Im Irrgarten der Vorurteile: Oper und Tanz in 10/11

DONNERSTAG, 1. OKTOBER 2020, STAATSTHEATER NüRNBERG

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Es ist wieder was erlaubt, auch wenn die Tickets für Opernhaus und Staatstheater rare Waren sind in diesem Herbst. Das Nürnberger Opernhaus gräbt zunächst nach alten Schätzen und Evergreens in den Katalogen, Orpheus reist ins Totenreich und der Mond wohnt strahlend am Himmelszelt. Dieter Stoll, unser Mann fürs Theater, hat drauf geschaut. 

PREMIERE: Monteverdis Werk gilt als eine Art Urquell des Musiktheaters und der vor einem halben Jahrtausend zum Libretto verarbeitete antike Mythos von der Reise des verzweifelten Witwers ins Totenreich, das dazumal Hades hieß, hat unendlich viele musikalische Autoren beschäftigt. Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ und Offenbachs Travestie „Orpheus in der Unterwelt“ blieben auch in Nürnberg als Extreme in den Spielplänen der Gegenwart verwurzelt. Jetzt also zurück zum Wurzelwerk mit L´ORFEO des Claudio Monteverdi, wo immer auch die streitbare Frage um Originalklang und moderne Instrumente droht. Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz, bislang für den ganz großen Opern-Ton gefeiert (eigentlich wollte sie zu diesem Zeitpunkt die in jeder Hinsicht kolossale „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss herausbringen), schuf mit Frank Löhr eine überschaubare Orchesterfassung, die den Fundus der Erfahrungen diskret aufmischt. Alte Instrumente akzentuieren den modernen philharmonischen Klang. Intendant Jens-Daniel Herzog inszeniert mit Abstandsregeln und abwechselnd Martin Platz oder John Pumphrey in der Titelrolle sowie zehn Solisten, die ins Kollektiv zurücktretend gleichzeitig auch „Chor“ sind. Der Blick erfasst eine Welt, die aus ihrer Lebenslust unvermittelt in die Krise stürzt. Sollte das jemandem hinter dem Mundschutz bekannt vorkommen, werden die Künstler nichts dagegen haben.
Premiere: 2. Oktober.
Weitere Vorstellungen: 10., 14., 16., 25., 30. Oktober und 08., 22. November im Opernhaus

PREMIERE: Schon in Sergej Prokofjews mit der Verschmelzung von Figuren und Instrumenten spielendem Hörspiel-Märchen „Peter und der Wolf“, das die Basis zu diesem Tanztheater legt, sind weder Rotkäppchen noch sieben Geißlein im Einsatz und wenn Ballett-Grübler Goyo Montero die Vorlage modernisiert, hat auch Schweinchen Babe als Schafsversteherin keine Chance. Man darf eher eine sprungbereite Psychostudie über unheimliche Ängste und deren heimelige Auflösung erwarten. Unter dem geradezu wissenschaftlich klingenden Titel ÜBER DEN WOLF lässt der Choreograph seine Compagnie durch den Irrgarten der Vorurteile tänzeln, die mit dem Phantom des pelzigen Schreckens verbunden sind. Die ganzheitlich verschlungene Ente gackert im Bauch des Wolfs weiter, doch reine Kinderbelustigung wird es wohl nicht. Stammkomponist Owen Belton, der bei den Montero-Projekten immer wieder klassischen Partituren den zeitgenössischen Soundrahmen gibt, ist wieder im Einsatz. Als Erzähler (2015 war das in Alexander Shelleys Studioaufnahme Campino von den Toten Hosen, 50 Jahre vorher hatte sich Karajan dafür „Sissi“ Romy Schneider geholt) kommt Sprechvirtuose Thomas Nunner vom Haus nebenan dazu, der noch bestens als Handke-Moderator in „Immer noch Sturm“ in Erinnerung ist. Die Philharmoniker gibt es allerdings nur aus der Konserve.
Premiere: verschoben auf 12.12.


PREMIERE: Noch ein Salto rückwärts mit dem Versprechen von Gegenwart im Abglanz der Vergangenheit am Opernhaus. Zwar wird der „Jahreszeiten“-Bestseller Antonio Vivaldi als übergreifender Komponist von BAJAZET (IL TAMERLANO) genannt, aber eigentlich hat er ein Selbstbedienungs-Mosaik gebastelt. Die imaginäre Kollegen-Bestenliste seiner Zeit ist in der Geschichte vom gefangenen Sultan Bajazet unter der Folter des Tataren Tamerlan abgezapft. Die junge Regisseurin Nina Russi lenkt mit Florian Götz und David DQ Lee einen Rundblick durch versunkene Zeiten in die Ästhetik des Zeitgenössischen und Gastdirigent Wolfgang Katschner hat schon mehrfach am gleichen Pult bewiesen, dass er mit den anders trainierten Philharmonikern zu denkbar besten Kompromissen mit nachempfundenen Barockreizen kommen kann.
Premiere: 07. November.
Weitere Vorstellungen: 14., 19., 29. November im Opernhaus.

PREMIERE: „Strahlender Mond, der am Himmelszelt wohnt“, schmalzt es in der zweitpopulärsten Arie von Eduard Künnekes DER VETTER AUS DINGSDA. Noch lieber summte die fesche Oma ab 1921 bei „Ich bin nur ein armer Wandergesell“ mit (die Ergänzung der Dichtkunst sei hier nicht unterschlagen, sie lautet folgerichtig: „Gute Nacht liebes Mädel, gut` Nacht“). Ein schmissiges Singspiel mit Fernweh und Liebesverwirrung als Ausläufer der gelegentlich blechern scheppernden „silbernen“ Operetten-Epoche, das nach der originellen Trend-Wiederbelebung solcher Ohrwurm-Plattformen den Ruf der latenten Banalität jetzt mal wieder abgeschüttelt hat. Am Opernhaus haben die Geschwister Pfister den passenden Umgang mit der Luftballon-Sparte neulich schon beim „Ball im Savoy“ demonstriert, den „Vetter“ gab es hier öfter, zuletzt während einer Opernhaus-Renovierung auf der  Behelfs-Bühne im Saal des Germanischen Nationalmuseums mit dem heutigen Weltstar Marlis Petersen. Die beste Künneke-Adaption der letzten Zeit gelang an der Komischen Oper Berlin, als der erheiternde Gefühlsüberschwang  souverän von der Windmaschine durchweht knallbunt ins Bollywood-Format transformiert wurde. Als Knetmasse ist das Werk nicht zu verachten.
Auch in Nürnberg lässt die Regie Überraschungen erwarten. Vera Nemirova, bislang für Schwergewichte wie Wagners „Ring“ und Verdis „Don Carlos“ in Frankfurt und Dresden bekannt, wechselt ins Übermütige. Lockerungsübungen sind als Genre-Gymnastik bei Probenbeginn zu empfehlen. Der Dirigent mit der leichten Hand ist Vize-Maestro Lutz de Veer. Bei Redaktionsschluss wurde allerdings noch getestet, ob er mittelgroßes Orchester mit Bläsern bekommt oder mit einem putzigen 8-Personen-Salonorchester antritt.
Premiere: 27.11. im Opernhaus, weitere Aufführungen im Dezember.




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