Ein Nest auf Stahlträgern
28. OKTOBER 2019 - 18. JULI 2020, STAATSTHEATER
#Dieter Stoll, #Kritik, #Kultur, #Staatstheater Nürnberg, #Theater
Die Trümmer von 9/11, zum Mahnmal erstarrt, ragen als riesige Glasscherben zwischen den Kulissenwänden aus rostigen Stahlträgern bedrohlich in die Szene. Auf dem Zwischenvorhang ploppt im knalligen Graffiti-Potpourri der Wahlkampf-Slogan „Built that Wall“ samt orangenem Schöpfer-Bildnis auf.
Leonard Bernstein, der politisch denkende Künstler, hätte wohl nichts dagegen gehabt, wenn sein Musical-Welterfolg „West Side Story“ aus dem Jahr 1957 erneut so nah an die Gegenwart heranrückt, dass es sofort schmerzt. Er hatte ja die Konflikte der eigenen Zeitgenossen im Blick, als er Shakespeares einige hundert Jahre älteres Veroneser Modellpaar „Romeo und Julia“ samt feindseligen Gefährten in die Häuserschluchten von Manhattan versetzte. Die Regisseurin, die am Nürnberger Opernhaus die Neuinszenierung des viel- und im Tournee-Schlendrian oft auch abgespielt wirkenden Meisterwerkes jetzt anpackte, könnte kaum kompetenter sein.
Die US-Amerikanerin Melissa King war in mehreren Produktionen die temperamentvolle Puerto-Ricanerin Anita, wurde in Deutschland für ihre alternative Choreographie zum Broadway-Original preisgekrönt und will es nach den gesammelten Erfahrungen mit dem so direkt auf Herz & Gemüt zielenden Stück nach eigener Zielvorgabe vor allem „athletischer und aggressiver“ als in der Vergangenheit. Früher, sagt sie, wollte sie immer strikt puristisch das Musical in seiner Entstehungszeit belassen: „Aber dann ist Trump passiert“. Jetzt fühlt sie sich wie in eine Zeit geworfen, „in der jeder das Recht hat, andere Menschen mit Respektlosigkeit zu behandeln“. Hat die „West Side Story“ darauf Antworten? In Nürnberg ist jedenfalls ein Gegenentwurf entstanden, denn hier war 1972/73 die deutsche Erstaufführung (Kopie der „deutschsprachigen“ von der Wiener Volksoper), und bei der mussten die Schritte vom Broadway abgezählt nachgestellt werden.
2019 kann die Vertragsfreiheit auch nicht grenzenlos sein, aber schon die Mischform aus deutschen Dialogen und originalsprachigen Songs, die beim ständigen Umschalten zwangsläufig den gesteigerten Grad theatraler Künstlichkeit betont, öffnet Möglichkeiten zur Neuorientierung. Melissa King nutzt sie für ihren dritten Weg, der Tanz ist ihre alles übersprudelnde Energiequelle, man könnte ihn auch das Trafowerk des Unternehmens nennen. Sie schickt die wütenden Jugendbanden der Jets und Sharks, der Eingeborenen und der Eingewanderten, auf ein choreografisch wohlgeordnetes Schlachtfeld der verkümmerten Hoffnungen. Die explosive Gruppendynamik (zwanzig gecastete Tänzer*innen mit hinreichender Gesangs- und Dialogbegabung) sagt in der sehr ausführlichen Eröffnungsszene bereits alles über die vergiftete Stimmungslage, noch ehe dem Drama das knapp gehaltene Wort erteilt wird. Je artifizieller die Bewegung vorangetrieben ist, desto klischeehafter wirkt dann allerdings die naive Nacherzählung der Stationen-Geschichte. Die Regisseurin arbeitet dagegen an, indem sie gezielt die Tonlage verschärft, wenn der Polizeieinsatz zum Killer-Kommando und die Belästigung der Puerto-Ricanerin durch „die Amis“ zur Massenvergewaltigung hochgestuft wird. Fanfarenstöße, da die angestoßene Aktualisierung letztlich doch auf nachgeladene Nebensätze