Macht-Politiker trifft Multi-Gott

SAMSTAG, 28. SEPTEMBER 2019, SCHAUSPIELHAUS

#Dieter Stoll, #Kritik, #Kultur, #Schauspielhaus, #Theater

Jan Philipp Gloger entdeckt die Dreifaltigkeit in Roland Schimmelpfennigs Übertragung der Euripides-„Bacchen“

Der erste Blick in diese Vorstellung, die in den folgenden hundert Minuten mit geradezu frivoler Leichtigkeit 2500 Jährchen Theatergeschichte überwölbt, bleibt am herbeizitierten Bühnenvorhang hängen. Beidseitig mit identischer Optik, klemmt er dekorativ wie ein Wandteppich im mobilen Portal. Er wird sich aus solcher Dienstleistungs-Fixierung befreien, sinnbefreite Runden drehen, in schwindelerregende Höhen aufsteigen, auf Distanz gehen, in rätselhafte Tiefen versinken, beim tragischen Finale  plötzlich diskret verschwinden. Auch darin dem verhandelten Euripides-Drama „Die Bacchen“ ähnlich. Ein bis aufs Blut rechthaberisches Prinzipien-Duell zwischen dem ordnungsfanatischen Herrscher Pentheus (Macht-Politiker, auch Moralbeauftragter) und dem lustgewinnlerischen Extremisten Dionysos (Multi-Gott, auch Freigeist und Theater-Pate), den gegeneinander antretenden Repräsentanten erdenschwerer Gesetze und himmlisch gestützter Anarchie. Das führt in der radikal entkrampfenden Nürnberger Inszenierung von Jan Philipp Gloger, der nach besten Erfahrungen mit den „Troerinnen“ die Antike zu einem Schwerpunkt seiner Direktion erklärte, in deutlich andere  Einsichten als anderswo. „Was ist normal?“, murmeln am Ende die Übriggebliebenen auf der Flucht durchs Parkett zum Erlösungs-Blackout. Am Anfang war der rachsüchtige Dionysos beim Anschleichen noch ganz der Gott des Kalauer-Gemetzels und hatte einen alten Griechen als „Kate Moss äh Kadmos“ begrüßt.

Roland Schimmelpfennigs ursprünglich für Jürgen Gosch 2009 entstandene und nach dessen Tod erst 2016 von Robert Borgmann in Basel uraufgeführte, angenehm unpathetische Version, schaukelt in Nürnberg erstmals auf dem deutungsoffen lärmenden Titel „Die Besessenen“ – was keineswegs orgiastische Veitstänze garantiert, sondern den angeblichen Besitz von gestanzten Wahrheiten ebenso einschließt wie deren Verrückung, die gern verrückt genannt wird. Mit dem eben noch diskutierten agitatorischen Förderbänder-Marschtritt von Ulrich Rasche am Wiener Burgtheater hat das in etwa so viel zu tun wie mit der legendären Antiken-Liturgie, die Peter Stein und Klaus Michael Grüber im vorigen Jahrhundert für die Berliner Schaubühne zelebrierten – also exakt nichts. Die irrlichternde Geschlechterfrage, die für Rasches Antifaschisten-Konzept ausdrücklich gar keine Bedeutung hatte, steht bei Gloger aufreizend im Zentrum. „Sexualität und Macht“ hat er in den Rang von Saison-Leitkultur erhoben.

