Das Schloss der Fürstin, die Wiese der Trapp-Familie und ...

SONNTAG, 1. SEPTEMBER 2019

#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kritik, #Kultur, #Kulturkommentar, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

… die gereckten Arme der Generalmusikdirektorin – Wie die Spartenchefs am Staatstheater für die zweite Saison ihr Profil stabilisiern: namhafte Regie-Gäste, feste Größen, erstaunliche Verbindungen – und dazu blitzt Nürnberger Nostalgie in Regensburg.

 VERSUCH EINES DURCH- & ÜBERBLICKS – KOMMENTAR VON DIETER STOLL

Neulich zur lauen Abendstunde in einem Restaurant mit Valznerweiher-Seeblick: Am Nebentisch erklärt ein gutbürgerlich mit Messer und Gabel bewaffnetes älteres Ehepaar, in jeder Hinsicht vollmundig, im emphatischen Duett den noch etwas älteren und ebenfalls mit erkennbar gutem Appetit ausgestatteten Freunden, wie wunderbar spektakulär und wichtig es sei, dass Nürnberg jetzt eine ganz junge Chefdirigentin hat. Ja, wirklich! Man lese ja überall nur das Beste über sie, über die Auftritte im Opernhaus, in der Meistersingerhalle und am Luitpoldhain, und vor allem eins: „Wie sie die Arme reckt!“. Kurzer Moment der Ergriffenheit. „Was macht sie denn so“, kommt die Gegenfrage beim diskreten Schweißabtupfen. Die Antwort weiß ganz allein der (zu diesem Zeitpunkt leider nicht zur Verfügung stehende) Wind, denn justament im Augenblick der Wahrheit überquert eine niedliche  kleine Maus unter gemischten Schreckens- und Entzückungsrufen der umsitzenden Bevölkerung elegant die Terrasse, was zum radikalen Themenwechselschnitt führte. Die Kultur hat es halt schwer zu Zeiten des generationsübergreifenden Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms, wo zwar gelegentlich Stolpersteine zum Innehalten erfunden, aber noch öfter Reizschwellen fürs Weiterschlurfen versenkt werden. Von fremden Einflüssen ganz zu schweigen. Hilft nichts, Image will gepflegt sein, der Glanz kommt nicht von selber. Der Beginn der aktuellen Theater-Saison könnte für einen neuerlichen Versuch passen.

MULTIPLIKATION AUS KUNSTBEHAUPTUNG UND QUOTE

Die Bedeutung öffentlicher Bühnen steckt im multiplizierten Ergebnis aus Kunstbehauptung und Quotenbilanz. Zweifelsfrei überprüfbar ist beides nicht, aber das wäre ein anderes Thema. Sind die Häuser „voll“, kann man die Besucherstatistik zur elastischen Erfolgskurve biegen; wird auch jenseits der Stadtgrenzen die Essenz hausgemachter Kunstfertigkeit beachtet, sehen die Subventionsbruderschaften aus Stadt und Staat (in Nürnberg derzeit je zur Hälfte) das unvermeidliche Millionendefizit als vertretbare Negativverzinsung höherer Absichten. Das Eine ist ohne das Andere nicht viel wert. Aber wie wird solcher Erfolg jenseits der eisernen Weisheit, dass man die „Zauberflöte“ immer spielen kann, (was ab April 2020 am Opernhaus denn auch mit einer zehn Jahre alten Produktion geschieht) denn nun gemessen? Darf man beispielsweise erwarten, dass die zur Programmatik berufenen, stilbildenden Leitungsfiguren der Kulturfabriken zum Beweis ihrer Bedeutung andernorts umworben werden, aber dennoch strikt vertragsselig daheim sitzen bleiben? Die ständige Auseinandersetzung mit der verqueren fränkischen Selbstkasteiungsskepsis, die da besagt, dass ein ortsansässiger Künstler eigentlich nur bedingt grandios sein kann, weil er ja sonst sicherlich längst kein solcher mehr wäre, existiert unkaputtbar. Dabei ist sie, war sie wohl schon immer, mittelgrober Unfug.   

