Tibors Kopfkino #12
#Casablanca, #Cinecitta, #Film, #Kino, #Kommkino, #Tibor Baumann
Der Nürnberger Regisseur und Autor Tibor Baumann hüpft von Kinosessel zu Premierenteppich – und schreibt für uns, worüber er am liebsten nachdenkt: für wen der Teppich ist und wer dafür sorgt, dass die Sessel sauber bleiben. Und momentan tut sich einiges zwischen den Machern der Sessel zu Hause und den Teppichen der großen Lichtspielhäuser. Und daher heute im Programm des Kopfkinos:
MAFIA MARTIN UND DIE ALTE GANG –
EIN KOMMENTAR: GLANZLICHTER AUF NÜRNBERGS LEINWÄNDEN
Vorfreude ist die schönste: Es ist mitten in der Nacht, als ich, im Rest der brütenden Hitze des auslaufenden Sommers, auf meinem Sofa lang hingestreckt, auf den Trailer stoße: Martin Scorsese ist zurück!
Mit den ersten Beats des Trailers zu seinem neuen Film THE IRISHMAN fühle ich etwas, das ich nur empfinde, wenn ich einen waschechten Scorsese inhaliere. Auch wenn Scorsese nicht nur Mobster-Movies gemacht hat, ist sein Stil unverkennbar. Stilprägende Stille bei gleichzeitigen, ausufernden Off- und On-Texten in Filmen mit unglaublichen Laufzeiten. Schlichte Verweigerung rein linear zu erzählen oder sich an Aktstrukturen zu halten und dabei einen immer wiederkehrenden Rhythmus in einer schier manischen cinematographischen Auflösung der Figuren und Story im Bild zu finden. Das macht nicht nur einen Teil seiner Brillanz aus, sondern auch das Wunder, dass jemand das Risiko auf sich nimmt, diese Filme zu produzieren. Shakespear’sches Drama trifft auf die Coolnes der alten Legende der wahren Macht und der damit einhergehenden Korruption – in Bildern, in denen man baden möchte: es muss ein Scorsese sein!
Auch wenn die Karriere des italienischstämmigen Scorsese ein beispielhaftes Leuchten der Kometen am Himmel über Hollywood ist, so haftete ihm doch lange Zeit der Ruf des „Kassengiftes“ an. Bei den astronomischen Budgets, den unglaublichen Ansprüchen – da ist es nicht schwer, zu wenig an den Kinokassen einzuspielen. Aber für die Meisten ist ein solcher Ruf ein Todesstoß wie für den in THE LAST TEMPTATION OF CHRIST an den Winkel genagelten Nazarener der römische Stahl. Oder das Messer für den armen Hund im Kofferraum der GODDFELLAS. Oder wie für Bill the Butcher in GANGS OF NEW YORK; ein schneller Schuss wie in DEPARTED … Okay, genug der Filme – ihr wisst, was ich meine.
Nicht genug davon für Scorsese. Seinen eigenen Stil, sein eigenes, filmisches Interesse erhaltend, drehte er studiogebundene Produktionen wie KAP DER ANGST, nur um gleichzeitig zu beweisen, anpassungsfähig zu sein. Also überlebensfähig. Obwohl Filme wie SHUTTER ISLAND, KUNDUN und WOLF OF WALL STREET auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, sind sie doch eindeutig gleichen Ursprungs. Perfektion erreicht man, indem man unverkennbar an den wiederkehrenden Themen und Techniken feilt. So wurde Scorsese zur eigenen Marke, er ist sein eigenes Franchise, ein Qualitätsgarant, dessen Name für eine bestimmte Art von Film steht, die an die alten Tage Hollywoods erinnern – selbst wenn diese vielleicht am Ende mehr in den Köpfen als tatsächlich existiert haben.
Das zeigt sich auch im Ensembleverhalten des Meisters – auch hier: nur Meisterinnen und Meister, seine Besetzungen lesen sich wie das „wer-is’n-etz-wer?“ der Blubberpoolparty der besten Gesichtsverleiher der verdammten letzten drei Jahrzehnte. Er führt das auch im Team fort, wie z.B. bei seiner Editorin Thelma Schoonmaker, die seit den 80er alle seine Bilder schneidet. Solche Expertise, eine über Jahrzehnte geschliffene Exzellenz, veredelt über den Marktwert hinaus. Was er mit wem macht, das hat Gewicht, Aussage- und Strahlkraft nicht nur im Kino, sondern auch darüber hinaus. Der Mann und seine Arbeit haben Symbolcharakter für eine ganze Industrie.
Und als Sahnehaube vereint sein neuer Film Robert DeNiro, Joe Pesci und Al Pacino mit dem Monstermeister: Mafia-Martin hat sie wieder alle beisammen.
Und nach dem epischen Ende des Trailers: rotes N auf schwarzem Grund. Mir fällt die Kinnlade laut scheppernd auf den mit Popcorn bestreuten Boden: Es ist eine Netflix-Produktion. Das Netflix, dieser 1997 als DVD-Versand-Verleih gegründete Milliardenriese, groß in die Produktionswelt eingestiegen ist, das ist keine Neuerung. Vom Verleih, zum Online-Verleih, hin zum neu verstandenen Fernsehen; das durch die nationalen Beschränkungen erschwerte Geschäft mit den Lizenzen hat das Unternehmen dazu gebracht, 2013 in die serielle und 2015 in die Filmproduktion einzusteigen. Aber mit der Produktion eines Martin Scorsese, inklusive der Alt-Herren-Creme-de-la Hollywood, ist in der Netflix-Welt ein neues Level erreicht worden. Und es vereint sich mit der oben genannten Strahlkraft. Denn Netflix strahlt mittlerweile in die Wohnzimmer von geschätzten 150 Millionen AbonnentInnen.
