Gemeinsam Denken, Feilen, Verlustieren: Die Straßenkreuzer Schreibwerkstatt

DIENSTAG, 18. AUGUST 2020, NüRNBERG

##sozialmagazin, #Literatur, #Schreiben, #Schreibwerkstatt, #Straßenkreuzer

Wir haben wirklich schon seit vielen Jahren ein enges Verhältnis zum einzig wahren Sozialmagazin Straßenkreuzer – man kann durchaus von Freundschaft reden. Wenn man monatlich Magazine herausbringt, die man gegenseitig gut findet, dann verbindet das eben. Und auch inhaltlich gibt es doch immer wieder mal Überschneidungen, soziale Themen sind nun mal auch curt-relevant. Da Gut gut tut, gibt es ab sofort eine eigene Kolumne in curt, in der wir ein Einblick geben werden in die vielfältigen Aktivitäten, die die Straßenkreuzer-Welt so ausmachen. Dazu gehört natürlich auch: die Schreibwerkstatt. Ilse Weiß, die das Magazin verantwortet, berichtet.

Die Schreibwerkstatt SWS gehört zum Straßenkreuzer wie sein Name. Quasi von Anfang an, seit 1994, sollen Verkäufer*innen regelmäßig Platz im Heft für ihre Gedanken und Geschichten bekommen. Aus der Nischengruppe ist eine offene geworden. Ganz bewusst. So entspricht die SWS der Haltung des Vereins, der Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten und Interessen zusammenbringen will, ohne Ansehen des Geldbeutels.
Regelmäßig donnerstags ist Schreibwerkstatt-Tag. Von 11 Uhr bis 12.30 Uhr gehört der helle Raum im 1. Stock am Maxplatz 7, der mit dem großen ovalen Tisch in der Mitte, der SWS. Meist ist nicht klar, wer alles kommt. Werden wir vier, sechs, acht, zehn sein? Wir saßen schon zu dritt zusammen. Erst ein wenig verloren, weil die übrigen Stimmen fehlten, dann wurden es immer intensive eineinhalb Stunden. Voller Ideen und Geschichten.
Vieles ist gut an der Schreibwerkstatt. Das gemeinsame Feilen an Texten, das Vorlesen vor der Gruppe, der Spaß, den wir haben, die Ernsthaftigkeit und die Offenheit für die Themen und auch Probleme anderer am Tisch. Die Schreibwerkstatt hat schon im riesigen Festzelt gelesen und auch vor drei Leuten, ganz öffentlich in der Fußgängerzone, in Volkshochschulen, Stadtteilläden, Buchhandlungen und Kirchen.
Das gemeinsame Reden und vor allem das Schreiben fasst in Worte, was bis dahin als diffuses Gefühl, als Erinnerung, Ahnung, auch Unmut, Zorn und Unsicherheit erlebt wird. Das tut gut und es verändert. Die eigene Wahrnehmung und die der anderen am Tisch. Das Beste aber ist: Wir sind so unglaublich unterschiedlich, verkaufen den Straßenkreuzer, machen ihn oder kaufen ihn, wir leben in Wohnungslosenunterkünften oder in sicheren und schön eingerichteten Wohnungen, wir kennen uns aus mit Drogen und Obdachlosigkeit oder kommen erstmals in der Schreibwerkstatt mit solchen Themen in Kontakt, wir haben kaum Kleingeld oder reichlich Erspartes. Egal. Wir treffen uns gern, wir schätzen uns, halten uns manchmal auch aus und lernen voneinander. Donnerstags um 11 Uhr.

Eine unserer liebsten Schreibübungen sind 5-Minuten-Geschichten: Jede*r nennt ein Wort, das gerade durch den Kopf schwirrt. Dann schreibt jede*r innerhalb von fünf Minuten eine Geschichte, in der alle genannten Wörter vorkommen. Das wird meist lustig, skurril, traurig, seltsam.

Hier drei Beispiele, die aus den Wörtern Lesen – Hirn – Druck – lieben – verlustieren – Zeitung – Eimer – verlieren – Ohnmacht – Kalender entstanden sind:

Dieser Tag ist im Eimer. Wissen Sie, ich liebe es ja eine druckfrische Zeitung zu lesen. Aber die hier heute – ein Kalender ist der Aufmacher! Ein Kalender! Zum Austrennen. Die Welt steht Kopf, Kriege sind im Gang, der Meeresspiegel steigt, und die drucken einen Kalender auf Seite 1. „Damit unsere Leserinnen und Leser sich jeden Tag mit Freude verlustieren können.“ Denen fehlt doch das Hirn. Aber ich verliere nicht die Fassung. Ich bin nicht ohnmächtig. Ich kündige – mein Abonnement.
Ilse Weiß

Ich lese gerne Zeitung, aber ich hasse es, wenn ich einen Eimer voller Druck von Leuten bekomme, wenn ich meine Trillerpfeife in der U-Bahn verliere, wenn ich mich nicht mit meiner großen Liebe verlustieren darf, wenn Leute absichtlich ihr Gehirn nicht einschalten – mein Kalender ist voll!
Klaus Schwiewagner

Ich habs doch im Kalender stehn,
ich wollt mit meinem Liebsten gehen
jetzt werd ich ihn verlieren
keine Chance mehr, auf verlustieren
meine Träume sind im Eimer
ganz sicher, da kommt keiner
verwehr mich jeder Erinnerung
lieg auf dem Kanapee, les Zeitung
Oh je, welch Druck auf mein gemartert Herz
Fühl ohnmächtig ich mich im Schmerz

Siglinde Reck

Da der Druck – auch der im Hirn – zu groß wird, will ich mich liebensmäßig verlustieren. Ich lese in der Zeitung die Kontakt-
adressen, dieser Tag im Kalender soll nicht im Eimer sein! Ich suche die Telefonnummer von Babsi, bei der will ich mich verlieren. Bis, na ja, fast zur Ohnmacht.

Waldemar Graser

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Das Sozialmagazin Straßenkreuzer erscheint elfmal im Jahr und wird auf der Straße von Armen und Obdachlosen verkauft.
Das redaktionelle Konzept setzt auf journalistische Professionalität: super Journalisten und Fotografen des Großraums stellen ihr Können Heft für Heft zur Verfügung, damit die Verkäuferinnen und Verkäufer ein hochwertiges Produkt mit Stolz anbieten können.

Wer Interesse an einer Mitarbeit hat, kann gerne unter 0911-217593-10 oder Diese E-Mail Adresse ist gegen Spam Bots geschützt, du musst Javascript aktivieren, damit du sie sehen kannst Kontakt mit der Redaktion aufnehmen.

Straßenkreuzer e.V.
Maxplatz 7, 90403 Nürnberg. www.strassenkreuzer.info



 




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