Querschläger in Wartestellung
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Henrik Ibsens „Nora“ am Staatstheater Nürnberg – Star-Regisseur Andreas Kriegenburg organisiert die Umsiedlung aus dem Puppenheim in die Kunst-Galerie
Die Dame des Hauses grüßt rücklings liegend nackt von der Wand herab. Überlebensgroß sechs Meter breit, grade richtig für die gehobene Ehemännerfantasie und deren grapschenden Zaungäste. Man krault gerne mal im Vorbeigehen an den gewissen Stellen des Kunstwerks, dessen Po-Falte das Modell selber gerne mit dem Titel „Höhlenforscher kurz vorm Einstieg“ bespöttelt. Unter dem Bild kann man das Original sogleich live beim Stand-up-Auftritt erleben, mit dem gesundheitsapostolisch streng verbotenen Kuchenteller in der Hand und dem ersten Bekenntnis des Abends mit übervollem Mund. „Ich hasse dieses Bild“, sagt sie und lacht schrill dabei. Das tut sie fortan oft – ein bisschen hassen, noch lieber spitzig kichernd auftrumpfen. Das Puppenheim hingegen, das Henrik Ibsen seiner tragischen Heldin und ihren vorerst noch unbemerkbaren Fluchtgedanken als bedrohlich ausbruchsicheren Idyllen-Bunker schon in den Titel des Dramas hinein baute, ist in Andreas Kriegenburgs Nürnberger Neuinszenierung radikal wegsaniert. Freie Bahn für den neuen Blick, wohin er auch führen mag. Einfach nur „Nora“ heißt die Geschichte dieser furchtbar dekorativen Frau in dieser schrecklich tragikomischen Familie, wo es alle in ihrer aufgekratzten Stimmung eigentlich gut meinen könnten, weil ja seit 1879, als die Emanzipation noch ganz eigendynamisch skandalträchtig war, einiges an Aufklärung passiert ist. Kein rechthaberischer Blick zurück im Zorn also, wenn die Geschichte aus dem „Vögelchen“-Gehege von der gefälschten Unterschrift der aus den Untiefen der Realität weggehätschelten Frau ins Licht von heute gedrängelt wird, auch kein verspäteter Werbetrailer fürs „Emma“-Abo. Einfach nur frisch montierte Fragezeichen mit geringer Aussicht auf Antworten. Vor der Wechselkulisse betont neutral bleibender Gegenwart (der zwischen Festspiel-Salzburg, München und Berlin pendelnde Star-Regisseur als besonders begabter Bühnenbildner baute sich und Noras besitzerstolzem Gemahl eine nach allen Seiten ausfahrbare Galerie wie einen Design-Vorschlag für die „moderne Ehe“ mit der Pin-up-Tapete) kippt der unheimlich komplexe Geschlechterkampf samt der draufgesattelten Aktualitätsbehauptung in eine neu austarierte Balance zwischen familiärer Ehrenplatzverteilung und unterdrücktem Beziehungsstress.
Zunächst wird nicht gekippt, nur mächtig gewankt. Nora Helmer und Pauline Kästner, Ibsens Bühnenfigur und ihre brillant mit allen komödiantischen Möglichkeiten jonglierende Nürnberger Interpretin, stürzen sich an steiler Rampe mit viel ranschmeißerischem Publikumskontakt in ein wechselmonologisches Ein-Personen-Streitgespräch, ob man diese unmögliche Figur ablehnen sollte oder eben doch unbedingt „die tolle Rolle“ spielen muss. Viele Streu-Pointen, keine überraschenden Ergebnisse, die Vorstellung kann endlich anlaufen und der frisch gekürte Bankdirektor Thorvald Helmer (der Spaßmacher an ihrer Seite: Maximilian Pulst) steigt nach Büroschluss trällernd ins offenbar schon seit Beginn der achtjährigen Ehe „en suite“ laufende heimische Comedy-Casting ein, das zur Bannung des Alltags den ständigen Bonmot-Rausch im Salon-Wortgefecht sucht. Andreas Kriegenburg hat für sein Nürnberger Debüt daraus ein spezielles Regie-Prinzip gemacht, er lockt die fünf Akteure (noch dabei: Julia Bartolome als Noras Freundin