Dem Egers sei Welt #74: Das Reh im Mondschein

DONNERSTAG, 11. JULI 2019

#Comedy, #Egersdörfer, #Kabarett, #Kolumne, #Kultur

Spät in der Nacht klingelte mein Handy. Nach zwei dürfte es schon gewesen sein. Die Nummer war mir gänzlich unbekannt. Ich dachte erst, es handele sich um einen Unfall oder jemand sei akut in ein Unglück geraten und bräuchte meine Hilfe. Es stellte sich aber heraus, dass es die Ex-Freundin gewesen war, die stark angetrunkene Ex-Freundin, wie sich am schweren Zungenschlag unschwer erkennen ließ.

Der Grund ihres Anrufs war, dass sie mir unbedingt von der Selbsttötung eines uns beiden bekannten Musikers berichten musste. Das „uns beiden“ befand sich allerdings schon einige Jahre über dem Verfallsdatum. Und die Selbstvernichtung des Künstlers war nicht justament zu der späten Stunde erfolgt. Das Unglück war nicht mehr rückgängig zu machen. Die schlimme Kunde hatte reichlich zeitversetzt angeblich ihr Seelenhäuschen wie durch eine mächtige Flutwelle zerschmettert und weggespült. Weiß der Teufel, was die Frau veranlasst hatte, mich mitten in der Nacht anzurufen. Das Verhalten von Frauen gleicht oftmals der Lebensweise von Tiefseefischen, über die sich letztendlich nur ungenaue Mutmaßungen anstellen lassen. Bei dieser Frau vermutete ich aber ganz andere Beweggründe für die späte Belästigung. Vielleicht hatte sie plötzlich damit angefangen, sich Sorgen zu machen, dass ich auch ohne sie ein glückliches Leben führen könnte. Diese für sie so furchtbare Vorstellung konnte sie offenbar nicht länger ertragen. Deshalb nahm sie sofort Kontakt mit mir auf. Es war ihr nicht gelungen, mich am Vormittag anzurufen und zu sagen: „Hallo, ich bin’s. Ich wollte mich nur einmal wieder bei Dir melden für den Fall, dass es Dir zu gut geht. Solltest Du mir glaubhaft versichern können, dass sich Deine Verfassung im Bereich der Zerrüttung befindet, hätte sich der Anlass für dieses Telefonat von selbst erübrigt.“ Zu einer nüchternen Belästigung hatte es bei ihr offenbar nicht gereicht.

Wichtig in solchen Fällen ist es, dass man nicht den Blick für das Wesentliche verliert. Gleich nach dem Telefonat habe ich mir die Telefonnummer mit zugehörigem Vornamen und Nachnamen eingespeichert, und zusätzlich im Feld „Firma“ die Bezeichnung „Terror“ eingetragen. Unablässig für ein gelingendes Leben ist die Erfassung unliebsamer Zeitgenossen. Das Bundeskriminalamt sammelt in seinen Karteien ja auch nicht den unscheinbaren Kleingärtner und den Bariton aus dem Gesangsverein. Es gilt, den Plagegeist, den nachweislichen Attentäter der Emotionen, möglichst umfangreich datentechnisch zu erfassen. Grundsätzlich gilt: Wenn das Telefon klingelt, kann ich mir viel Ungemach ersparen, wenn ich sofort sehe, dass der Anruf z.B. von Seiten eines scheinheiligen, verlogenen und rachgierigen Zeitgenossen ausgeht. Befinde ich mich aber gerade in einem Zustand bester Laune, die am Rand schon bedrohlich in den psychopathologischen Bereich einer endogenen Psychose hineinlappt, kann in so einem Moment das Telefonat mit einer derartigen Person auch hilfreich sein, weil sich im Gespräch mit dem Zeitgenossen jedwedes übersteigerte Hochgefühl schmelzen lässt wie Eiswürfel unter dem Gebläse einer Heißluftpistole. An den anderen 364 Tagen im Jahr empfiehlt es sich jedoch, das Klingeln des Apparates in gleichmäßiger Atmung und entspannter Sitzhaltung vorübergehen zu lassen und im anschließenden Ein- und Ausatmen die Stille nach dem Klingeln bewusst wahrzunehmen und zu genießen.