Man darf es am Vergleichsbeispiel der – ist schon zwei Absätze her: Sie erinnern sich? – bei Tisch genannten, im Kritiker-Kalau sogar zur „Maestra“ geadelten und aus Erfurt nach Nürnberg gewechselten Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz (32) belegen. Als einst am Stadttheater Lübeck der grade im großen Karriereaufschwung befindliche Jungmusiker Christoph von Dohnanyi (später berühmt als weltreisender Dirigent, progressiver Opernintendant, Bruder eines SPD-Spitzenpolitikers und Ehemann von Anja Silja) wegen höherrangiger Angebote sein Provinzorchester als nomineller Chef nur noch bei den ausgewählten Saisonhöhepunkten befehligte, hatte er als bekanntermaßen ungarischstämmiger und auf korrekte Aussprache seines Namens bedachter Künstler (sprich: Dochnanyi) schnell den Spitznamen „Dochnieda“.

MINDESTENS 40 NÜRNBERGER ABENDE MIT DER DIRIGENTIN

Vergleichbares wird die zweite Nürnberger Mallwitz-Saison nicht hergeben, obwohl die Frau vor den Philharmonikern inzwischen weitflächig umworben wird. Sie steht in den nächsten Monaten für zwei Premieren samt Vorstellungsserie an der in den Spitzengruppen aller Fachpresse-Umfragen buchstäblich festgewachsenen Oper Frankfurt am Pult (studiert Strauss-„Salome“ mit Regie-Supermann Barrie Kosky ein und Gabriel Faurés selten erlebte „Penélopé“ mit Corinna Tetzel), dirigiert Konzerte mit den großen Orchestern der Bayerischen und der Stuttgarter Staatsoper und taucht in diversen Wetten vorne auf, was die alsbaldige Berufung zur ersten Frau im Orchester-Abgrund der Bayreuther Wagner-Festspiele betrifft. Ihre vereinbarten Nürnberger Aktivitäten behindert das offenbar nicht. Sie wird neben Verdis „Don Carlos“ und Brittens „Peter Grimes“ auch das abendfüllende Strawinsky-Ballett musikalisch einstudieren, zu vier Philharmonischen Konzerten, zwei „Expeditionskonzerten“ mit Eigenmoderation und den fünf Neujahrskonzerten „Walzer Walzer Walzer“ im nächsten Sommer die massentaugliche Wiesen-Klassik „Italienische Nacht“ (Arien Arien Arien) übernehmen. 40 Heimspielabende plus Probeneinheiten in Nürnberg sind das neben den Auswärtsterminen mindestens.

NACH EURIPIDES UND HANDKE ZUR „CSARDASFÜRSTIN“

Die Erfolgspersonalisierung der anderen Spartenchefs und ihrer schwerpunktmäßig inszenierenden Satelliten ist in der öffentlichen Wahrnehmung weniger spektakulär, da mangelt es einfach an wahrnehmbaren Auftritten, wenn nach vier Wochen interner Proben bei der Premierenverbeugung (Bravo? Buh? Freundlicher Beifall?) fast alles vorbei ist mit dem Publikumskontakt, sofern die Erinnerung der Zuschauer nicht doch gelegentlich klickt. Der Chef Jens-Daniel Herzog wird  nach „Don Carlos“ und „La Calisto“ am eigenen Haus dann in Dresden die Aufbereitung seiner Salzburger „Meistersinger“ und in Frankfurt ganz neu Hans Werner Henzes „Prinz von Homburg“ inszenieren. Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger wiederum (der für Ionesco, Euripides, Handke und Schnitzler steht), ist vom Opernhaus Zürich unerwartet für die  Paprika-Tischbombe „Die Csardasfürstin“ gebucht, hat dafür immerhin Annette Dasch.

Die wesentliche Aufgabe als Nürnberger Programmierer werten die beiden Spartenleiter mit unterwegs gesammelter Beute vom Regie-Markt der Möglichkeiten auf. Wer sich zur Analyse der Spielzeit 2019/2020  für ein paar Stündchen in die Ankündigungen vertieft,  die auf dem dicht gewebten Netz deutscher und deutschsprachiger Bühnen aller Größen wie schaukelnde Verheißungen für die nächsten elf Monate platziert sind, wird schnell von Trends aus Klassik, Zeitgenossen und Projekten gebeutelt.  Je nach Zählweise von mehrspartigen oder getrennt nach Musik- und Sprechtheater arbeitenden Instituten sind das so oder so mehr als 200 komplexe Paket-Konstruktionen des guten Willens mit einigen tausend einzelnen Anläufen zum erhofften Gipfelsturm. Ohne Namedropping ist dem Wirbel gar nicht beizukommen.