und ein mächtiges Schlussbild vom World Trade Center beschränkt bleibt, immer auf dem Weg zu den nach wie vor verblüffend vielseitigen Musiknummern. Kapellmeister Lutz de Veer, parallel grade auch für Puccinis Gefühle im eiskalten Händchen zuständig, fächert sie mit der stilistisch stabilisierten Staatsphilharmonie energisch auf. Vitalität ist Trumpf, das Schlagzeug drängt sich nach vorn. Zwischen gefühliger Arie und kabarettistischem Couplet, saftigem Mambo und zärtlichem Duett – der Dirigent ist überall zur Stelle für die Ohrwurm-Dressur. Und wird auch gebraucht, etwa vom Charaktertenor Hans Kittelmann aus dem Opern-Ensemble, der den Tony nicht als strahlenden Sonnyboy, sondern wie nach innen gerichtet singt. Man ist irritiert, hört hin und kann es als eigene Interpretation goutieren. Sopranistin Andromahi Raptis, zuletzt in Mozarts „Cosí fan tutte“ aufgefallen, gibt der Maria alle Gefühlsfarben und viel von dem Liebreiz, den Natalie Wood der Figur einst verpasste. Myrthes Monteiro (Anita) ragt aus dem ansonsten als solides Kollektiv wahrnehmbaren Ensemble heraus. Und natürlich die qualifizierte Randerscheinung des musikfreien Doc im Kolonialwarenladen, der den Jugendlichen mit wachsender Verzweiflung ins Gewissen redet. Jochen Kuhl, vor kurzem noch King Lear nebenan im Schauspielhaus, hat einen furiosen Auftritt von klassischer Wucht, bringt mit seiner Schimpftirade auf die sinnlose Gewalt herzhafte Grüße aus anderen Theaterwelten mit.
Bühnenbildner Knut Hetzer hatte wenige Schauplätze gebaut, die seit der Verfilmung ikonenhaften Feuerleitern der Hochhaus-Fassaden durch kunstvoll stilisierte Installationen ersetzt und alles dem leeren Raum zum befreienden Tanz untergeordnet. Das Nest, das er den Einwanderer-Familien hoch droben versteckt zwischen den Gerüsten baute, eine absturzgefährdete Fluchtburg als krasse Variante des berühmten Balkons, ist als Symbol der Blickfang des Szenen-Entwurfs. Melissa King schaut noch viel lieber als dorthin ins große Ganze, bleibt fixiert aufs mächtig dominierende Tanz-Spektakel und lässt kleine Dramen-Inseln auf den Turbulenzen schaukeln. Der Kitsch-Falle, die in Bernsteins Musical seit jeher auch lauert, entgeht die aktuelle Inszenierung nicht. Aber was soll man sich übers porentief weiße „Traumballett“ der Gespenster mokieren, wenn für die Überlebenden am Ende so viel Mitgefühl übrig bleibt.
www.die-deutsche-buehne.de
Die US-Amerikanerin Melissa King war in mehreren Produktionen die temperamentvolle Puerto-Ricanerin Anita, wurde in Deutschland für ihre alternative Choreographie zum Broadway-Original preisgekrönt und will es nach den gesammelten Erfahrungen mit dem so direkt auf Herz & Gemüt zielenden Stück nach eigener Zielvorgabe vor allem „athletischer und aggressiver“ als in der Vergangenheit. Früher, sagt sie, wollte sie immer strikt puristisch das Musical in seiner Entstehungszeit belassen: „Aber dann ist Trump passiert“. Jetzt fühlt sie sich wie in eine Zeit geworfen, „in der jeder das Recht hat, andere Menschen mit Respektlosigkeit zu behandeln“. Hat die „West Side Story“ darauf Antworten? In Nürnberg ist jedenfalls ein Gegenentwurf entstanden, denn hier war 1972/73 die deutsche Erstaufführung (Kopie der „deutschsprachigen“ von der Wiener Volksoper), und bei der mussten die Schritte vom Broadway abgezählt nachgestellt werden.