Gott ist beleidigt, weil die irdische Macht an ihm zweifelt. Sein Gegenschlag ist Duell mit Kollateralschadstoff. Das verführte Volk in Trance, der moralisierende Vorsteher im aufgebäumten Notstand, das Ende mit Schrecken. Der bodenständige Wortgewalttäter Pentheus (Sascha Tuxhorn gibt als medaillenverdächtiger Prinzipienreiter die Sporen, bis Dressur und Galopp im Sprung zur Travestie enden) und der alle Eindeutigkeiten von geordneter Identität abschüttelnde und das Phantom maximaler Identitäts-Freiheit mit Traumvision und Schock mischende überirdische Gegenspieler Dionysos (Cem Lukas Yeginer wälzt sich mit nachladbarem Sarkasmus über Regeln gutbürgerlich bewachter Geschlechtergrenzen hinweg) vertreten Kontrastwelten. Letzterer tritt mehrköpfig an, denn der Regisseur hat ihn mit den beiden begleitenden Mänaden (Annette Büschelberger und Anna Klimovitskaya sind deutlich emanzipierte Groupies, überzeitliche Bacchantinnen im theologisch entspannten  Mitbestimmungsmodell) zur einigen Dreifaltigkeit erklärt, die „extreme Vielheit“ dieses Wesens zusammengefasst. Was will man dagegen sagen, Götter sollen ja allmächtig sein, auch die der Regie.

Zunächst musste der Blick von einer Standardsituation gelöst werden. Das Rednerpult vor dem Vorhang, flankiert von zwei Blumenkübeln, verweist auf die Bedrohung durch Festakte. Doch dann stolpert Teiresias, der Seher mit den toten Augen (extra trocken: Felix Mühlen), auf der Suche nach Freund Kadmos im Rollstuhl (ein Kauz mit Tiefgang: Frank Damerius), krachend über das Repräsentationsgemüse, und wenn sich beide aneinander hochgerappelt haben, kann der Symbol-Ersatzdienst im Blumenkränzchen auf der anderen Seite der Wahrnehmung beginnen: Der Blinde führt den Lahmen zum dionysischen Tanz-Kult, wo die verführten Frauen toben. Wer dort den Blick auf Körpereinsatz als Aphrodisiakum erwartet, muss frustriert sein von der ernüchternden Untergangs-Reportage, die ersatzweise geboten wird. Die Story vom neugierig gewordenen Voyeur Pentheus erzählt, wie er als maskierter Spion im Frauenkleid von der eigenen Mutter im Rausch zerfetzt wurde. Was bleibt, ist der abgeschlagene Kopf und eine ausgekippte Mülltüte voller Körperteile. Es gruselt auf der Trash-Geisterbahn. Der Zugewinn an Freiheit wird in  Spielgeldwährung bezahlt, aber „Spiel“ könnte das unheimliche Codewort der Aufführung sein, wenn da nicht der abrupte Rückzug des Theatervorhangs vor dem klassisch schockierenden Schicksalsschlag wäre. Doch nur ein Albtraum vielleicht, die Hoffnung schimmert zuletzt.

Jan Philipp Gloger konnte bei seiner risikofreudig mit Süffisanz und Brutalität balancierenden, durchaus „besessen“ Stimmungs-Gegensätze ausreizenden Spielweise auf ein bestens harmonierendes Team setzen. Pointierte Dialogregie – es gilt das geschliffene Wort – machte die halbe Miete. Die offene Bühne von Judith Oswald und die Welten verbindenden Kostüme von Dorothee Joisten hatten alle Voraussetzungen geschaffen. Die zurecht ausgiebig gefeierten Schauspieler*innen geben der zweiten Nürnberger Gloger-Saison viel Schwung.  


DIE BESESSENEN
nach „Die Bacchen“ des Euripides in der Übertragung von Roland Schimmelpfennig

Inszenierung: Jan Philipp Gloger,
Bühne: Judith Oswald,
Kostüme: Dorothee Joisten,
Musik: Kostia Rapoport,
Licht-Design: Tobias Krauß,
Dramaturgie: Brigitte Ostermann, Fabian Schmidtlein.

Mit: Sascha Tuxhorn, Ulrike Arnold, Annette Büschelberger, Anna Klimovitskaya, Cem Lukas Yeginer, Frank Damerius, Felix Mühlen, Yascha Finn Nolting.

Dauer: 1 Stunde 40 Minuten – keine Pause

Schauspielkritik von Dieter Stoll für nachtkritik.de (Berlin)
www.nachtkritik.de


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