BAYREUTH-VERWEIGERER UND SPARTEN-WANDERER

Einige erstmals am Richard-Wagner-Platz auftauchende  Namen leuchten auf. Opernregisseurin Tatjana Gürbaca etwa gab kürzlich den allseits begehrten Auftrag für den Bayreuther „Ring des Nibelungen“ 2020 wegen mangelhafter Probenmöglichkeiten zurück, ist aber mit den Bedingungen für Massenets „Manon“ in Nürnberg durchaus zufrieden. Der Allsparten-Wanderer Andreas Kriegenburg, der eben bei den Salzburger Festspielen mit Verdis „Simon Boccanegra“ seine Saison bereits eröffnete, bleibt seit Jahren der nach Premierenzahl und Kilometer-Bewältigung meistbeschäftigte Spielleiter in Deutschland. Nürnberg fand in seinem eng beschriebenen Terminkalender eine Lücke für Ibsens „Nora“, zu den sonstigen Spielzeitvorhaben Kriegenburgs zählen beispielsweise Kleists „Michael Kohlhaas“ (Berlin), Tschechows „Kirschgarten“ (Dresden), Strindbergs „Traumspiel“ (Düsseldorf) und Abrahamsens „The Snow Queen“ (Staatsoper München).
Der einstige, inzwischen dem Mainstream deutlich näher rückende Bilderstürmer Calixto Bieito, den Peter Theiler mutig nach Nürnberg holte („Turandot“, „Totenhaus“) und jetzt an seinem neuen Arbeitsplatz in Dresden einfädelt (Ligetis „Le Grand Macabre“), kommt für die zusammen mit Madrid und der Opera Vlandeeren angesetzte Uraufführung von „Die Wohlgesinnten“ des Katalanen Hèctor Para wieder hierher, wird aber auch Verdis „Falstaff“ (Hamburg) und überraschend das Horváth-Schauspiel „Italienische Nacht“  (Stuttgart) inszenieren. Dass Tilman Knabe, der mit seiner viel zu schnell aus dem Spielplan verschwundenen, großartigen Interpretation von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ in frischer, vor allem aber bester Erinnerung ist, mit Brittens „Peter Grimes“ wiederkehrt, könnte ein willkommenes Zeichen für dauerhafte Präsenz sein. Sofern es nicht bloß darum geht, einen sicheren Erfolg aus Herzogs Dortmunder Intendanz zu wiederholen.

LEIDER KEIN PLATZ FÜR „SPRINGTIME FOR HITLER“

Anne Lenk bleibt die einzige „Hausregisseurin“, die der Schauspielchef so herausgehoben wie beim altmodischen früheren Titel „Oberspielleiter“ nennt (die erste Saison mit „Die Möwe“ und „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ gelang ihr eher mittelprächtig), sie legt mit Kleist und dem weiblichen Blick auf Schnitzler nach. Am Wiener Burgtheater ist sie für Sally Potters „The Party“ gebucht. Unbedingt erwähnenswert der neue Amüsierbeauftragte des Hauses. Nach dem Publikumserfolg der Knallchargen-Parade „Komödie mit Banküberfall“ wird der früher mit Harald Schmidt arbeitende Christian Brey bekanntlich an beiden Nürnberger Häusern arbeiten, sowohl für Schauspiel-Travestie mit Elvis-Double wie für großbritische Piraten-Operette. Schade, dass nicht eine der beiden Projekte gegen die Mainzer Brey-Planung mit Mel Brooks umwerfendem Musical „The Producers“ (jaja „Springtime for Hitler and Germany“) getauscht wird.

WAS MACHT EIGENTLICH KLAUS KUSENBERG?