Eine weitere Variante, die Begegnung mit Scheusalen zu vermeiden, besteht darin, dass ich traditionell in der mußevollen Zeit zwischen den Jahren akribisch die Geburtstage von unliebsamen Zeitgenossen auf die jungfräulich weißen Kalenderseiten eintrage. Im nächsten Schritt versende ich dann Anfragen an Pensionen und kleinere Hotels, um jeweils Einzelzimmer für wenige Tage zu buchen, die vom Zeitraum her die unangenehmen Ehrentermine der Unpersonen inkludieren. Es ist nicht notwendig, bei der Auswahl der Fluchtstädte die Aufmerksamkeit auf historische oder kulturelle Qualitäten zu richten. Ohne ein Empfinden von Mangel verbringe ich gern mehrere Tage in Biblis, das als Stadt außer einem abgeschalteten Kernreaktor nicht viel zu bieten hat. Gleich nach dem Erwachen im Domizil meiner Ausrede setze ich mich im Hotelbett auf und betrachte wohlwollend eine ganze Weile die viereckige Glasvase auf dem mit Resopal ummantelten Nachttischlein, die prall gefüllt ist mit rosa lackierten Schottersteinchen, aus denen drei bunte Plastikblumen herauswachsen. Anschließend schreite ich frohen Schrittes in den Frühstücksraum, wo auf einen Tellerchen schon eine kregle Käsepantomime auf mich wartet. Daneben liegen rosa fluoreszierende Schinkenscheiben. Brotscheiben liegen zum Verzehr bereit, die alternativ auch Verwendung in der effizienten Wärmedämmung von Gebäuden finden könnten. Musikalisch sprotzelt dazu der Kaffee aus der Drückkanne und erinnert an das trübe Wasser, in dem man seinen Aquarellpinsel geschwenkt hat. Begleitend zur kulinarischen Halbstation werde ich herzlich umarmt von dem aufdringlichen Geblöke eines Billy Ocean, Terence Trent D’Arby, Huey Lewis und wie sie alle heißen. Die haben schon meine Jugendzeit in unverzeihlicher Art und Weise akustisch kontaminiert. Zwischen dem Brunftgebell erklingt erregtes Gebabbel von hessischen Steuerzahlerinnen, die an einem Gewinnspiel teilnehmen, bei dem als erster Preis eine vollautomatische Kurzwaffe lockt. In der Pracht der Frühstücksherrlichkeit verfalle ich geradezu vogelwild auf die Frage an die Hotelfachkraft nach einer Tagezeitung. Ein bunt bedruckter Gratisanzeiger wird mir gereicht mit den überschaubar freundlichen Worten „ob ich so etwas in der Art meine“. Enthusiasmiert lese ich den fundierten Bericht über eine ökologische Autowaschanlage. Gleich im Anschluss wandle ich gestärkt und munter durch das Lebensmitteleinzelhandelsgeschäft von Willi Knupfer. Erfrischt kehre ich in mein Einzelzimmer zurück und vertreibe mir anschließend die Zeit bis zum späten Abend, indem ich den silbernen Pedalabfallbehälter einige hundert Male fotografiere. Das Objekt inszeniere ich akribisch in dramatischer Optik auf den hellbraunen Fliesen im Badezimmer. Dazu röchelt die Lüftung wie ein Flugsaurier mit Nasennebenhöhlenentzündung.

