Andis Corona Capriccio 5: Alles nur geträumt
#Andreas Thamm, #Capriccio, #Corona, #Gastronomie
Wenn wir als Gesellschaft, frage ich mich derzeit manchmal, kollektiv eine gemeinsame Erfahrung machen, sich also unser sonst so postmodern-individualistisches Erleben mehr aneinander angleicht, gleicht sich dann genauso auch unsere Wahrnehmung aneinander an? Ich zum Beispiel nehme seit Corona viel mehr Liegefährräder im Stadtbild wahr. Und woran liegt das nun? An den Liegefahrradfahrern, die sich jetzt erst und umso mehr nach draußen wagen auf ihren seltsamen Gefährten oder an mir, der fürs Liegefahrrad eine neue Achtsamkeit entwickelt hat?
Man weiß es nicht. Aber was bei der Beobachtung des Liegefahrrads anfängt, hört letzten Endes wie alles im Gehirn auf. Man kann sich in diesen Tagen noch so viele Bücherstapel und hochkomplexe Netflix-Serien reinfahren, auf eine Art bleibt das Gehirn des Daheimbleibers immer irgendwie unterstimuliert. Und es wäre doch ein Wunder, wenn sich das nicht auswirken würde, irgendwie.
Was ich an mir von Anfang beobachten konnte, war eine neue Detailschärfe. Drei Mal in Folge fiel mir die neu gekaufte Zahnpasta von der Bürste ins Waschbecken und dieser Umstand beschäftigte mich gar unverhältnismäßig lang. Und überhaupt, warum heißt das denn Pasta, das hat mit Nudeln doch nichts zu tun und außerdem ist das gar kein schönes Wort, wir sollten konsequent Zahncreme sagen. Bei solcherlei Philosophieren ertappt man sich nicht gern.
Zweiterdings fällt mir eine neue Leere auf, die ich ganz konkret auf das Ausbleiben von Profisport zurückführen kann. Ich habe einen guten Trick zum Einschlafen. Ich denke über Sportmannschaften nach. Wie die sich grad so machen, wie ich die grade aufstellen würde, wie die beim letzten Spiel performt haben, wie sich die Statistiken einzelner entwickeln. Wirklich. Ich bin kein riesiger Fan, ich schaue aber schon gern Fußball und auch Basketball und das ist eine unverfängliche Art, das Gehirn zu beschäftigen, es quasi abzulenken, damit es sich nicht länger wehren kann und sanft in den Schlummer gleitet.
Nun aber, in allen Ligen ist Ruh, fällt dieser Trick weg. Ein paar mal war es mir noch gelungen, das Gehirn auf nostalgische Pfade zu schicken und noch einmal die Mannschaften zu imaginieren, mit denen der FC Bayern das Champions League Finale ´99 verloren und 2001 gewonnen hatte, aber das ist eine Übung, die sich erschöpft, sobald sie gelungen ist. Seither leide ich manchmal an neuartigen Einschlafschwierigkeiten, gefolgt von hochgradig absurden und dabei absurd intensiven Träumen.
Es ging los mit einem Besuch in einem großen Musikladen, in dem sich meine Freundin, H., wahrscheinlich ein Instrument aussuchen wollte und alles war normal, bis wir auf einmal nicht mehr in dem Musikladen waren, sondern eigentlich in einem Baumarkt, in dem ich komisch an einem riesigen Sonnenschirm hängen blieb, woraufhin dessen Ständer in der Mitte entzweibrach. So stand ich hilflos im Markt, hielt blöde die beiden Teile aufeinander, in der Hoffnung, sie mögen zauberhaft miteinander verschmelzen. Ein Glück, das in diesem Moment Bruce Springsteen um die Ecke kam, ein junger Bruce Springsteen, 80er-Jahre, sehr enges Shirt, das über der Springsteen-Muskulatur spannte. Bruce jedenfalls nahm eine Taschentuchverpackung, leerte sie aus und verband mit dieser Röhre aus Folie die beiden Teile des Sonnenschirmständers miteinander. Hielt wie ´ne Eins. Dann gab er noch einen Song zum besten.
Ein anderes Mal hatte ich ein Abendessen bei einem Spitzenkoch organisiert, der in gastronomischer Hinsicht ganz neue Wege einschlug. Er empfing uns in einer Art Kühlhaus, wo er mich bat, auf einer Liege platz zu nehmen. Ich verstand dann doch recht schnell, dass das Stück Fleisch, das uns der Koch zubereiten würde, erst noch gewonnen werden musste. Aus meiner Wade nämlich. Details möchte ich den Leserinnen und Lesern an dieser Stelle ersparen. Aber: Auch dieser Traum hat ein Happy End – der Spitzenkoch spritzte mir nach Entnahme etwas ins Bein, das das verlustig gegangene Filetstück sofort nachwachsen ließ.
Der dritte Traum in dieser Reihe seltsamer Nachterlebnisse war einerseits der am wenigsten spektakuläre und andererseits der intensivste, denn mit meinem Traum rang ein Ich, das doch so überzeugt war, das alles könne nicht wahr sein, wenn ich doch eigentlich im Bett liege. Ich fühlte mich durch Zeit und Raum auf eine Straße katapultiert, angrenzend an einen Garten, im Hintergrund der Waldrand. Und da stand H., in Joggingmontur, deutete auf die rote, tiefstehende Sonne und sagte: Jetzt kann man gar nicht wissen, ob sie auf- oder untergeht. Wollte die Frau mich veräppeln, sich lustig machen über meinen verwirrten Zustand? Ich verstand nicht, wie es sein konnte, dass ich mich an diesem Ort befand. Schlafwandelte ich? Wenn das hier ein Traum war, schlussfolgerte ich, müsste ich mich nur auf die Straße legen, um im Bett wieder aufzuwachen. Der Asphalt war körnig und feucht und kalt auf meiner Wange. Ich wachte nicht auf, ich wurde nur weiter katapultiert, in den Garten hinein, der plötzlich in völliger Dunkelheit lag. Nix mehr rote Sonne. Ich musste hier rausfinden, versuchte verzweifelt die Taschenlampe am Handy anzuschalten, die aber nur gelblich vor sich hinfunzelte, während ein Rascheln zu meinen Füßen immer lauter wurde, eine Ratte? Ein Eichhörnchen? Ein Hund, der im nächsten Moment an mir hochspringen würde –
Und wie verwirrt man dann doch aufwacht. Diese drei sind mir in Erinnerung geblieben, es gab aber noch einige mehr. Ich behaupte, das ist die Reizarmut in der eigenen Wohnung. Vielleicht gekoppelt mit den heftigen Geballer, dass die Streamingdienste auf die Synapsen loslassen.
Oder geht‘s nur mir so? Bitte, wer erlebt ähnliches in der Nacht? Schickt mir eure Träume an
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Ich will eure intimsten Erlebnisse der Welt mitteilen, wenn ich darf.
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