Wachs brauche. Ein halbes Jahr später ging ich zu Sven von TX Sports. Ich hatte gerade einen kranken Trick gelandet und habe ihn mit einem fetten Grinsen im Gesicht gefragt, ob er mich jetzt sponsert. Das war natürlich nur Spaß. Er meinte: Ja, mache ich jetzt. Seitdem, das ist fast ein Jahr her, fahre ich für TX, wofür ich sehr dankbar bin. Das Spannendste ist die Zusammenarbeit mit Reha & Care, einem Sanitätshaus. Das ist nie verkehrt für einen Skateboarder. Ohne die hätte ich jetzt wieder ein halbes Jahr mit gebrochenen Stock skaten müssen. Die Krankenkasse zahlt nämlich nur zwei pro Jahr. Neulich haben wir auch ein gemeinsames Video herausgebracht. 

... mit Skaten in der Firma, das hab ich gesehen.
Das war sehr scary, weil überall diese Rollstühle stehen und man dazwischen rum fährt … 

Ich nehme an, es haben bisher nicht nur deine Stöcke gelitten. Welche Verletzungen hast du selbst gesammelt?
Beide Außenbänder sind links und rechts durch, ich bin umgeknickt. Im Juli habe ich mir die Rippen gebrochen. Linke Ferse, linkes Knie, rechts die Schulter geprellt. Meinem Kopf ging es gut. Ich habe trotzdem weiter gearbeitet, weiter geskated – Schmerzmittel sei Dank. Wenn die Rippe gebrochen ist, ist sie gebrochen, was willst du machen? In Regensburg hatte ich einen kurzen Knock-out. Sonst die üblichen Schürfwunden, siehst du ja …

Wie schwierig ist es, wenn man sich wirklich verletzt hat, danach weiterzumachen?
Bei den Rippen war es kein Problem. Bei den Außenbändern ist es eine andere Geschichte, die erste Woche geht gar nichts und eigentlich soll man vier Wochen nichts tun … aber für mich ist Skaten wie eine Therapie. Der ganze Alltagsfrust, der ganze Arbeitsstress – das muss raus. So gehe ich nach meinem 10-Stunden-Arbeitstag jeden Tag noch rollen. Ich werde jetzt aber demnächst wieder eine Woche Pause machen. 

Wie würdest du die Skateboard-Szene in Nürnberg beschreiben? Wie wichtig ist sie für dich?
Die Szene in Nürnberg ist erst mal klasse. Es gibt unglaublich viele Skater, das motiviert und inspiriert. Man pusht sich gegenseitig. Ich habe durchs Skateboarden gute Freunde und unglaubliche Persönlichkeiten kennengelernt, mit denen es extrem Spaß macht, zu reisen. Ich bin viel in München gewesen, werde jetzt öfter in Kiel sein, weil ein Freund dort hingezogen ist. Meine Freundin skatet auch, sie hat das Potenzial, das professionell zu machen. Aber wenn ich niemanden habe, wenn ich z.B. bei meinen Eltern in Rosenheim bin, dann gehe ich alleine skaten, das macht mir auch nichts aus. Im Endeffekt bin ich in meinem Film und mache mein Ding. Es ist aber schon etwas anderes, wenn man hier einen Trick schafft und drei, vier Leute klopfen mit ihren Boards auf den Boden. Auch auf Contests: Das sind große Familientreffen und es tut schon gut, wenn da Leute sind, die das feiern, was man macht, egal, wie gut oder schlecht man ist. 

Was sind deine favourite Skate-Spots in der Stadt? 
Germa (Germanisches Nationalmuseum) auf alle Fälle, obwohl die Stadt mir das ziemlich versaut, mit den Blumentöpfen: meine Anfahrt ist ruiniert, ich habe keinen Platz mehr. Danke dafür! Schreib das bitte rein. Außerdem bin ich gerne an der Uhland-Schule, da ist eine Vierertreppe mit gutem Boden. Das ist nach der Arbeit mein Platz, wo ich runterkomme, direkt vor der Haustür. Und sonst eben, was sich so anbietet. Ich bin viel unterwegs. 

Du arbeitest als Physiotherapeut …
(lacht) Ja. Was ein Klischee!

Ich nehme an, in der Lockdown-Zeit konntest du nicht arbeiten?
Doch, alle physiotherapeutischen Notfälle. Dadurch 50 Prozent Kurzarbeit. Gleichzeitig durfte man nicht in der Gruppe skaten. Ich habe hier am Germa einen Platzverweis erhalten, weil wir zu dritt waren – auf eine Entfernung von 15 Metern! Sonst bin ich halt alleine skaten gegangen. Ich hatte viel mehr Zeit und war jeden Tag unterwegs. Das tat gut und hat mir gefallen. 