Für treue Seelen und andere Nostalgiker, die 18 Jahre Erinnerung nicht einfach wegwischen, stellt sich die „Was macht eigentlich …?“-Frage. Knapp zwei Jahrzehnte war Klaus Kusenberg als Schauspieldirektor in Nürnberg, jetzt startet er seine zweite Saison als Spartenchef in Regensburg – und da spiegelt sich blitzend die Vergangenheit. Er selbst bleibt neugierig auf gesellschaftskritische Texte mit Unterhaltungswert bei deutschen Erstaufführungen britischen Ursprungs, diesmal von Rogers „Oslo – Mission  für den Frieden“ und Neilsons „Sex oder Ex“. Georg Schmiedleitner und Stefan Otteni, die wichtigsten Reiseregisseure der abgeschlossenen Ära am Richard-Wagner-Platz, treten in der nahen Oberpfalz-Metropole an, der in Erlangen gefeierte und in Nürnberg mit einem Förderpreis ausgezeichnete Marc Becker ebenfalls. Für Schmiedleitner, zuletzt mit dem Wagner-„Ring“ Aufsehen erregend und in diesem Sommer das ganz andere Bergwaldspiel „Der Lebkuchenmann“ in Weißenburg kommandierend, ist das offenbar auch die Rückbesinnung aufs Schauspiel. Er wird Shakespeares „Richard III.“ inszenieren, in seiner Heimatstadt Linz kommen Raimunds Volksstück „Der Verschwender“ und die Uraufführung eines Schiller-Projekts „Zeiten des Aufruhrs“ dazu. Otteni, der mit Handkes „Immer noch Sturm“ die wohl beste Schauspielproduktion der Kusenberg-Ära geliefert hatte, war in der Tafelhalle mit Elfriede Jelinek auch weit vorne und nimmt diesen Faden wieder auf. „Am Königsweg“  erwartet er noch im September die Gedankensprünge der Nobelpreisträgerin. Provokanter, weil naheliegend, könnte die Uraufführung „Jenseits von St. Emmeram“ wirken, eine Satire auf das von Plapper-Fürstin Gloria besetzte Markenzeichen-Schloss, die Marc Becker, der sich in Erlangen mit Puppenspieler Tristan Vogt nicht mal vor dem gekrönten Mörder Macbeth fürchtete, schreibt und inszeniert dabei fest den Blick aufs adelige, hierorts gern bei undeutlichem Dialekt auch „odlig“ genannte Wesen. Möge es schnakseln!

NEVILLE TRANTER UND NIKOLAUS HABJAN MACHEN „TRAPP-FAMILIE“

Und dann dieses: Ein erstaunter Blick in die Steiermark feuert im Herbst 2019 die Freude auf Mai 2021 hier in der Region schon mal an. Am Schauspielhaus Graz entsteht soeben eine Uraufführung, die das 22. internationale figuren.theater.festival in Erlangen, Fürth und Nürnberg beleben dürfte. Erstmals erarbeiten der Wahl-Holländer Neville Tranter (inoffizieller Hausgott des Festivals) und sein allermeisterlichster Meisterschüler Nikolaus Habjan gemeinsam ein Stück. THE HILLS ARE ALIVE (jaja, Julie Andrews hüpfte als angehende Baronin Trapp in „The Sound of Music“ zu diesem Lied der Berge  über die grüne Wiese) ist der Titel einer fabulierten Geschichte mit Reality-Hintergrund von österreichischen Geflüchteten, die nach Exil-Jahrzehnten in der neuen Welt nun die Wiedereinbürgerung in der ehemaligen Heimat anstreben. Die gewisse Familie von Trüb flieht vor „America first“ gen Austria – und gerät in die Mühlen der europäischen Abwehrbürokratie. Der 64-jährige Wahl-Niederländer Tranter, der mit seinem Stuffed Puppet Theatre seit 1981 zum Spezialisten für Monster aller Art wurde (denkwürdige Stücke über Macbeth, Frankenstein, Schicklgruber, Salome  und den „King“) mit dem 32-jährigen Grazer Habjan, der tief ins Innenleben seiner Heimat stochert (als Qualtinger-Wiedergänger „Herr Karl“, mit der ergreifenden Doku „F. Hawel“ und dem im Mai im Fürther Theater bejubelten Denkmalsturz „Böhm“) und trotz seiner inzwischen ausufernden Regiekarriere in Oper und Schauspiel bei erstklassigen Wiener Adressen die Liebe zu den Klappmaul-Puppen nicht vergisst. Der Mai 2021 soll schnellstens kommen.

Ob sich Nürnberg 2025 offiziell „Kulturhauptstadt Europas“ nennen darf, gilt als weiterhin offener Wunschtraum. Am Theater, das belegt der frische Blick aufs Mosaik, ist Europa schon 2019 angekommen.

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FÜR CURT: DIETER STOLL, THEATERKRITIKER
und langjähriger Ressortleiter „Kultur“ bei der AZ. Als Dieter Stoll nach 35 Jahren als Kulturressortleiter der Abendzeitung und Theater-Kritiker für alle Sparten in den Ruhestand ging, gab es die AZ noch. Seither schreibt er z.B. für Die Deutsche Bühne und ddb-online (Köln) sowie für nachtkritik.de (Berlin), sowie monatlich im Straßenkreuzer seinen Theatertipp. Aber am meisten dürfen wir uns über Dieter Stoll freuen. DANKE!
 




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