Kristine mit der Prise Vernunft im kleinen Handgepäck, Raphael Rubino als sterbender Nora-Verehrer Dr. Rank und Tjark Bernau als erpresserischer Gläubiger Krogstadt) in bewußt übertourige Ironie-Motorik, in ein Marathon entlang der erst im letzten Drittel der Vorstellung endenden Szenen-Verspaßung, ins Experimentierfeld des auch in Theaterkantinen tief verwurzelten Improvisationstheaters. Da werden Charaktere verhackstückt, dass es nur so spreißelt. „Du wirkst ein bisschen angestrengt, hast du es mit den Proben übertrieben?“, sagt der Mann irgendwann zur Frau. Respekt, das in dieser Nürnberger Fassung so schutzlos stehen zu lassen. Im sortierten Text-Eigenbau sind die hausgemachten, stets die Urfassung ein wenig relativierenden Querschlag-Gedanken zur melodramatischen Basis-Story immerhin in lauernde Wartestellung gebracht, auch wenn sie bloß kitzeln, wo sie zuschlagen sollten. Hochartifizielle Gruppenkomödiantik wird da geboten, das ganz zweifellos, aber – wenn die Frauen zur sarkastischen Selbstverwirklichung reichlich Emanzipations-Klischees mit Ansage ausspucken oder rhythmisch skandierend in Selbstpersiflage „Versace“, „Gucci“, „Lidl“ und „C & A“ rufen - schwerlich ein herausfordernder Beitrag zur Vergegenwärtigung der Liebeslüge, die zur Lebenslüge wurde.
Am Ende muss das gute alte Puppenheim halt doch wieder Metaphern-Ersatzdienst leisten, weil die Titelheldin nicht länger „Eichhörnchen“ bleiben, sondern – wir legen den Schalter schnell mal um - plötzlich unerwartet „zum ersten Mal ernst reden“ will, ihr eben noch um seinen Ruf jammernder Mann aber am liebsten alles wie vorher haben möchte. „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh`n“ singt sie gegen den drohenden Rückfall an, nachdem sie eben noch am Rand der wieder steiler gewordenen Rampe in den Bühnentod stürzen wollte, aber im Akkord immer wieder gerettet wird. Die Entscheidung darüber, wieviel Wunder es immer wieder gibt, fällt im Auge des Betrachters, ganz allein darin, ob er nach all dem flotten Randerscheinungs-Entertainment noch irgendeiner der Personen etwas von ihrem plötzlich hereinbrechenden Schmerz glauben kann oder will. Das Premierenpublikum war da nicht pingelig, es feierte das Spektakel und bejubelte vor allem die stupende Komödianten-Artistik von Pauline Kästner. Regisseur Andreas Kriegenburg hatte vorab in mehreren Interviews zu dieser Premiere versichert, er habe Ibsens „Nora“ früher eigentlich nie inszenieren wollen. Denkbar, dass er diesem Vorsatz treu geblieben ist.
Schauspiel-Kritik von Dieter Stoll für das Portal nachtkritik.de (Berlin)
NORA
von Henrik Ibsen
REGIE UND BÜHNE: Andreas Kriegenburg,
KOSTÜME: Andrea Schraad,
DRAMATURGIE: Andrea Vilter,
LICHT Kai Luczak
MIT: Pauline Kästner, Maximilian Pulst, Julia Bartolome, Tjark Bernau, Raphael Rubino
PREMIERE am 02. November 2019
DAUER: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
NOVEMBER 2019
Sa., 02.11.2019, 19:30 Uhr
So., 03.11.2019, 19:00 Uhr
Do., 07.11.2019, 19:30 Uhr
Do., 14.11.2019, 19:30 Uhr
Sa., 16.11.2019, 19:30 Uhr
Fr., 22.11.2019, 19:30 Uhr
DEZEMBER 2019
Do., 12.12.2019, 19:30 Uhr
Di., 17.12.2019, 19:30 Uhr
Mi., 25.12.2019, 19:00 Uhr
JANUAR 2020
Fr., 17.01.2020, 19:30 Uhr
FEBRUAR 2020
Sa., 08.02.2020, 19:30 Uhr
Di., 11.02.2020, 19:30 Uhr
Fr., 14.02.2020, 19:30 Uhr
Mi., 19.02.2020, 19:30 Uhr
Fr., 21.02.2020, 19:30 Uhr
Fr., 28.02.2020, 19:30 Uhr
Sa., 29.02.2020, 19:30 Uhr
APRIL 2020
Di., 28.04.2020, 19:30 Uhr
MAI 2020
Sa., 23.05.2020, 19:30 Uhr
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