Und dabei haben sich die Taktung der Produktionen nicht nur erhöht, sondern auch noch auf nationaler Ebene angepasst – wie hierzulande durch Produktionen wie DARK und KIDNAPPING STELLA (ansehen!) zu bemerken ist. Es muss geliefert werden, denn ihr eigentliches Kerngeschäft haben sie verpasst: Kinofilme zur Verfügung zu stellen, zeitnah, nachdem sie ihr natürliches Habitat verlassen haben.
Also, eigener Glanz muss her. Und ehrlicherweise – wir Filmemacher lecken uns die Finger nach solchen Produzenten: experimentierfreudig, visionsinteressiert, stinkreich. Denn mal ehrlich: welcher deutsche Redakteur beim ZDF oder der ARD hätte schon HOW TO SELL DRUGS ON THE INTERNET (FAST) produziert? (Auch hier: ansehen – MALCOLM IN THE MIDDLE meets BREAKING BAD; würde wetten, dass das auf dem Pitch stand. Und es funktioniert!)
Aber das schafft nicht den Anschluss an den Glanz der Hollywood-Größen. Den holt sich Netflix jetzt eben. Nun könnte man sagen: das ist doch gut, dann gibt es einen neuen Scorsese. Und das ist auch nicht von der Hand zu weisen.
Aber auch hier steckt, wie in einer guten Kamerafahrt, der Teufel im Detail: Netflix bringt den Film „in selected Theaters“. Während er gleichzeitig bereits online stehen wird! Boxoffice? Egal. Es geht darum, den Film für die Nominierung zulässig zu machen. Lief es im Kino, so ist es nominierter für die Oscars – und dass es Oscar-verdächtig ist, liegt bei Scorsese auf der Hand.
Das ist mehr als eine Kampfansage an die Lichtspielhäuser und alle, die damit zusammenhängen, vom Verleiher über den Programmdirektor bis zum Kartenabreißer. Es will sagen, dass es kein Kino braucht, um Kino zu produzieren. Aber das ist ein Irrtum. Denn Kino ist mehr, als ein brillanter Regisseur, sein Team, ein Werk auf der Leinwand. Kino kann zwar überall gemacht werden, ob in einer simplen Hütte oder dem größten Movie-Palace. Aber es muss gemacht werden. Es ist keine einsame Klick-Entscheidung. Es ist eine Veranstaltung, ein Abend, ein Entscheidung, einen Moment in ganz bestimmter Umgebung mit Menschen zu erleben. Kino ist ein Erlebnis – Netflix nur ein großes Produktionshaus. Dem verdanken wir jetzt zwar einen sicherlich monumentalen Film – aber keinen Moment! Für den Moment sorgt nicht der Produzent, sondern das Kino. Und Nürnberg ist genau das richtige Pflaster, um im Kino zu schwelgen und die großen und kleinen Sternstunden zu erleben – von A wie „Absolut monumental“ bis Z wie „zauberhaft“, in Nürnberg strahlt es von den Leinwänden.
Ganz riesig freuen wir uns mit dem CASABLANCA FILMKUNSTTHEATER! Gegen alle Unkerinnen und Unkeriche, hat sie sich durchgesetzt, die cineastische Perle der Südtsadt. Das ausgezeichnete und dafür ausgezeichnete Kino wird 10 – und das will zelebriert werden! Vom 20. bis 22. September könnt ihr mit den Casa Boys und Girls feiern: es wird Musik und Fest, Special Screenings und eine wunderbare Matinée mit dem Lieblingsfilm aus 10 Jahren Kino mit Courage geben. Das Programm findet ihr auf der Website. curt gratuliert!
WER SICH EINEM GENRE ZUWENDEN WILL, IST IN NÜRNBERGS LICHTSPIELHÄUSERN AUCH AM RICHTIGEN ORT:
Vom 19.09. bis zum 29.09. findet im CINECITTA das FANTASY FILMFEST statt. Da wird wieder aus allen Registern des phantastischen Films gezogen. Internationales Kino und Underdog-Werke kommen hier genauso zu Geltung wie lange und kurze Formate. Von Horror bis Thriller – Spannung und die Lust am Genre werden von blutrünstig bis erheiternd zelebriert.
Wer die singulären Ereignisse des dokumentarischen Films liebt, kann sich einmalig im CINECITTA am 16. September THE GAME CHANGER (R: Louie Psihoyos) ansehen. Spitzenathleten aller Sportarten, Alters- und Gewichtsklassen zeigen im auf Sundance umjubelten Film, dass der Fleischberg, den du brauchst, um an der Spitze zu sein, ein Mythos ist.
Trashig und erfrischend anders organisiert das KOMMKINO seine Reihen und Retrospektiven. So werden zum Kinostart von RAMBO LAST BLOOD (R: Adrian Grünberg, KS: 19.09.) nicht nur die ersten drei Teile des marodierenden Veterans gezeigt, sondern auch die Ripp-Off-Trash-Produktion DER KAMPFGIGANT (R: Bruno Mattei, 1987), mit der der Exploitation-Meister eines der schamlosesten Plagiate der 80er produzierte. Aber auch das Special und die Filmauswahl zu Regie-
legende Alejandro Jodorwowsky ab dem 18.09. dürfte Cineasten-Herzen höher schlagen lassen.
Für jeden von uns hält das Kino den richtigen Moment bereit. Kommt gut aus dem Sommer raus und ins Kino rein. Habt euch lieb und geht ins Kino – und organisiert euer eigenes Kino, um den neuen Scorsese dann zu sehen!
www.tiborbaumann.de
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