Tagelang kann ich mich im Abseits suhlen wie der Holzwurm im Bein des bemalten Bauernschrankes und spüre keinen einzigen Moment Mangel oder Ernüchterung. Allein meine Antwort an den unliebsamen Schratz, ich könne mich leider an seinem Ehrentag nicht zu der dazugehörigen Festivität einfinden, weil ich mich leiderleider zeitgleich im Urlaub befände, lässt aus meiner Schulter Flügel wachsen. Was für eine Erleichterung zu wissen, nicht bei den mich „Schatzi“ titulierenden Giftschlangen und Lügenunken mit schiefgestellt verkrampften Füßen am Tisch sitzen zu müssen, auf den unablässig Schwindel und Schleim aus bösen Gemütern tropfen und wo mich ständig der Gedanke quält, was ich denn zu verlieren hätte, wenn ich mich sofort erheben und laut aufschreien würde: „Ihr dreimal gottverdammten Olme der Finsternis, Euer verlogenes Gewaaf reicht mir ein für alle Mal! Ich verachte Euch und möchte Euch den Rest meines Lebens nie mehr hören, sehen und riechen! Adieu für immer!“ Wie ein Kranich hebt mich der Wind und ich fliege froh der Sonne entgegen, weil ich weiß, dass ich mich aus dem siedenden Öl in den Töpfen der Hölle befreit habe.

Den Rest des Jahres verbringe ich in froher Kontemplation darüber, dass mein Telefon still auf dem Tisch liegt wie ein Reh in der grünen Wiese, das nach dem Äsen inne hält, den Kopf hebt und Witterung aufnimmt. Aber da ist weder Mensch noch Tier, was sich nähert oder stört. Ganz unbesorgt, ohne Absicht und ohne Arg ist sich das Geschöpf selbst genug. Der Mond scheint ganz sacht und streichelt wie eine wohlmeinende Hand die Wolken, die über den Himmel ziehen. Das Reh senkt sanft den Kopf und knabbert die frischen Grashalme, die der Nachtwind mit kühlen Küssen leicht rauschend umschmeichelt.


DER SOMMER MIT EGERS ... Am 12., 13. und 14 Juli 2019 steht Matthias mit dem Theater dreamteam mit dem Stück „NÜRNBERG FIRST. In der Truhe liegt die Kraft“ im Hubertussaal auf der Bühne. Dann ist Sommerpause bis September. Infos und Termine: www.egers.de
 




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Was für ein nicht enden wollender Sommer das heuer gewesen ist. Bis in den Oktober hinein wurde ich immer dringlicher gemahnt: Genieße unbedingt den sonnigen Tag heute! Morgen kommt der Herbst, dann ist alles vorbei. Immer wieder habe ich mich in die Sonne gesetzt und habe die Sonne mit aller Kraft genossen bis zur Langeweile, bis zum vollständigen Überdruss. Das kommt daher, dass ich Befehle stets gewissenhaft und verlässlich ausführe. Da kann man sich einhundertprozentig auf mich verlassen. Meine Zuflüsterer taten immer so, als ob das Himmelgestirn im nächsten Moment unwiderbringlich explodieren würde und man sein Leben fürderhin in lammfellgefütterten Rollkragenpullovern, Thermohosen und grob gestrickten Fäustlingen verbringen müsste – in Zimmern, in denen die Heizung unentwegt auf drei gestellt ist. Aber es hat ja nicht aufgehört zu scheinen. Wenn ich an einem Tag genossen und genossen habe, hat der Leuchtkörper sein blödsinniges Leuchten am nächsten Tag keineswegs eingestellt. Die Dummköpfe aber haben es nicht unterlassen, weiterhin ihre Sonnengenussbefehle auf mich auszuschütten. Die Aufforderungen blieben keineswegs aus, sondern steigerten sich zur Unerträglichkeit. Wenn einer endlich einmal sein dummes Maul gehalten hat, dass ich mich unbedingt bestrahlen lassen muss, hat ein anderer damit angefangen, mich aufdringlich aufzufordern, mein Glück unter dem drögen Kauern unter dem aufdringlichen Glanz des leuchtenden Planeten zu finden. Noch Anfang November saß ich voller Wut auf der Straße und habe Kaffee getrunken und gehofft, dass mir die Sonne ein Loch in die Stirn schmort, dass den Schwachköpfen ihr blödsinniges Gerede leidtut und sie mich um Verzeihung bitten müssen. Die Sonne hat immer weitergeschienen wie ein Maschinengewehr, dem die Patronen nicht ausgehen.  >>
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