2019 kann die Vertragsfreiheit auch nicht grenzenlos sein, aber schon die Mischform aus deutschen Dialogen und originalsprachigen Songs, die beim ständigen Umschalten zwangsläufig den gesteigerten Grad theatraler Künstlichkeit betont, öffnet Möglichkeiten zur Neuorientierung. Melissa King nutzt sie für ihren dritten Weg, der Tanz ist ihre alles übersprudelnde Energiequelle, man könnte ihn auch das Trafowerk des Unternehmens nennen. Sie schickt die wütenden Jugendbanden der Jets und Sharks, der Eingeborenen und der Eingewanderten, auf ein choreografisch wohlgeordnetes Schlachtfeld der verkümmerten Hoffnungen. Die explosive Gruppendynamik (zwanzig gecastete Tänzer*innen mit hinreichender Gesangs- und Dialogbegabung) sagt in der sehr ausführlichen Eröffnungsszene bereits alles über die vergiftete Stimmungslage, noch ehe dem Drama das knapp gehaltene Wort erteilt wird. Je artifizieller die Bewegung vorangetrieben ist, desto klischeehafter wirkt dann allerdings die naive Nacherzählung der Stationen-Geschichte. Die Regisseurin arbeitet dagegen an, indem sie gezielt die Tonlage verschärft, wenn der Polizeieinsatz zum Killer-Kommando und die Belästigung der Puerto-Ricanerin durch „die Amis“ zur Massenvergewaltigung hochgestuft wird. Fanfarenstöße, da die angestoßene Aktualisierung letztlich doch auf nachgeladene Nebensätze und ein mächtiges Schlussbild vom World Trade Center beschränkt bleibt, immer auf dem Weg zu den nach wie vor verblüffend vielseitigen Musiknummern. Kapellmeister Lutz de Veer, parallel grade auch für Puccinis Gefühle im eiskalten Händchen zuständig, fächert sie mit der stilistisch stabilisierten Staatsphilharmonie energisch auf. Vitalität ist Trumpf, das Schlagzeug drängt sich nach vorn. Zwischen gefühliger Arie und kabarettistischem Couplet, saftigem Mambo und zärtlichem Duett – der Dirigent ist überall zur Stelle für die Ohrwurm-Dressur. Und wird auch gebraucht, etwa vom Charaktertenor Hans Kittelmann aus dem Opern-Ensemble, der den Tony nicht als strahlenden Sonnyboy, sondern wie nach innen gerichtet singt. Man ist irritiert, hört hin und kann es als eigene Interpretation goutieren. Sopranistin Andromahi Raptis, zuletzt in Mozarts „Cosí fan tutte“ aufgefallen, gibt der Maria alle Gefühlsfarben und viel von dem Liebreiz, den Natalie Wood der Figur einst verpasste. Myrthes Monteiro (Anita) ragt aus dem ansonsten als solides Kollektiv wahrnehmbaren Ensemble heraus. Und natürlich die qualifizierte Randerscheinung des musikfreien Doc im Kolonialwarenladen, der den Jugendlichen mit wachsender Verzweiflung ins Gewissen redet. Jochen Kuhl, vor kurzem noch King Lear nebenan im Schauspielhaus, hat einen furiosen Auftritt von klassischer Wucht, bringt mit seiner Schimpftirade auf die sinnlose Gewalt herzhafte Grüße aus anderen Theaterwelten mit.
Bühnenbildner Knut Hetzer hatte wenige Schauplätze gebaut, die seit der Verfilmung ikonenhaften Feuerleitern der Hochhaus-Fassaden durch kunstvoll stilisierte Installationen ersetzt und alles dem leeren Raum zum befreienden Tanz untergeordnet. Das Nest, das er den Einwanderer-Familien hoch droben versteckt zwischen den Gerüsten baute, eine absturzgefährdete Fluchtburg als krasse Variante des berühmten Balkons, ist als Symbol der Blickfang des Szenen-Entwurfs. Melissa King schaut noch viel lieber als dorthin ins große Ganze, bleibt fixiert aufs mächtig dominierende Tanz-Spektakel und lässt kleine Dramen-Inseln auf den Turbulenzen schaukeln. Der Kitsch-Falle, die in Bernsteins Musical seit jeher auch lauert, entgeht die aktuelle Inszenierung nicht. Aber was soll man sich übers porentief weiße „Traumballett“ der Gespenster mokieren, wenn für die Überlebenden am Ende so viel Mitgefühl übrig bleibt.