An welchen Projekten arbeitest du gerade?
Jetzt kommt demnächst erst mal ein Film raus für den Verein, den wir nach meiner OP gegründet haben: Hilfe für Tunnelblick e.V. Der Verein möchte es Leuten ermöglichen, nach Kuba zu fliegen, um sich dieser Operation zu unterziehen. Der Film sollte eigentlich vor einem Jahr schon herauskommen. Ich hoffe, er wird jetzt im Oktober endlich fertig. Da wird es dann auch eine öffentliche Premiere geben – ihr werdet es erfahren!
Tricktechnische Projekte: Endlich Fliptricks, also Kickflip, Heelflip, alles, wo ich keinen Boardkontakt mit den Füßen habe und blind landen muss. Außerdem technische Sachen, dass alles ein bisschen schöner ausschaut, mehr Style bekommt. 

Worum geht es bei dem Verein?
Es gibt diese Möglichkeit, die Krankheit zu stoppen. Warum soll man also Leute blind werden lassen? Wir möchten darüber aufklären, beraten und es Familien ermöglichen, dahin zu fliegen. Wir haben nur 80 Mitglieder, aber schon einigen Betroffenen geholfen. Der Film soll nicht nur auf mich, sondern auch auf den Verein aufmerksam machen, denn viele wissen gar nicht, dass es diese Therapie gibt. Wir hatten jemanden im Bekanntenkreis, der diese Behandlung bereits gemacht hatte und davon erzählte. Sonst wäre ich jetzt blind! 

Kannst du erklären, warum diese Behandlungsmethode in Kuba möglich ist und hier nicht?
In Kuba genießt jeder kostenlose medizinische Versorgung. Dort wird auch anders geforscht. Du hast bei uns 81 Millionen Leute, davon haben nur rund 30.000 Menschen diese Erkrankung. Das ist auch marketingtechnisch nicht so gut geeignet, um es auszuschlachten. Grundsätzlich ist das Gesundheitssystem bei uns profitorientiert. Ich bin für einen Augenarzt uninteressant. Ich musste 16 Jahre suchen, bis ich einen guten gefunden habe. Und der hat mir, als ich 16 war, den Grauen Star operiert. Alle anderen haben gesagt: Du bist erst 16, der graue Star ist klein. Geh weg! 
Was Augenärzte angeht, da könnte ich unendlich Geschichten erzählen. Einer sagte zu meiner Mutter: „Setzen sie ihrem Kind einen Helm auf und tragen sie es herum, es wird sowieso blind.“ Mein Vater hat einen Arzt auf die Kuba-Therapie angesprochen. Der Arzt hat einen 50-Mark-Schein genommen, aus dem Fenster geworfen und gesagt, das passiert mit dem Geld, wenn wir nach Kuba fliegen. Ein anderer hat zu meinem Vater gesagt: „Wenn ich Sie berate, verdiene ich 30 Mark. Wenn ich jemanden mit Laser behandle, 100. Sie verschwenden meine Zeit.“ 
In Kuba hatte ich herzliche Ärzte, ich wurde durchgecheckt wie noch in meinem Leben. Vor der Tür steht ein Auto von 1930, in der Klinik hingegen haben sie modernstes Gerät. Solches habe ich bis jetzt noch nicht in Deutschland gesehen. In der deutschen Medizin geht es anscheinend nicht darum, Leuten zu helfen, sondern Profit zu machen. Und das kannst du nicht mit einer so relativ seltenen Krankheit und einer Behandlungsmethode, die nicht heilt, sondern nur die Verschlimmerung stoppt. 
Ich bin in Deutschland der einzige blinde Skater und möchte das gerne nutzen, um darauf hinzuweisen, dass es da etwas gibt, was man tun kann!

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Johannes „Hansi“ Bruckmeier, 
geboren 1994 in Burghausen, ist aufgewachsen bei Kempten und bei Ingolstadt.
12 Jahre auf dem Sehbehinderten-Internat in München.
Seit seiner Ausbildung bei der BBS Nürnberg arbeitet er als Physiotherapeut.
Nach der Arbeit geht‘s aufs Brett: seit drei Jahren skatet Hansi regelmäßig. 
Folgt ihm bei Insta: @johannes.bruckmeier




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