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Kritik von Dieter Stoll
für das Theatermagazin "Die deutsche Bühne"www.die-deutsche-buehne.de
West Side Story
Musikalische Leitung: Lutz de Veer
Regie und Choreographie: Melissa King
Bühnenbild: Knut Hetzer
Kostüme: Judith Peter
Licht: Thomas Schlegel
Dramaturgie: Wiebke Hetmanek
PREMIERE AM 26.10.2019
www.staatstheater-nuernberg.de
WEITERE TERMINE
OKTOBER 2019
Do., 17.10.2019, 18:00 Uhr
Sa., 26.10.2019, 19:30 Uhr
Mo., 28.10.2019, 19:30 Uhr
Do., 31.10.2019, 19:30 Uhr
Do., 17.10.2019, 18:00 Uhr
Sa., 26.10.2019, 19:30 Uhr
Mo., 28.10.2019, 19:30 Uhr
Do., 31.10.2019, 19:30 Uhr
NOVEMBER 2019
So., 10.11.2019, 19:00 Uhr
So., 17.11.2019, 15:30 Uhr
So., 10.11.2019, 19:00 Uhr
So., 17.11.2019, 15:30 Uhr
DEZEMBER 2019
Mo., 02.12.2019, 19:30 Uhr
Fr., 06.12.2019, 19:30 Uhr
So., 15.12.2019, 19:00 Uhr
Mo., 23.12.2019, 19:30 Uhr
Di., 31.12.2019, 15:00 Uhr
Di., 31.12.2019, 19:30 Uhr
Mo., 02.12.2019, 19:30 Uhr
Fr., 06.12.2019, 19:30 Uhr
So., 15.12.2019, 19:00 Uhr
Mo., 23.12.2019, 19:30 Uhr
Di., 31.12.2019, 15:00 Uhr
Di., 31.12.2019, 19:30 Uhr
JANUAR 2020
So., 19.01.2020, 19:00 Uhr
Fr., 31.01.2020, 19:30 Uhr
So., 19.01.2020, 19:00 Uhr
Fr., 31.01.2020, 19:30 Uhr
FEBRUAR 2020
Fr., 28.02.2020, 19:30 Uhr
Fr., 28.02.2020, 19:30 Uhr
MÄRZ 2020
So., 15.03.2020, 19:00 Uhr
So., 29.03.2020, 19:00 Uhr
So., 15.03.2020, 19:00 Uhr
So., 29.03.2020, 19:00 Uhr
APRIL 2020
So., 05.04.2020, 19:00 Uhr
Di., 28.04.2020, 19:30 Uhr
So., 05.04.2020, 19:00 Uhr
Di., 28.04.2020, 19:30 Uhr
MAI 2020
Sa., 09.05.2020, 19:30 Uhr
Sa., 23.05.2020, 19:30 Uhr
Sa., 09.05.2020, 19:30 Uhr
Sa., 23.05.2020, 19:30 Uhr
JUNI 2020
Di., 02.06.2020, 19:30 Uhr
Mo., 15.06.2020, 19:30 Uhr
So., 28.06.2020, 19:30 Uhr
JULI 2020
Do., 02.07.2020, 19:30 Uhr
Mo., 06.07.2020, 19:30 Uhr
Do., 09.07.2020, 19:30 Uhr
Sa., 11.07.2020, 19:30 Uhr
Sa., 18.07.2020, 19:30 Uhr
Di., 02.06.2020, 19:30 Uhr
Mo., 15.06.2020, 19:30 Uhr
So., 28.06.2020, 19:30 Uhr
JULI 2020
Do., 02.07.2020, 19:30 Uhr
Mo., 06.07.2020, 19:30 Uhr
Do., 09.07.2020, 19:30 Uhr
Sa., 11.07.2020, 19:30 Uhr
Sa., 18.07.2020, 19:30 Uhr
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